Open the blog
This commit is contained in:
50
themes/posts/2017/02/blog-post.tex
Normal file
50
themes/posts/2017/02/blog-post.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,50 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-02-09 16:29:00
|
||||
tags: Стихотворение
|
||||
title: И вот лежу, и вот мне скучно…
|
||||
teaser: |
|
||||
<p>
|
||||
И вот лежу, и вот мне скучно,<br>
|
||||
плюю с презреньем в потолок.<br>
|
||||
И воздух спертый, жестко, скучно.<br>
|
||||
И ночь пошла на самотек.
|
||||
</p>
|
||||
<p>
|
||||
Как за спиною, слышу шорох:<br>
|
||||
беседуют отец и мать.<br>
|
||||
Зима, февраль, мороз под сорок.<br>
|
||||
Собачий холод! Благодать!
|
||||
</p>
|
||||
<p>
|
||||
Потом друзей мелькают лики,<br>
|
||||
друзей, и вот уж больше не друзей.<br>
|
||||
Одной единственной той блики<br>
|
||||
другой единственной честней.
|
||||
</p>
|
||||
<p>
|
||||
И вот лежу, и сердце ноет,<br>
|
||||
и ночь за часом час бежит.<br>
|
||||
Усталость мне глаза прикроет,<br>
|
||||
и сон земной обворожит.
|
||||
</p>
|
||||
---
|
||||
И вот лежу, и вот мне скучно,\\
|
||||
плюю с презреньем в потолок.\\
|
||||
И воздух спертый, жестко, скучно.\\
|
||||
И ночь пошла на самотек.
|
||||
|
||||
Как за спиною, слышу шорох:\\
|
||||
беседуют отец и мать.\\
|
||||
Зима, февраль, мороз под сорок.\\
|
||||
Собачий холод! Благодать!
|
||||
|
||||
Потом друзей мелькают лики,\\
|
||||
друзей, и вот уж больше не друзей.\\
|
||||
Одной единственной той блики\\
|
||||
другой единственной честней.
|
||||
|
||||
И вот лежу, и сердце ноет,\\
|
||||
и ночь за часом час бежит.\\
|
||||
Усталость мне глаза прикроет,\\
|
||||
и сон земной обворожит.
|
294
themes/posts/2017/03/gegenstaendliche-erkenntnis-bei-frank.tex
Normal file
294
themes/posts/2017/03/gegenstaendliche-erkenntnis-bei-frank.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,294 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-03-15 00:00:00
|
||||
tags: Aufsatz
|
||||
title: Gegenständliche Erkenntnis bei Simon L. Frank
|
||||
teaser:
|
||||
<p>Die so für den gemeinen Menschen merkwürdige Frage nach der Sicherheit menschlicher
|
||||
Erkenntnis wurde im letzten Jahrundert nicht nur durch vielfältige philosophische Spekulationen,
|
||||
sondern auch durch die modernen Naturwissenschaften noch stärker verschärft,
|
||||
wobei philosophische Spekulationen in gewisser Hinsicht wichtiger sind, weil, wenn die
|
||||
Naturwissenschaften mit den Sinnesdaten arbeiten und die Existenz der Außenwelt einfach voraussetzen,
|
||||
der Philosoph keine solche Voraussetzungen machen darf. Er steigt eine Ebene tiefer ein und fragt, ob
|
||||
es überhaupt möglich ist, solche Sinnesdaten zu gewinnen.</p>
|
||||
<p>Unter den zahlreichen Versuchen, dieses erkenntnistheoretische Problem zu entschlüsseln,
|
||||
verdient der Lösungsweg, den Simon L. Frank beschritten hat, eine besondere Aufmerksamkeit.</p>
|
||||
---
|
||||
\section{Einleitung}
|
||||
|
||||
\epigraph{
|
||||
Heiße Magister, heiße Doktor gar,\\
|
||||
Und ziehe schon an die zehen Jahr'\\
|
||||
Herauf, herab und quer und krumm\\
|
||||
Meine Schüler an der Nase herum ---\\
|
||||
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
|
||||
}{\textit{Faust I}\\Johann Wolfgang von Goethe\footcite[15]{faust}}
|
||||
|
||||
In der Tat, können wir etwas wissen, etwas erkennen?
|
||||
Seit der Entstehung der Menschheit wunderte man sich über die Welt, die einen umgibt. Man fragte sich, wie die Umwelt
|
||||
funktioniert, was hinter den natürlichen Ereignissen steht, suchte nach Gesetzmäßigkeiten und legte auf diese Weise den
|
||||
ersten Grundstein für das Gebäude der Physik. Dieses Projekt war jedoch anscheinend so komplex, dass manche Philosophen
|
||||
sich wenige Jahrhunderte später die Ansicht aneigneten, dass es überhaupt keine Wahrheit, sondern nur Schein und
|
||||
Täuschung gebe. Durch Grübelei und Diskutieren gelangte man schließlich zum Zentrum seines Daseins, zu seinem Selbst,
|
||||
und stellte sich nun die Frage: „Was bin ich? Habe ich zumindest eine sichere Erkenntnis, dass es mich selbst
|
||||
tatsächlich gibt, oder bin ich auch ein bloßer Schein, eine Selbsttäuschung?“
|
||||
|
||||
Die so für den gemeinen Menschen merkwürdige Frage nach der Sicherheit menschlicher Erkenntnis wurde im letzten Jahrundert
|
||||
nicht nur durch vielfältige philosophische Spekulationen, sondern auch durch die modernen Naturwissenschaften noch
|
||||
stärker verschärft, wobei philosophische Spekulationen in gewisser Hinsicht wichtiger sind, weil, wenn die
|
||||
Naturwissenschaften mit den Sinnesdaten arbeiten und die Existenz der Außenwelt einfach voraussetzen, der Philosoph
|
||||
keine solche Voraussetzungen machen darf. Er steigt eine Ebene tiefer ein und fragt, ob es überhaupt möglich ist,
|
||||
solche Sinnesdaten zu gewinnen.
|
||||
|
||||
Unter den zahlreichen Versuchen, dieses erkenntnistheoretische Problem zu entschlüsseln, verdient der Lösungsweg, den
|
||||
Simon L. Frank beschritten hat, eine besondere Aufmerksamkeit. Bevor ich aber zur Darlegung Franks Erkenntnistheorie
|
||||
übergehe, möchte ich genauer auf die Frage eingehen: Was ist eigentlich so rätselhaft an unserer Erkenntnis?
|
||||
|
||||
\section{Wie weit geht der Zweifel?}
|
||||
Ren\'{e} Descartes, der nach Arthur Schopenhauer „mit Recht für den Vater der neuern
|
||||
Philosophie“\footcite[11]{schopenhauer} gilt, wollte bekanntlich vor allem ein festes Fundament für seine Philosophie
|
||||
legen.\footcite[23f]{discours} Als erste Regel, die ihn von Abgründen des Nichts-Wissens zu wahren Erkenntnissen
|
||||
leiten sollte, war, nichts in sein Wissen aufzunehmen, „als was sich so klar und deutlich darbot, dass
|
||||
ich keinen Anlass hatte, es in Zweifel zu ziehen.“\footcite[33]{discours} Die materielle Welt fiel aus dieser
|
||||
Kategorie gleich aus: Es könnte ja sein, dass ich sie nur träume, dass es sie aber nicht gibt. Das ist das
|
||||
problematische Moment der gegenständlichen Erkenntnis. Sie ist außer uns, aber alles, was wir haben, sind unser Gehirn und
|
||||
unsere Sinnesorgane. Wenn sie uns täuschen, dann haben wir ein völlig verkehrtes Weltbild, ohne das jemals zu merken
|
||||
oder merken zu können.
|
||||
|
||||
Gibt es aber etwas, was nicht bezweifelt werden kann? Descartes bejaht diese Frage:
|
||||
„Aber gleich darauf bemerkte ich, daß, während ich so denken wollte, alles sei falsch, es sich notwendig so verhalten müsse,
|
||||
daß ich, der dies dachte, etwas war.“\footcite[57]{discours}
|
||||
Nun fühlt man festen Boden unter den Füßen. Wenn ich auch an allem zweifeln kann, dann doch nicht daran, dass es
|
||||
mich selbst gibt, dass ich denke und zweifle. Ferner definiert Descartes den Menschen als denkende Substanz,
|
||||
\textit{res cogitans}\footcite[Vgl.][43]{geschichte17-18}, die Wladimir Solowjew seinerseits als
|
||||
„einen unzweifelhaften Mischling“\footnote{\cite[40]{solowjow}. Zur Kritik Descartes denkender Substanz siehe den
|
||||
kompletten ersten Aufsatz aus „Theoretische Philosophie“ im genannten Band.}
|
||||
bezeichnet, weil jener dem Subjekt das zuschreibe, was ihm nicht mit Sicherheit gehöre. Alles Reden über das Ich
|
||||
ist kein Reden über das Ich, sondern das Reden über \textit{Etwas}. Wenn wir über das Subjekt reden, vergegenständlichen
|
||||
wir dieses, machen es zu einem Objekt, was gleichzeitig alle Probleme gegenständlicher Erkenntnis auf das Subjekt
|
||||
überträgt. Descartes weist zum Beispiel darauf hin, dass die Gedankenwelt eines Traumes niemals so evident und vollständig
|
||||
wie diese der Realität sei.\footcite[Vgl.][69-71]{discours} Wie kann man zu diesem Schluss
|
||||
kommen? Man vergleicht das Realitätsbewusstsein mit demjenigen eines Traumes, was allerdings gar nicht in die umgekehrte Richtung
|
||||
geht: Im Traum gelten andere Gesetze, die \textit{in diesem Moment} unvergleichbare Evidenz und Vollständigkeit haben.
|
||||
Wenn ich also eine zweite Realität annehme und ich nur das Produkt eines Traumes eines Anderen bin, dann sind die
|
||||
Gedankengänge meiner Wirklichkeit genauso lächerlich und absurd für die zweite Realität.
|
||||
|
||||
Natürlich gibt es einen Kern, denn ich bin doch etwas (wenn auch nur ein Traumgebild oder ein Produkt der Natur,
|
||||
das sich einbildet, etwas frei denken zu können), aber man kann diesen Kern kaum
|
||||
benennen.
|
||||
Solowjew unterscheidet deswegen zwischen dem reinen und empirischen Subjekt. Jenes ist sicher und
|
||||
unerschütterlich, da es uns auf dem unmittelbarsten Wege gegeben ist,
|
||||
aber leer (wie ein mathematischer Punkt), dieses erfüllt und bunt, weil es die ganze Persönlichkeit
|
||||
enthält, dennoch wackelig und grundlos.\footcite[Vgl.][51]{solowjow} Und so verhält es sich in diesem Model mit allem
|
||||
Sein überhaupt.
|
||||
|
||||
Hiermit stehen dem Skeptizismus alle Türe offen, weil, wenn man das Sein radikal und bis zum Ende, als etwas,
|
||||
was dem Erkennenden gegenüber steht, denkt, das Maximum, was man mit Sicherheit weiß, ist, dass man
|
||||
\textit{in irgendeiner Weise} existiert. Alle anderen Erkenntnisse stehen unter Verdacht, nicht objektiv zu sein.
|
||||
Die große Frage wäre also, ob man diese Kluft zwischen dem Subjekt und Objekt überbrücken kann.
|
||||
|
||||
\section{Zwei Hauptaspekte der Erkenntnislehre}
|
||||
Das von mir oben geschilderte Problem ist als Transzendenzproblem bekannt. Frank unterteilt es in zwei
|
||||
Fragen, wovon eine relativ einfach und in verschiedenen Systemen im Prinzip gelöst, die andere dagegen
|
||||
schwieriger sei und oft außer Acht gelassen werde.\footcite[Vgl.][166f]{frank:problem} Einerseits handelt es
|
||||
sich darum, zu erklären, wie das Subjekt das gegenständliche Sein, also das Transzendente, wirklich erfassen kann.
|
||||
Andererseits stellt sich die Frage: Was bedeutet dieses gegenständliche Sein überhaupt, woher wissen wir, dass es
|
||||
etwas von unserem Bewusstsein Unabhängiges, permanent Existierendes gibt?\footcite[Vgl.][168]{frank:problem}
|
||||
|
||||
Es ist kein Zufall, dass Frank im Bezug auf das Transzendenzproblem nicht nur über unser Verhältnis zum Sein spricht,
|
||||
sondern auch über das Sein selbst, was streng genommen keine Aufgabe der Erkenntnistheorie ist, sondern die der
|
||||
Ontologie. In seinem Aufsatz „Die Krise der modernen Philosophie“ hat Frank darauf hingewiesen, dass Kant
|
||||
(und mit ihm die moderne Philosophie) jeder Ontologie eine Erkenntnistheorie vorgeordnet
|
||||
sieht.\footcite[Vgl.][48]{frank:krise} Das Erkennen geht ja von uns aus. Wir haben ein gewisses Vermögen, das uns
|
||||
ermöglicht, verschiedene Inhalte in uns aufzunehmen. Deswegen ist das Reflektieren über dieses Vermögen das
|
||||
Grundlegendste, was es geben kann. Auch wenn wir über das Sein nachdenken, tun wir das vermittels dieses Vermögens.
|
||||
Es dreht sich also alles um die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis und die Wissenschaft, die diese Bedingung
|
||||
erforscht, wenn sie tatsächlich gründlich sein will, muss selbst bedingungslos sein, das heißt sich auf keine vorgefasste
|
||||
Ontologie stützen.\footcite[Vgl.][48]{frank:krise} Frank mit seinem scharfen Sinn für das
|
||||
Sein (und nicht nur für die abstrakte Begrifflichkeit) tritt dieser Einstellung entgegen und dreht das Verhältnis
|
||||
von Ontologie und Erkenntnistheorie um: Wird es denn nicht angenommen, dass es einerseits den Erkennenden und
|
||||
andererseits das gegenständliche Sein \textit{gibt}? Die Spaltung
|
||||
in Objekt und Subjekt ist somit nichts Anderes als eine ontologische Voraussetzung. Die Erkenntnistheorie muss zum
|
||||
Bewusstsein kommen, dass sie selbst Ontologie ist und anders gar nicht gedacht werden kann, sie soll „eine offene und
|
||||
richtige Ontologie“ sein und „sich von jenem [\dots] fehlerhaften circulus vitiosus befreien, in dem einzelne,
|
||||
abgeleitete Daten eines begrenzten Seinsgebiets die logische Grundlage für die Beurteilung des seins im ganzen
|
||||
waren.“\footcite[50]{frank:krise}
|
||||
|
||||
Wenn man nun die scheinbare Grenzlinie zwischen dem Subjekt und Objekt aufhebt, gelangt man auch schon zur Lösung
|
||||
des ersten Teils des Transzendenzproblems. Das Bewusstsein ist eben nicht etwas in sich Geschlossenes, das auf eine
|
||||
unbekannte Weise affiziert wird und nur verzerrte Bilder der Wirklichkeit in sich aufnimmt, sondern es steht
|
||||
immer mitten im Sein und richtet seinen Blick auf die Gegenstände. Frank vergleicht den Erkenntnisprozess mit der
|
||||
Wirkung einer Lampe, die aus sich selbst „hinausgeht“ und ihr Licht auf die Dinge wirft. Das menschliche Bewusstsein
|
||||
ist seinem Wesen nach ein Lichtstrahl, der seine Grenzen transzendiert und so seine Umgebung
|
||||
beleuchtet.\footcite[Vgl.][167]{frank:problem}
|
||||
|
||||
\section{Das Transzendente als unmittelbar Gegebenes}
|
||||
Frank gibt sich mit dem Erreichten nicht zufrieden und untersucht genauer, soweit es möglich ist, die Seinsstrukturen
|
||||
und das Interagieren des menschlichen Bewusstseins mit den anderen Teilaspekten des Seins.
|
||||
|
||||
Am Anfang bin ich durch systematischen Zweifel, der bei der objektiven Wirklichkeit ansetzt und zum Innersten
|
||||
des Subjekts führt, zum Ergebnis gelangt, dass es unbedingt etwas geben muss. Man kann nur dieses „Etwas“ nicht
|
||||
als res cogitans oder mit einem anderen Begriff bezeichnen, was gleichsam Vergegenständlichung bedeuten würde. Es
|
||||
entkommt jeder Definition. Es ist ein Punkt, etwas unendlich Kleines, weil es nichts Definierbares in sich enthält
|
||||
und unendlich Großes, weil es nichts außer sich selbst kennt. Man kann auch nicht von Dauer sprechen.
|
||||
Die Vergangenheit und die Zukunft sind uns nicht unmittelbar gegeben. Die Zukunft gibt es im Moment noch gar nicht
|
||||
und seine Vergangenheit kann man rekonstruiren, auch wenn diese Rekonstruktion nicht im Geringsten der Wahrheit
|
||||
entspricht, ohne dabei die Absicht zu lügen zu haben\footnote{Juristen sind so genannte
|
||||
\textit{Knallzeugen} bekannt, die vor Gericht in allen Einzelheiten etwas beschreiben können, was sie gar nicht
|
||||
gesehen haben, sondern erst im Moment des Ereignisses (beispielsweise eines Autounfalls) darauf aufmerksam geworden
|
||||
sind. Die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen wird so einem Zeugen nicht
|
||||
bewusst. \cite[Vgl.][17]{psyche}}. Es lebt nur in diesem konkreten Moment. Es wäre ein Nichts, wenn es nicht
|
||||
ein „Etwas“ wäre, „es ist ein \textit{Sein} schlechthin“\footcite[178]{frank:problem}. Es ist primär und
|
||||
unmittelbar evident. Alles Andere, Denken, Bewusstsein, sind im Vergleich dazu sekundär, sie müssen ja erst
|
||||
\textit{sein}, also an einem Sein teilhaben. Frank betont nochmal ausdrücklich, dass das Subjekt kein Träger vom
|
||||
Sein ist, sondern, dass es das Getragene ist, es haftet selbst am Sein, dass alles in sich
|
||||
vereinigt\footcite[Vgl.][178]{frank:problem}.
|
||||
|
||||
Es ist also gelungen, etwas Evidentes, Unleugbares zu finden, und es annähernd zu beschreiben. Es scheint jedoch zu
|
||||
sein, dass man an dieser Stelle auch bleiben muss, weil es sich nichts mehr findet, was genauso selbstevident und dem
|
||||
Menschen unmittelbar gegeben wäre. Im nächsten Schritt kritisiert Frank aber die Meinung, dass die
|
||||
Selbstevidenz, unmittelbare Gegebenheit und Immanenz unbedingt zusammenfallen. Es ist überhaupt ein Merkmal unseres
|
||||
Denkens, dass wir ein Ding nie einzeln denken können. Was ist zum Beispiel die Gegenwart? Die Gegenwart wird als eine
|
||||
Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft vorgestellt. Genauso kann man nur auf dem Hintergrund dessen, was
|
||||
die Gegenwart ist, verstehen, was die Zukunft ist. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Vergangenheit. Alle
|
||||
drei Begriffe stehen
|
||||
in einer Relation zueinander und können unabhängig voneinander gar nicht gedacht werden. Wenn es keine Zukunft und
|
||||
keine Vergangenheit gegeben hätte, dann hätte man auch keine Vorstellung von der Gegenwart. Wenn man genauer hinschaut,
|
||||
dann erblickt man, dass es sich ähnlich auch mit allen anderen Dingen verhält, auch mit räumlichen Gegenständen. Wenn
|
||||
ich einen roten Fleck sehe und sage, dass der Fleck rot ist, bringe ich ihn in Beziehung mit allen anderen Gegenständen,
|
||||
die vielleicht grün, schwarz oder weiß sind. Wie hätte ich die Röte wahrnehmen können, wenn es keine anderen Farben
|
||||
gegeben hätte?\footcite[Vgl.][26f]{ehlen:frank-intro}
|
||||
|
||||
Zu einem Inhalt A kommt notwendig ein anderer Inhalt, non-A, hinzu, der dem A nicht immanent, sondern
|
||||
transzendent ist und mit ihm in einer Verbindung steht. Nicht nur Immanentes ist uns evident und unmittelbar gegeben,
|
||||
es ist nicht mal das Primäre, weil es nur im Zusammenhang mit dem Transzendenten gedacht werden kann, als Teil eines
|
||||
Ganzen, das folglich auch \textit{ist}. Dieses non-A ist kein Gegenstand unserer Erkenntnis in dieser Sekunde,
|
||||
weil unser Blick auf den Inhalt A gerichtet ist, non-A ist uns verborgen,
|
||||
aber trotzdem als solches gegeben.\footcite[Vgl.][179ff]{frank:problem} Demzufolge kann man auch das
|
||||
Sein nicht als einen nur in diesem Moment existierenden, mathematischen Punkt deuten. Dieser Moment setzt einen anderen
|
||||
voraus und ein Punkt setzt eine unendliche Seinsfülle voraus, der er zugehört.
|
||||
|
||||
Das ist die Antwort, die Frank auf die zweite Teilfrage des Transzendenzproblems gibt. Es gibt Sein, das nicht
|
||||
gegenständlich ist, sondern das eine Einheit vom Subjekt und dem gegenständlichen Sein darstellt. Alles, was ist,
|
||||
partizipiert an ihm, wodurch eine Verbindung zwischen den Teilen des Seins, zwischen Subjekt und Objekt
|
||||
gewährleistet wird.
|
||||
|
||||
\section{Das mitgedachte Unbekannte}
|
||||
Das Moment des Unbekannten, des Verborgenen spielt auch eine große Rolle im Erkenntnisprozess. Frank untersucht ein
|
||||
synthetisches Urteil der Form „S ist P“. Wenn S als eine Begriffsbestimmtheit gedacht wird, kann S nach
|
||||
dem Widerspruchsprinzip kein P sein, weil S ein S ist. Wenn man „S ist P“ sagt, meint man dann wohl etwas Anderes.
|
||||
„Unter S wird aber tatsächlich zweierlei zugleich gedacht: einerseits eine Begriffsbestimmtheit A, die sich eben mit
|
||||
der Bestimmtheit B, die das Wesen des Prädikats ausmacht, verbindet [\dots]“.\footcite[170]{frank:problem}
|
||||
Andererseits hat unsere Erkenntnis nur Sinn, wenn sie auf etwas Unbekanntes ausgerichtet ist, und es ist, wie es oben
|
||||
gezeigt wurde, tatsächlich so, dass das Unbekannte immer mitgedacht wird.
|
||||
„Wäre die Realität auf das jeweils Erkannte beschränkt,
|
||||
würde fortschreitendes Erkennen darin bestehen, daß ein neuer Wissensinhalt den anderen ablöst. Dieser Vorgang [\dots]
|
||||
würde der Dynamik des Erkenntnisvorgangs nicht entsprechen.“\footcite[25]{ehlen:frank-intro} Also muss S auch
|
||||
etwas Unbestimmtes enthalten, es ist das überbegriffliche Ganze, in dem wir im Urteil die Bestimmtheit B erkennen.
|
||||
Frank schließt daraus, dass die eigentliche Form des Urteils \mbox{AX = B} sei\footcite[Vgl.][171]{frank:problem}.
|
||||
Wobei dieses X nicht etwas an sich
|
||||
Unerkennbares ist, Frank bezeichnet es mit dem Wort „Bestimmtheitskomplex“\footcite[171]{frank:problem}. Dieser
|
||||
Komplex ist unabhängig von uns vorhanden und bestimmt, aber nicht von uns erkannt. Bei der Erkenntnis hat man nicht
|
||||
nur mit den Erkenntnisinhalten zu tun, sondern auch mit dem Unbekannten, mit der Inhaltsfülle des Gegenstandes
|
||||
selbst. Die Zweieinheit von Subjekt und Prädikat im Urteil kann nicht zufällig sein und ist nicht sekundär,
|
||||
weil es dann schwer zu erklären wäre, wie es überhaupt zu dieser Kopula kommt,\footcite[Vgl.][170]{frank:problem}
|
||||
muss also im Sein verankert sein und die Einheit vom Gegenstand und dem Erkenntnisinhalt widerspiegeln.
|
||||
|
||||
\section{Intuitive und begriffliche Erkenntnis}
|
||||
Die nächste Frage, der Frank sich widmet, ist, wie dieses Abbilden des Gegenstandes, also dieses Gewinnen des
|
||||
Erkenntnisinhaltes, überhaupt möglich ist, weil man den Erkenntnisinhalt nicht mit dem Inhalt des Gegenstandes selbst
|
||||
verwechseln darf. Unsere Urteile können auch falsch sein. Der Wahrheitswert unserer Erkenntnisse wird auf irgendeine
|
||||
Weise am Inhalt des Gegenstandes gemessen. Um ein Abbild zu machen, muss man aber den Gegenstand bereits
|
||||
besitzen, was jedoch zufolge hätte,
|
||||
dass ein Abbild überflüssig wäre, und wenn man ihn nicht besitzt, dann ist es einfach nicht möglich so ein
|
||||
Abbild anzufertigen, weil man das Original nicht hat.\footcite[Vgl.][193]{frank:meta}
|
||||
|
||||
Als Ausgangspunkt nimmt Frank das Schlussprinzip (A $\Rightarrow$ B) und die logische Regel modus ponens
|
||||
(A $\Rightarrow$ B; nun ist A, also ist auch B), weil es dem Vorgehen unserer Erkenntnis entspricht:
|
||||
Aus einem bereits bekannten A wird B gefolgert. Die Überlegungen, die Frank hier anstellt, sind im Wesentlichen
|
||||
ähnlich der Untersuchung des synthetischen Urteils der Form „A ist B“. A ist eben A und kann keine „Informationen“
|
||||
über B enthalten, also muss es eine primäre Einheit AB geben, die die Möglichkeit des Schlusses begründet. Die
|
||||
Schlussfolgerung darf aber in diesem Fall nicht als eine Summe von A und B gedacht werden, sonst wäre es keine
|
||||
wirkliche Schlussfolgerung, sondern die beiden Teile würden uns unmittelbar gegeben. Das Ganze ist in diesem Fall
|
||||
viel mehr eine Potenz, sodass die Bestimmtheit A sich zunächst auskristallisiert und danach aus dem vom Ganzen
|
||||
gebliebenen Rest B gebildet wird.\footcite[Vgl.][194-197]{frank:meta}
|
||||
|
||||
Da es unendlich viele Bestimmtheiten gibt, muss es einen Bereich geben, der alles Gedachte und Erkennbare überhaupt
|
||||
umfasst. Allerdings können die logischen Denkgesetze (Kategorie der Identität und Unterschiedes, der Satz des
|
||||
ausgeschlossenen Dritten) nicht als Verbindungsglied zwischen den als fertig gegeben gedachten Bestimmtheiten
|
||||
gedacht werden. Das führt zu Tautologien und Widersprüchen. Biespielsweise besagt die Identität, dass
|
||||
\mbox{A = A} ist, wobei die Identität das Vorhandensein eines
|
||||
zweiten A eigentlich ausschließt. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten besagt: Alles Denkbare ist entweder A oder non-A und ein
|
||||
Drittes ist nicht gegeben. „Alles Denkbare“ ist aber ein Drittes, weil es sowohl A als auch non-A enthalten
|
||||
kann. Und die Möglichkeit dieses Dritten wird im Satz geleugnet. Wäre ein Drittes in der Tat ausgechlossen, wäre der
|
||||
Satz gar nicht denkbar, weil „alles Denkbare“ nur eins von beidem wäre.\footcite[Vgl.][198]{frank:meta} Dagegen
|
||||
sind die Denkgesetze die Möglichkeitsbedingungen, „auf Grund deren die begriffliche Bestimmtheit überhaupt (also
|
||||
ein A und ein non-A) erst entsteht.“\footcite[Vgl.][198f]{frank:meta} So wird alles Denkbare zunächst als eine
|
||||
Einheit gedacht (Identitätsprinzip), dann wird von allem Anderen abgehoben (Underschiedsprinzip) so, dass es sich
|
||||
„eindeutig als ein »Solches«, ein genau bestimmtes, einzigartiges »Quale«
|
||||
konstituiert“\footcite[199]{frank:meta} (Satz des ausgeschlossenen Dritten).
|
||||
|
||||
Hier nähern wir uns einem Gebiet an, das nicht nach logischen Gesetzmäßigkeiten funktoniert, sondern sie erst
|
||||
begründet. Dieses Gebiet ist deswegen \textit{metalogisch}. Frank bezeichnet darum die Beziehung zwischen der primären
|
||||
Einheit und dem System der Bestimmtheiten als „metalogische Ähnlichkeit“\footcite[200]{frank:meta}, sie haben die
|
||||
gleichen Inhalte, aber unterschiedliche Seinsgrade. Aus dem Vorhandensein dieser zwei Ebenen, die das Sein jeweils
|
||||
auf eigene Art und Weise abbilden, leitet Frank die Existenz auch einer zweiten Erkenntnisart, ab, der
|
||||
intuitiven Erkenntnis, die grundlegend für die begriffliche ist, da die erstere das Material für
|
||||
die letztere aus der überbegrifflichen Alleinheit liefert.\footcite[Vgl.][201]{frank:meta}
|
||||
|
||||
Die intuitive Erkenntnis hat das Erlebnis zu ihrem Ansatzpunkt. Das Erlebte ist zunächst ein X, etwas vollkommen
|
||||
Unbekanntes und es wird nicht nur durch das Gehalt dieses Erlebnisses bestimmt, sondern dieses Unbekannte wird
|
||||
in einem Zusammenhang mit dem Ganzen des Seins erkannt, als dessen Teilmoment, was objektive
|
||||
Erkenntnis möglich macht, weil dieses Ganze keine amorphe Masse ist, sondern „konkrete Einheit der
|
||||
Mannigfaltigkeit“\footcite[203]{frank:meta}. Die intuitive Erkenntnis dient nicht nur als Grundlage für die
|
||||
begriffliche Erkenntnis, sondern sie ist auch dem Gegenstand selbst mehr adäquat, weil
|
||||
die Teilaspekte des Seins intuitiv als ein Ganzes gefasst werden, was der Einheit des Seins mehr entspricht. Die
|
||||
Entsprechung ist aber wiederum kein Original. Man könnte unsere Erkenntnis (jeder Art) mit einem malerischen Werk
|
||||
vergleichen. Man kann eine Gegend sehr gut auf einem Blatt Papier darstellen, die Deminsionen können anhand bestimmter
|
||||
Techniken nachgemacht werden, sie sind aber trotzdem nicht da, sondern nur in der Natur selbst. Dazu muss noch gesagt
|
||||
werden, dass ein Kunstwerk natürlich zeitlos ist, ihm fehlt der Atem, der die lebendige Natur bis in die letzte Tiefe
|
||||
durchdringt.\footcite[Vgl.][210f]{frank:meta}
|
||||
|
||||
Im Gegensatz zur intuitiven Erkenntnisweise hat die begriffliche Erkenntnis einen
|
||||
negativen Charakter, weil A durch die Verneinung alles Anderen bestimmt wird, A steht immer in einer Relation zu non-A,
|
||||
welches als „der unendliche dunkle Rest“\footcite[205]{frank:meta} übrig bleibt. Eine Bestimmtheit A ist immer
|
||||
eine Abspaltung, eine gewisse Verarmung im Vergleich zur primären Einheit „A + non-A“ und trotzdem verliert die
|
||||
begriffliche Erkenntnis nicht an Bedeutung. Zwar ist sie relativ „tot“, sie greift Daten aus der Seinsfülle
|
||||
heraus und macht sie zu einem starren System, doch ist das
|
||||
menschliche Intuitionsvermögen auch nicht im Stande das Sein in seinem ganzen Umfang zu fassen. Beide
|
||||
Erkenntnisarten vervollsändigen einander. Die begriffliche Erkenntnis hilft das Sein auseinanderzunehmen und
|
||||
auf diese Weise es genauer zu untersuchen. Nur die Kooperation der beiden Erkenntnisarten macht es möglich die
|
||||
Mannigfaltigkeit und die Einheit des Seins für den erkennenden Menschen in ein Gleichgewicht zu
|
||||
bringen.\footcite[Vgl.][206]{frank:meta}
|
||||
|
||||
\section{Wissendes Erleben}
|
||||
Simon Frank hat uns ziemlich nah an das Sein herangeführt (genauer gesagt an die bewusste Schau des Seins). Und doch
|
||||
ist dieses Sein vor unseren Augen unbeweglich, grob, blass. Frank führt das Beispiel eines Apfels an, dessen Begriff
|
||||
oder das vollkommenste intuitive Erfassen uns jedoch nicht sättigen können.\footcite[Vgl.][210]{frank:meta} Der
|
||||
Unterschied zwischen einem Apfel als Gegenstand und einem Begriff ist die „Idealität“, die Frank mit der
|
||||
Zeitlosigkeit, die ich bereits kurz angesprochen habe, gleichsetzt. Hier kehren wir wieder zum Anfang, da wo ich
|
||||
im Zusammenhang mit dem Zweifel geschrieben habe, dass alles, was zum \textit{Gegenstand} menschliches Denkens (oder
|
||||
auch intuitives Anschauens) werden kann, wird vergegenständlicht, „[a]us dem zeitlichen Geschehen wird dadurch
|
||||
\textit{eine ewig-unbewegliche Wahrheit}“\footcite[211]{frank:meta}. Das gilt sowohl für abstraktes Denken als auch
|
||||
für normales Geschehen. Dieses Zeitlose kann nicht das Primäre sein aus dem einfachen Grund, dass das Zeitlose immer
|
||||
in einer Relation mit dem Zeitlichen steht. Das wahre Absolute ist nicht relativ zu etwas, es schließt Relatives ein,
|
||||
ohne es aufzulösen. Es kann auch nicht zeitlos sein, sondern überzeitlich. Erst aus dem Überzeitlichen entwickeln sich
|
||||
diese zwei Gegensätze: Zeitloses und Zeitliches.\footcite[Vgl.][213]{frank:meta}
|
||||
|
||||
Gibt es eine Möglichkeit den „Apfel des Seins“ nicht nur begrifflich zu erkennen und intutiv anzuschauen, sondern ihn
|
||||
auch zu kosten? Jede gegenständliche Erkenntnis ist nur ein Abbild, das deswegen nicht dem Gegenstand selbst
|
||||
adäquat ist, sondern höchstens etwas über ihn sagt. Frank wählt für diesen Fall den Begriff
|
||||
„cognitio \textit{circa rem}“ anstatt von „cognitio \mbox{\textit{rei}\hspace{0.02cm}“\footcite[217]{frank:meta}.}
|
||||
Wenn ein Lebewesen in sich tatsächlich geschlossen wäre, wäre eine wahre Erkenntnis in der Tat nicht möglich, weil man
|
||||
sich dann nur mit Abbildungen der Wirklichkeit begnügen sollte. Es wurde jedoch gezeigt, dass der Mensch auf diese
|
||||
Weise nicht denkbar ist. Er ist vielmehr --- wie alles andere Seiende auch --- vom Sein durchdrungen. Der Mensch
|
||||
geht über sich hinaus, weil in ihm sich das manifistiert, was weit über die Grenzen seines eigenen menschlichen Wesens
|
||||
fließt und die ganze Realität mit sich füllt. Die Erfahrung der Manifestation des Seins in uns macht man im Erleben,
|
||||
das immer ein wissendes Erleben ist. Frank macht an dieser Stelle eine strenge Unterscheidung zwsichen der dunklen
|
||||
Irrationalität des unmittelbaren Lebens und der \textit{über}rationalen Fülle der Lebensintuition, die „helles inneres
|
||||
Erleuchten“\footcite[Vgl.][219]{frank:meta} ist.
|
||||
|
||||
In ihm, im Erleben, in dem das Sein sich selbst uns offenbart,
|
||||
wurzelt die intuitive Erkenntnis und allein dadurch wird die gegenständliche Erkenntnis möglich.
|
||||
|
||||
\section{Literaturverzeichnis}
|
@@ -0,0 +1,223 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-04-12 00:00:00
|
||||
tags: Aufsatz
|
||||
title: Herausforderungen der Technikphilosophie
|
||||
teaser:
|
||||
<p>Eines der wichtigsten Merkmale unserer Zeit ist die Technisierung vieler Bereiche unseres
|
||||
alltäglichen Lebens. „Das technische Zeitalter“ kann man über unsere Tage sagen hören.
|
||||
Doch, was jene Technisierung kennzeichnet, ist nicht so sehr die Technik selbst, sondern
|
||||
die rasche Entwicklung derjenigen. Als solche ist die Technik nichts Neues, wenn auch
|
||||
die Technik des letzten Jahrhunderts ganz anderer Art, als das, was man vorher kannte.
|
||||
Es gibt sie dennoch mehr als hundert Jahre, vielleicht gab es sie schon immer. Vielleicht
|
||||
ist die Fähigkeit aus der Natur Erkenntnisse zu gewinnen und dann anhand derer etwas
|
||||
zu erfinden, etwas was einen Menschen eigentlich ausmacht.</p>
|
||||
|
||||
<p>Wenn man über das technische Zeitalter spricht, ist diese Aussage nicht unbedingt
|
||||
wertneutral. Der zügellose technische Fortschritt hatte zur Folge, dass er viel
|
||||
Aufmerksamkeit in der Gesellschaft auf sich gelenkt hat, worüber man sich auch kaum wundern
|
||||
kann, weil wir heute in so vielerlei Hinsicht auf die Technik angewiesen sind.</p>
|
||||
|
||||
<p>Desto interessanter wird es, über die Technik und Technisierung nachzudenken. Was
|
||||
ist sie nun? Ist sie etwas Gutes, was uns weiterbringt und uns mehr Macht über die
|
||||
Natur beschert? Ist sie etwas Schlechtes, was den Menschen jeden Tag immer mehr von
|
||||
ihr abhängig und hilfslos macht?</p>
|
||||
---
|
||||
Eines der wichtigsten Merkmale unserer Zeit ist die Technisierung vieler Bereiche unseres alltäglichen
|
||||
Lebens. „Das technische Zeitalter“ kann man über unsere Tage sagen hören. Doch, was jene
|
||||
Technisierung kennzeichnet, ist nicht so sehr die Technik selbst, sondern die rasche Entwicklung
|
||||
derjenigen. Als solche ist die Technik nichts Neues, wenn auch die Technik des letzten Jahrhunderts
|
||||
ganz anderer Art, als das, was man vorher kannte. Es gibt sie dennoch mehr als hundert Jahre, vielleicht
|
||||
gab es sie schon immer. Vielleicht ist die Fähigkeit aus der Natur Erkenntnisse zu gewinnen und dann
|
||||
anhand derer etwas zu erfinden, etwas was einen Menschen eigentlich ausmacht.
|
||||
|
||||
Wenn man über das technische Zeitalter spricht, ist diese Aussage nicht unbedingt wertneutral.
|
||||
Der zügellose technische Fortschritt hatte zur Folge, dass er viel Aufmerksamkeit in der Gesellschaft
|
||||
auf sich gelenkt hat, worüber man sich auch kaum wundern kann, weil wir heute in so vielerlei Hinsicht
|
||||
auf die Technik angewiesen sind.
|
||||
|
||||
Desto interessanter wird es, über die Technik und Technisierung nachzudenken. Was ist sie nun?
|
||||
Ist sie etwas Gutes, was uns weiterbringt und uns mehr Macht über die Natur beschert? Ist sie
|
||||
etwas Schlechtes, was den Menschen jeden Tag immer mehr von ihr abhängig und hilfslos macht?
|
||||
|
||||
Ich habe vorher schon angedeutet, dass die Technik auch als etwas genuin Menschliches verstanden
|
||||
werden kann. Dann wäre die Frage nach der Technik einer ganz anderen Dimension zuzuordnen. Es
|
||||
wäre kein bloß moralisches Problem, also ob die Technik gut oder schlecht an sich sein kann, zu welchen
|
||||
Zwecken sie eingesetzt werden darf und ob jeder Zweck das Mittel rechtfertigt; keine Frage der
|
||||
politischen Zugehörigkeit oder der persönlichen Einstellung, ob man bestimmte Technologien
|
||||
befürwortet oder nicht und ob man an den hellen Morgen glaubt oder eher diesbezüglich pessimistisch
|
||||
ist. Es wäre vielmehr eine philosophische Fragestellung, weil es vor allem die Philosophie ist, die
|
||||
nach der Washeit der Dinge und der Möglichkeitsbedingungen fragt: Was ist der Mensch? Was macht einen
|
||||
Menschen aus? Was ist und warum eigentlich Technik, was macht sie möglich?
|
||||
|
||||
Die philosophische Natur ist auch aus einer anderen Überlegung einsehbar. Und zwar sind viele Fragen,
|
||||
die mit der Technik verbunden sind, gar nicht durch das technische Denken selbst beantwortbar, sondern
|
||||
bedürfen einer Reflexion, die über das Technische hinausgeht. Selbst wenn jemand behaupten würde, dass die
|
||||
Technik nur aus sich heraus erklärt werden könne und müsse und keine weitere Rechtfertigung oder Würdigung
|
||||
nötig habe, wäre das eine Behautpung, die die Grenzen des Technischen überschreitet.
|
||||
|
||||
Im Folgenden will ich andeuten, welche Fragestellungen und Probleme das Eintreten des Technischen in unser Leben
|
||||
mit sich bringt. Mir geht es nicht darum, die Antworten auf bestimmte Fragen zu geben, sondern auf die
|
||||
Spannungsfelder zu verweisen, die sich eröffnen, wenn man über das Technische nachdenkt, und so zu zeigen, dass es
|
||||
sich dabei eigentlich um Philosophie handelt.
|
||||
|
||||
\section{Kunst oder Mittel zum Zweck}
|
||||
|
||||
Zunächst stellt sich die Frage nach dem Wesen und dem Ursprung des Technischen. Unter Technik verstehen
|
||||
wir bestimmte Arten von Menschenwerk, aber was lässt sich über den Status dieses Werks sagen? Hier gibt es
|
||||
zwei entgegengesetzte Extreme: Man kann die Technik als die Folge des menschlichen zweckrationalen Handelns
|
||||
, das heißt als Mittel zu einem bestimmten Zweck, oder als ein Kunstwerk verstehen. Das Verständnis von
|
||||
Technik würde sich dann aus dem zweckrationalen Handeln und der schöpferischen Kraft zusammensetzen, wobei man deren Rolle
|
||||
unterschiedlich gewichten kann.
|
||||
|
||||
Was kann der Zweck der Technik sein? Wenn man einen möglichst allgemeinen Zweck nennen will, der auf möglichst viele
|
||||
oder im besten Fall auf alle technischen Erfindungen zutrifft, dann würde ich das Bezwingen der Natur vorschlagen.
|
||||
Die Technik kam in die Welt, um die Bürde der Arbeit leichter zu machen. Man kann vieles schneller und
|
||||
qualitativ besser erledigen, wenn man passende Instrumente zur Hand hat. Es ging natürlich viel weiter, als nur
|
||||
eigenes Überleben auf diese Weise zu sichern. Hier tritt der Begriff Luxus in Erscheinung: Man produziert
|
||||
Gegenstände, die nicht unmittelbar notwendig sind. Es geht dann so weit, dass man im Zusammenhang mit der
|
||||
Marktwirtschaft vom Produzieren der Bedürfnisse spricht.
|
||||
|
||||
Kunst kann man in einer gewissen Hinsicht der Zweckrationalität entgegenstellen. So spricht Kant von
|
||||
ästhetischen Urteilen als dem Wohlgefallen ohne alles Interesse\autocite[Vgl.][49]{kant:ku}:
|
||||
„Wir können aber diesen Satz, der von vorzüglicher Erheblichkeit ist, nicht besser erläutern,
|
||||
als wenn wir dem reinen uninteressierten Wohlgefallen im
|
||||
Geschmacksurteile dasjenige, was mit Interesse verbunden ist, entgegensetzen [\dots]“\autocite[50]{kant:ku}.
|
||||
Bei der Einführung der Technik spricht man oft von einer technischen \textit{Erfindung}. Nun, wenn man
|
||||
nicht gerade ein ideales Reich der Ideen, wo alle technischen Erfindungen bereits realisiert sind,
|
||||
annimmt\autocite[Vgl.][59f]{ropohl:aufklaerung}, enthält die Technik eine künstliche Dimension, in der
|
||||
die schöpferische Kraft des Menschen etwas Neues erfindet.
|
||||
|
||||
Nun es hat Konsequenzen, ob man die Technik mehr als Mittel zum Zweck oder Kunst versteht. Das Erfinden ist
|
||||
meines Erachtens ein wichtiger Bestandteil dessen, was die menschliche Freiheit konstituiert, und man versucht
|
||||
diesen Bereich heute möglichst wenig zu zensieren, sondern es dem Menschen zu überlassen, sich auf seine
|
||||
eigene Weise auszudrücken. Aber \textit{darf} man auch im technischen Sinne alles erfinden, was man erfinden
|
||||
\textit{kann}?
|
||||
|
||||
\section{Erhöhung der Lebensqualität oder Zerstörung}
|
||||
|
||||
Ein Leben ohne technische Geräte im Haushalt ist kaum vorstellbar. Elektrische Geräte, Wasserversorgung,
|
||||
Computer, Telefone gehören zum Alltag. Selbst die allgemeine Zugänglichkeit der Gegenstände, die wir
|
||||
normalerweise nicht als Technik bezeichnen würden, wie zum Beispiel Bücher, verdanken wir dem heutigen
|
||||
Stand der Technik. Nicht anders ist es im beruflichen Umfeld. Auch die moderne Wissenschaft und Forschung
|
||||
sind von Teilchenbeschleunigern und Supercomputern abhängig.
|
||||
|
||||
Technische Erfindungen bringen uns Komfort, erhöhen unsere Leistung, ermöglichen neue Arten von
|
||||
Kommunikation. Das hat allerdings auch eine andere Seite. Die Möglichkeiten, die die moderne Entwicklung
|
||||
mit sich bringt, birgt viele Gefahren und versetzt wohl viele Menschen in Schrecken, was aus der
|
||||
zahlreichen Kritik an der Technik zu sehen ist. Man denke nur an den Kalten Krieg oder an die
|
||||
Atomkatastrophen der letzten Jahrzehnte: Tschernobyl und Fukushima, die zu vielen Protesten gegen die
|
||||
Verwendung von Atomenergie geführt haben. Hans Blumenberg spricht in diesem Zusammenhang sogar von der
|
||||
„Dämonie der Technik“\autocite[Vgl.][11]{blumenberg:schriften-technik}.
|
||||
|
||||
Andererseits, wenn man die Entwicklung der Energie verfolgt, so führen Streike und Proteste in der
|
||||
Gesellschaft nicht zu einem Rückschritt, nicht zur Abweisung der Atomenergie, sondern zur Suche nach
|
||||
alternativen Lösungen. Man forscht weiter und schaut, ob man andere Energiequellen finden kann, die
|
||||
die vorhandenen zumindest teilweise ersetzen können, ohne an Leistung zu verlieren. Das heißt, man sehnt
|
||||
sich nicht nach der „Rückkehr zu Natur“, sondern man sucht
|
||||
nach \textit{technischen} Lösungen für die \textit{technischen} Probleme. Das kann zu einem Zirkel führen,
|
||||
aus dem man vielleicht nicht rauskommen kann: Die vorhandene Technik motiviert zu Entwicklung anderer
|
||||
Alternativen, die mit der Zeit wiederum Schwächen aufweisen, die wieder technisch ausgeglichen werden müssen
|
||||
und so weiter. Ich denke, man hofft irgendwann ans Ende zu kommen und eine perfekte Lösung zu finden, die keine
|
||||
beweinenswerten „Nebeneffekte“ hat. Die Frage, die der Mensch sich heute zu stellen hat, ist
|
||||
natürlich: Wird es denn irgendwann so sein? Oder ist es nur ein Selbstbetrug und eitle Hoffnung?
|
||||
Die Antwort, die jeder Mensch auf diese Frage gibt, ist von entscheidender Bedeutung für das Verhältnis des
|
||||
Menschen zur Natur. Und die Frage selbst ist kaum eine wissenschaftliche Frage, sondern
|
||||
vielmehr eine ethische und philosophische.
|
||||
|
||||
Interessant ist, welche radikale Stellung Günter Ropohl nimmt. Er schreibt über ein anderes modernes Problem,
|
||||
das in dem Verhältnis des Menschen und der Technik und Natur ihren Ursprung hat: das ökologische Problem.
|
||||
Er sieht die Lösung, wie ich oben beschrieben habe, in der weiteren technischen Entwicklung, die nicht nur
|
||||
zu einer Ausbeutung der Natur für die Menschenzwecke führt, sondern die Natur unter Schutz mit Hilfe der Technik
|
||||
nimmt, ganz in dem Sinne des Gartens Eden, den der erste Mensch zu pflegen und zu schützen gehabt habe, und
|
||||
schreibt Folgendes:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Wenn die Gattung Mensch die nunmehr gebotene ökotechnologische Wende nicht vollzieht, wird sie gemäß
|
||||
ökologischen Prinzipien über kurz oder lang eliminiert werden; dann und nur dann wird es wieder Natur geben.
|
||||
Wenn jedoch die Menschen die Hege und Pflege des irdischen Ökosystems mit der erforderlichen Konsequenz
|
||||
vervollkommen, so bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger als das Ende der Natur.\autocite[71]{ropohl:aufklaerung}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
\section{Befreieung oder Versklavung}
|
||||
|
||||
Der Satz im vorherigen Abschnitt, dass die Technik die Entwicklung weiterer Technik
|
||||
\textit{motivieren} kann, hat eine interessante Struktur. Die Technik wird hier \textit{personifiziert},
|
||||
einem unbelebten Gegenstand, einer unbelebten Struktur wird aktives Handeln zugeschrieben. Kann ein Messer
|
||||
oder ein Handy handeln? Aber das ist eben das, was wir in der letzten Zeit beobachten. Die Technik hat
|
||||
eine gewisse Autonomie, Eigentendenz.
|
||||
|
||||
Die Technik hat schon im Laufe ihrer gesamten Geschichte geholfen, den Menschen von schwerer Arbeit zu
|
||||
befreien, dem Menschen ein würdiges Dasein zu gewährleisten. Die Folgen davon kann man in heutiger Zeit
|
||||
gut beobachten. In den entwickelten Ländern müssen relativ wenige Mensche schwere Arbeiten ausführen, vieles
|
||||
kann von Maschinen teilweise oder vollständig übernommen werden. Und selbst, wenn die Maschine von mehreren
|
||||
Menschen gesteuert werden muss, ist eine ganze andere Art der Arbeit, als die Tätigkeit selbst auszuführen.
|
||||
|
||||
Kann man das aber nicht so hinstellen, dass während der Mensch von schwerer Arbeit befreit wird, er von
|
||||
seinem Befreier abhängig wird? Und das ist nicht nur in dem Sinne, dass wir Instrumente verwenden, die
|
||||
unser Leben erleichtern, dass wir gewissermaßen unserer Freiheit beraubt werden. Moderne Gesellschaft kennt
|
||||
neue Arten von Sucht, wie zum Beispiel Spielsucht. Man hört Beschwerden über die jungen Leute, die die
|
||||
ganze Zeit nur in ihr Handy starren, und keinerlei „reale“ Kontakte mehr haben (wobei ich
|
||||
mich einer Meinung enthalten möchte, ob solche Beschwerden gerechtfertigt sind). Aber selbst,
|
||||
wenn man von der individuellen Ebene absieht, schreibt Hans Blumenberg über „eine spezifische
|
||||
Eigengesetzlichkeit“ eines Machtmittels wie Atomkraft\autocite[Vgl.][13]{blumenberg:schriften-technik}:
|
||||
„So wie das technische Gebrauchsprodukt Bedarf zu erzeugen vermag, so schafft das technische Machtmittel
|
||||
mit eigenartiger Automatie auslösende Situationen.“\autocite[13]{blumenberg:schriften-technik}
|
||||
|
||||
Hier stellt sich die Frage, ob ein Messer tatsächlich einen neutralen ethischen Wert hat, und es nur auf den
|
||||
Menschen ankommt der ihn verwendet, ob er damit nur das Brot schneidet oder noch für andere Zwecke einsetzt,
|
||||
oder ob ein Messer einen immanenten Wert hat, der zu dessen Benutzung nicht nur für gute Zwecke
|
||||
herausfordert.
|
||||
|
||||
\section{Gleichheit oder Zerspaltung}
|
||||
|
||||
Ein weiteres von der Technik verfolgtes Ziel ist, die Kluft zwischen sozialen Schichten der
|
||||
Gesellschaft geringer zu machen. Technische Mittel ermöglichen es, verschiedene Artefakte für
|
||||
alle Menschen zugänglich zu machen. Zum Beispiel der Buchdruck hat dazu geführt, dass die
|
||||
Produktionskosten von Büchern stark gesunken sind, und viel mehr Menschen sich den Kauf von
|
||||
Büchern erlauben konnten.
|
||||
|
||||
Das Beispiel der Bücher ist auch geeignet, wenn man die Bücher als Informationsquelle
|
||||
betrachtet und zur heutigen digitalen Informationsvermittlung kommt.
|
||||
Man könnte denken, dass, wenn die Mehrheit der Bevölkerung einen Internetzugang
|
||||
und einen Computer hat, es allen den gleichen Zugang zu den Informationen automatisch
|
||||
ermöglichen würde.
|
||||
|
||||
Dem kann man entgegenbringen, dass die Quantität noch nichts über die Qualität sagt, denn
|
||||
ein Internetzugang noch nichts darüber sagt, wie er genutzt wird. Da die Nutzung der digitalen
|
||||
Medien immer mehr an Bedeutung gewinnt, zum Beispiel, in der Schule und am Arbeitsplatz, kommt
|
||||
es dazu, dass einige gesellschaftliche Gruppen noch weiter voran kommen, weil sie mit entsprechenden
|
||||
technischen Mitteln umgehen können, die anderen darauf nicht zugreifen. So wird die Kluft nicht kleiner,
|
||||
sondern im Gegensatz größer. Dieses Phänomen ist keine Spekulation, sondern wurde durch Studien
|
||||
bereits vor etwa 20 Jahren entdeckt und immer wieder bestätigt. Es hat den Namen „digitale
|
||||
Spaltung“ (Digital divide) bekommen.\autocite[Vgl.][206--221]{filipovic:ungleichheit}
|
||||
|
||||
|
||||
\section{Schlussbemerkung}
|
||||
|
||||
Mit diesen wenigen Beispielen habe ich zu zeigen versucht, dass die technische Entwicklung unserer Zeit sehr
|
||||
schwer nur mit einem „Gut“ oder „Schlecht“ bewertet werden kann. Es stehen immer komplexe
|
||||
Fragen im Hintergrund, die zwei Seiten haben und wo die goldne Mitte nicht unbedingt einfach zu finden
|
||||
ist.
|
||||
|
||||
Viele Probleme, die direkt oder nur indirekt von der Wissenschaft und Technik verursacht wurden, sind
|
||||
gar keine wissenschaftliche und noch weniger technische Fragen, sondern sie berühren solche Bereiche wie
|
||||
die der Ethik, der Verantwortung und des menschlichen Selbstverständnisses. Sie haben auch eher wenig
|
||||
Bedeutung für die Wissenschaft oder Technik, dafür aber für die menschliche Existenz, sowohl auf der
|
||||
individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene.
|
||||
|
||||
Das ist der Grund, warum ich denke, dass eine philosophische Reflexion im Bereich der Technik unentbehrlich
|
||||
ist. Ich denke, es ist verantwortungslos, alles dem natürlichen Lauf der Dinge zu überlassen, ohne sich
|
||||
zumindest zu fragen, warum es so geschieht, welche Konsequenzen es haben kann und ob man in einer
|
||||
bestimmten Lage etwas unternehmen soll oder kann. Wieder wäre es äußerst wichtig, dass eine solche philosophische
|
||||
Reflexion die moderne Entwicklung nicht bloß dämonisiert oder glorifiziert, sondern möglichst gerecht
|
||||
und ausgeglichen verläuft, weil sie nur so ernst genommen werden kann, was nicht zu vernachlässigen ist, wenn
|
||||
die Technikkritik nicht in der Luft hängen oder nur deskriptiv bleiben will, sondern auch etwas aktiv
|
||||
für die Zukunft bewirken will.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
So wäre es eine wichtige Aufgabe für eine Philosophie der Technik an Schule und Hochschule, den zukünftigen
|
||||
Ingenieuren und Technikern zeigen zu können, wie Grundlagenforschung, angewandte Forschung und Praxis
|
||||
zusammenhängen, welche Rolle die Arbeit, die Praxis, die gestaltete Technik, die Muße und die Kunst bei
|
||||
der Konstitution unseres Selbstverständnisses spielen.\autocite[105]{kornwachs:technik}
|
||||
\end{quote}
|
17
themes/posts/2017/05/die-narren-sollen-weiter-lastern.tex
Normal file
17
themes/posts/2017/05/die-narren-sollen-weiter-lastern.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,17 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-05-26 20:09:00
|
||||
tags: Gedicht
|
||||
title: Die Narren sollen weiter lästern…
|
||||
teaser: |
|
||||
<p>
|
||||
Die Narren sollen weiter lästern,<br>
|
||||
für and’re Themen sind sie dumm.<br>
|
||||
Ich bin zu müde mich zu bessern.<br>
|
||||
Der Weise schweigt und trinkt sein’ Rum.
|
||||
</p>
|
||||
---
|
||||
Die Narren sollen weiter lästern,\\
|
||||
für and’re Themen sind sie dumm.\\
|
||||
Ich bin zu müde mich zu bessern.\\
|
||||
Der Weise schweigt und trinkt sein’ Rum.
|
339
themes/posts/2017/05/technikkonzept-von-ernst-kapp.tex
Normal file
339
themes/posts/2017/05/technikkonzept-von-ernst-kapp.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,339 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-05-09 00:00:00
|
||||
tags: Aufsatz
|
||||
title: Technikkonzept von Ernst Kapp
|
||||
teaser:
|
||||
<p>Zwar begleiten die technischen Erfindungen den Menschen schon seine ganze Geschichte, angefangen mit einem
|
||||
Schlagstein, der als Prototyp für einen Hammer diente, über die Dampfmaschine, den Telegrafen, bis zu
|
||||
Rechenmaschinen und Computern, hat man erst vor kurzem angefangen über die Technik systematisch
|
||||
nachzudenken. Das mag daran liegen, dass die technische Entwicklung seit der Industrialisierung ganz neue
|
||||
Maßstäbe angenommen hat. Eines der ersten Werke, das sich ausführlich mit dem Wesen der Technik
|
||||
beschäftigt, ist wohl „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ von Ernst Kapp aus dem Jahre
|
||||
1877, „sein bis heute als grundlegendes Werk der Technikphilosophie geltendes Buch“.</p>
|
||||
---
|
||||
\section{Technik als Herausforderung für die Philosophie}
|
||||
|
||||
Eines der wichtigsten Merkmale unserer Zeit ist die Technisierung vieler Bereiche unseres alltäglichen
|
||||
Lebens. „Das technische Zeitalter“ kann man über unsere Tage sagen hören. Als solche ist die
|
||||
Technik nichts Neues, wenn auch die Technik des letzten Jahrhunderts ganz anderer Art, als das, was man
|
||||
vorher kannte, ist. Es gibt sie dennoch mehr als hundert Jahre, vielleicht gab es sie schon immer. Vielleicht
|
||||
ist die Fähigkeit, aus der Natur Erkenntnisse zu gewinnen und dann anhand derer etwas zu erfinden, etwas
|
||||
was einen Menschen eigentlich ausmacht.
|
||||
|
||||
Desto interessanter wird es, über die Technik und Technisierung nachzudenken. Was ist sie nun?
|
||||
Die Frage nach der Technik ist eine philosophische Frage, weil es vor allem die Philosophie ist, die
|
||||
nach der Washeit der Dinge und der Möglichkeitsbedingungen fragt: Was ist der Mensch? Was macht einen
|
||||
Menschen aus? Was ist und warum eigentlich Technik, was macht sie möglich?
|
||||
|
||||
Die philosophische Natur ist auch aus der Überlegung einsehbar, dass viele Fragen,
|
||||
die mit der Technik verbunden sind, gar nicht durch das technische Denken selbst beantwortbar sind, sondern
|
||||
einer Reflexion bedürfen, die über das Technische hinausgeht. Selbst wenn jemand behaupten würde, dass die
|
||||
Technik nur aus sich heraus erklärt werden könne und müsse und keine weitere Rechtfertigung oder Würdigung
|
||||
nötig habe, wäre das eine Behautpung, die die Grenzen des Technischen überschreitet.
|
||||
|
||||
Zwar begleiten die technischen Erfindungen den Menschen schon seine ganze Geschichte, angefangen mit einem
|
||||
Schlagstein, der als Prototyp für einen Hammer diente, über die Dampfmaschine, den Telegrafen, bis zu
|
||||
Rechenmaschinen und Computern, hat man erst vor kurzem angefangen über die Technik systematisch
|
||||
nachzudenken. Das mag daran liegen, dass die technische Entwicklung seit der Industrialisierung ganz neue
|
||||
Maßstäbe angenommen hat. Eines der ersten Werke, das sich ausführlich mit dem Wesen der Technik
|
||||
beschäftigt, ist wohl „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ von Ernst Kapp aus dem Jahre
|
||||
1877, „sein bis heute als grundlegendes Werk der Technikphilosophie geltendes
|
||||
Buch“\autocite[VIII]{maye:einleitung-kapp}.
|
||||
|
||||
140 Jahre sind seit dem Erscheinen des Buches vergangen und die Entwicklung bleibt nicht stehen. Und überhaupt
|
||||
ist die rasche Entwicklung eines der wichtigsten Merkmale der heutigen Technisierung. Ältere Leute haben oft
|
||||
Probleme mit dem Bedienen des Computers oder Handys, weil sie in einem ganz anderen Umfeld aufgewachsen sind und
|
||||
das „Checken der E-Mails“ und die Abgabe der Steuererklärung online ihnen fremd ist.
|
||||
Selbst Menschen, die sich beruflich mit den modernen Technologien beschäftigen, können die technische Entwicklung
|
||||
nicht mehr einholen. In 90er-Jahren gab es noch den Begriff „Webmaster“. Ein Webmaster befasste sich
|
||||
mit der Entwicklung, Gestaltung, Verwaltung von Websites. Heute wird der Begriff kaum noch verwendet.
|
||||
Stattdessen gibt es Frontend- und Backend-Programmierer, Designer, SEO-Spezialisten (Search Engine
|
||||
Optimization --- Suchmaschinenoptimierung), Server-Administratoren.
|
||||
Man spricht noch vom „Full-stack developer“, darunter wird aber jemand verstanden, der sowohl
|
||||
die Frontend- als auch Backend-Programmierung macht, es ist jedoch keineswegs der alles könnende Webmaster.
|
||||
Die Fülle an Technologien und Aufgaben hat zur Spezialisierung und Auskristallisierung neuer Berufsfelder
|
||||
geführt. Und dieser Prozess fand innerhalb einer Generation statt.
|
||||
|
||||
Auf der anderen Seite beschäftigt sich die Philosophie in meinem Verständnis mit den ewigen Fragen.
|
||||
Die Umstände, der Kenntnisstand ändern sich, aber die Fragen nach dem, was das Sein ist, was die Erkenntnis
|
||||
zu leisten vermag, wie der Mensch zu handeln hat, bleiben. Es wäre also nicht uninteressant zu schauen,
|
||||
ob unsere Vorstellung von der Technik sich in hundert Jahren kardinal gewandelt hat, oder ob Kapp zu
|
||||
Erkenntnissen gelangte, die auch noch für uns und vielleicht unsere Nachfahren nicht von einer bloß
|
||||
geschichtlichen Bedeutung sind.
|
||||
|
||||
Kapp hat sein Werk so aufgebaut, dass er mit primitiven Werkzeugen anfängt und sich dann immer weiter zu
|
||||
komplexeren Strukturen und Artefakten hocharbeitet. Dabei greift er fast in jedem Kapitel auf ein Produkt
|
||||
aus der Geschichte der Technik, an dem er versucht, seine These plausibel zu machen. Ich wähle eine ähnliche
|
||||
Vorgehensweise und werde mich bemühen, spätere Werke der Menschenhand im Lichte Kapps Auffassung des Menschen
|
||||
und der Technik zu betrachten. Zunächst muss allerdings jene Auffassung kurz dargestellt werden.
|
||||
|
||||
\section{Technikkonzept von Ernst Kapp}
|
||||
|
||||
\epigraph{%
|
||||
Noch steht die Menschheit in den Kinderschuhen ihrer Kultur oder in den Anfängen der technischen
|
||||
Gleise, die sich der Geist selbst zu seinem Voranschreiten zu legen hat.\footcite[309]{kapp:technik}
|
||||
}{}
|
||||
|
||||
\subsection{Technik und Kultur}
|
||||
|
||||
„Grundlinien einer Philosophie der Technik“ hat noch einen Untertitel: „Zur
|
||||
Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten“. Die Technik ist also nicht
|
||||
bloß ein Mittel zum Zweck, sie hat etwas mit der Entstehung der Kultur zu tun. Wenn man bedenkt,
|
||||
dass die Kultur ein Werk des menschlichen Schaffens ist, ist es auch verständlich, dass die Technik
|
||||
ein Teil der Kultur ist. Technische Artefakte haben ihre eigene Geschichte und sie haben schon immer
|
||||
die Lebensweise der Menschen stark beeinflusst. Man denke nur an den Buchdruck, der viel mehr Menschen
|
||||
den Zugang zu Büchern ermöglichte, dadurch, dass die aufwendige Arbeit des Abschreibens von Maschinen
|
||||
ersetzt werden konnte. Kapps Überzeugung ist aber, dass die Technik nicht ein Aspekt der Kultur ist,
|
||||
sondern, dass sie konstituierend für das Entstehen der Kultur ist: „Der Anfang der Herstellung
|
||||
technischer Gegenstände ist der Beginn des Kulturwesens Mensch.“\autocite[7]{leinenbach:technik}
|
||||
|
||||
Wie ist das zu verstehen? Klaus Kornwachs stellt erstmal fest, dass der Umgang mit der Technik nicht von
|
||||
der Technik selbst vollständig determiniert ist, sondern dass „verschiedene Nationen und verschiedene
|
||||
Kulturkreise unterschiedlich mit Technik umgehen und unterschiedliche Techniklinien und
|
||||
Organisationsformen hervorgebracht und zuweilen auch wieder aufgelöst
|
||||
haben“\autocite[22]{kornwachs:technik}.
|
||||
|
||||
Die Technik wird dadurch ermöglicht, dass der Mensch die Gesetze der Natur sich zunutze machen kann.
|
||||
Die physikalischen Gesetze sind aber für alle gleich. Wie kommt es, dass verschiedene Zivilisationen
|
||||
nicht die gleiche Technik bauen oder, dass sie die gleiche Technik nicht auf dieselbe Weise nutzen?
|
||||
Um diese Frage zu beantworten, macht Kornwachs die Unterscheidung zwischen zwei Arten
|
||||
technologischer Funktionalität. Die technologische Funktionalität der ersten Art ist diejenige,
|
||||
„deren physikalische Wirksamkeit und technische Brauchbarkeit invariant gegenüber der
|
||||
kulturellen Ausprägung der organisatorischen Hülle sind“\autocite[22]{kornwachs:technik}.
|
||||
Als Beispiele nennt Kornwachs Regelkreise, Hebel, Kraftmaschinen usw.\autocite[Vgl.][22]{kornwachs:technik}
|
||||
Was ist die organisatorische Hülle? „Die organisatorische Hülle einer Technik umfasst alle
|
||||
Organisationsformen, die notwendig sind, um die Funktionalität eines technischen Artifakts überhaupt ins
|
||||
Werk setzen zu können“\autocite[23]{kornwachs:technik}. Eben so eine organisatorische Hülle
|
||||
„konstituiert \textit{eine technologische Funktion zweiter Art},
|
||||
[\dots]“\autocite[23]{kornwachs:technik} Kornwachs erklärt diese am Beispiel eines Autos, dessen
|
||||
„organisatorische Hülle das gesamte System vom Straßenverkehrsnetz über die Proliferationssysteme für
|
||||
Treibstoff und Ersatzteile bis hin zu den rechtlichen Regelungen, [\dots],
|
||||
[umfasst]“\autocite[23]{kornwachs:technik}.
|
||||
|
||||
Aber nicht nur die organisatorische Hülle regelt, wie die Technik eingesetzt wird; auch die Technik prägt
|
||||
die organisatorischen Hüllen: „Es ist offenkundig, dass die organisatorische Umgestaltung unserer
|
||||
Zivilisation durch die Informations- und Kommunikationstechnologien keine dieser organisatorischen
|
||||
Hüllen unberührt lässt.“\autocite[23]{kornwachs:technik}
|
||||
|
||||
Die Kernthese der „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ ist, dass es sich bei
|
||||
allen technischen Gegenständen um die Projektion menschlicher Organe handelt. Selbst wenn der Mensch
|
||||
keine tiefen Erkenntnisse über den Bau seines Körpers hat, projiziert er ihn unbewusst in die von ihm
|
||||
gemachten Artefakte, „[i]st demnach der Vorderarm mit zur Faust geballter Hand oder mit deren
|
||||
Verstärkung durch einen fassbaren Stein der natürliche Hammer, so ist der Stein mit einem Holzstiel
|
||||
dessen einfachste künstliche Nachbildung“.\autocite[52]{kapp:technik} Es ist nicht ungewöhnlich,
|
||||
zwischen der Technik und den menschlichen Organen und zwischen der Funktionsweise der Technik
|
||||
und derselben des Organismus Analogien zu bilden. Genauso wie den Vorderarm mit zur Faust geballter Hand
|
||||
kann man mit einem Hammer vergleichen, kann man zum Beispiel den Computer mit dem Gehirn vergleichen, weil
|
||||
die Computer viele Operationen wie das Rechnen sogar viel effizienter als das menschliche
|
||||
Gehirn durchführen können. Bei Kapp geht es aber nicht nur um Ähnlichkeiten und Analogien. Vielmehr
|
||||
behauptet er, dass die Menschen ihren Organismus und seine Funktionen in die Technik projizieren, sodass
|
||||
wenn der Organismus anders aufgebaut wäre, anders funktionieren würde, würde auch die Technik
|
||||
ganz anders aussehen. Und das beansprucht er für alle technischen Gegenstände
|
||||
ausnahmslos.\autocite[Vgl.][7]{leinenbach:technik}
|
||||
|
||||
\subsection{Selbsterkenntnis}
|
||||
|
||||
Die Organprojektion ist nicht nur der Gegenstand der Technikphilosophie, sondern auch der
|
||||
Erkenntnistheorie. Die Produktion der Artefakte ist die Art und Weise, wie der Mensch die Natur
|
||||
und sich selbst erkennt. Da der Mensch seinen Organismus in die Technik projiziert und die
|
||||
Technik demzufolge Merkmale dieses Organismus hat, kann er aus der von ihm erschaffenen Technik
|
||||
sich selbst erkennen. Ein Hammer sieht nicht nur äußerlich dem Arm ähnlich, er hat auch
|
||||
strukturelle Ähnlichkeiten mit diesem. Ein Hammer besteht aus zwei Teilen: einem Stiel und
|
||||
einem Kopf. Der untere Teil des Armes besteht genauso aus dem Unterarm, an den die Hand
|
||||
angeschlossen ist. In der Technik erkennt man dann wieder die Eigenschaften, die man in sie
|
||||
projiziert hat und erkennt auf diese Weise sich selbst. „Zentrum und Ziel allen Weltgeschehens
|
||||
ist in Kapps Denken die stetig sich vergrößernde Selbsterkenntnis des Menschen. Die technischen
|
||||
Artefakte sind Vehikel dieser Selbsterkenntnis: [\dots].“\autocite[36]{fohler:techniktheorien}
|
||||
|
||||
So wird der Mensch zum „Maß der Dinge“\autocite[Vgl.][73]{kapp:technik}, weil alles, was
|
||||
er in die Welt setzt, aus ihm selbst entsprungen ist. Es gibt auch keine andere Quelle der
|
||||
Erkenntnis als der Mensch selbst.\autocite[Vgl.][73]{kapp:technik}
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Die Welt der Technik leitet demnach einen Selbstreflexionsprozeß ein, da sie zum einen
|
||||
bestimmte Entwicklungsstufe des Menschen erfahrbar mache, zum anderen jedoch auch auf das verweise, was den
|
||||
Menschen möglich sei.\autocite[10]{korte:kapp}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Eine andere Komponente, die die Selbsterkenntnis kennzeichnet, ist die Sprache, weil „[d]ie Sprache
|
||||
sagt, welche Dinge sind und was sie sind, [\dots]“\autocite[60]{kapp:technik}. Und sie ist auch ein
|
||||
Produkt der Organprojektion. Kapp behauptet, dass die Bezeichnungen für die Gegenstände
|
||||
aus der Tätigkeit der Organe entstanden seien. So habe das Wort \textit{Mühle}
|
||||
seine Wurzel im indoeuropäischen \textit{mal} oder \textit{mar}, was soviel wie „mit den Fingern
|
||||
zerreiben“ oder „mit den Zähnen zermalmen“ bedeutet
|
||||
habe.\autocite[Vgl.][57\psq]{kapp:technik}
|
||||
|
||||
\subsection{Terminus „Technik“}
|
||||
|
||||
Hier wird es deutlich, dass es Kapp nicht bloß um den Einfluss der Technik auf die Kultur geht, vielmehr
|
||||
ist die Technik dasjenige, was die gesamte menschliche Kultur bildet. „Die Technik ist das erste
|
||||
Kulturereignis. Der Anfang der Herstellung technischer Gegenstände ist der Beginn des Kulturwesens
|
||||
Mensch.“\autocite[7]{leinenbach:technik}
|
||||
|
||||
Um diese These zu verstehen, muss man untersuchen, was Kapp meint, wenn er das Wort
|
||||
„Technik“ verwendet. Mit der Entwicklung der Technik entwickelt sie auch die
|
||||
Sprache. Wenn ich heute „Technik“ sage, dann meine ich meistens Computertechnik
|
||||
oder zumindest irgendeine Maschine, ein Auto, ein Lüftungssystem und dergleichen. Wenn ich über
|
||||
Werkzeuge in meinem Werkzeugkasten spreche, dann sage ich nicht unbedingt „Technik“
|
||||
von jenen, es sei denn ich habe elektrische Werkzeuge da, wie ein Elektroschrauber oder eine
|
||||
Bohrmaschine. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der eine Handsäge eine technische
|
||||
Errungenschaft darstellte. Heute gehört sie aber mehr zur Klasse der Werkzeuge. Das heißt man
|
||||
unterscheidet meistens in der heutigen Umgangssprache zwischen der Technik und den Werkzeugen.
|
||||
|
||||
Es ist überhaupt schwierig, eine Definition der Technik zu entwickeln, die man verwenden könnte,
|
||||
um zwischen technischen Gegenständen und übrigen zu differenzieren. Ich habe vorher von
|
||||
den von Menschenhand geschaffenen Gegenständen als von der Technik gesprochen. Aber zählt ein
|
||||
gemaltes Bild zur Technik? Wohl eher nicht. Es ist Kunst. Ist ein technischer Gegenstand keine Kunst?
|
||||
Man würde meinen: Nein. Der Ingenieur, der Monate verbracht hat, es zu entwerfen und zu konzipieren,
|
||||
könnte dem widersprechen. Die Technik hat noch eine weitere Eigenschaft, dass sie einen Nutzen hat.
|
||||
Allerdings auch die Kunst hat für viele Menschen einen ästhetischen Nutzen. Man kann den
|
||||
„Begriff“ auf die eine oder andere Weise definieren, aber eine solche Definition wäre
|
||||
meines Erachtens der Umgangssprache nicht gerecht und würde nicht alle Anwendungsfälle decken.
|
||||
|
||||
Wenn man zu diesem Begriff von einer anderen Seite kommt, kann man zwischen zwei Bedeutungen dessen
|
||||
unterscheiden. Zu einem bezeichnet man Gegenstände als Technik: ein Videorecorder ist Technik, ein
|
||||
Fernseher ist Technik. Zum anderen spricht man von erlernten Fähigkeiten als von den Techniken. In
|
||||
diesem Sinne gibt es Maltechniken, Kampftechniken, Lerntechniken und andere Techniken. Der Begriff
|
||||
hat also noch eine funktionale Seite.
|
||||
|
||||
Kapp hat diese Vielfalt des Technischen in seine Philosophie aufgenommen. Es war vorhin davon die
|
||||
Rede, dass der Mensch seinen Organismus in die Technik projiziert, und bei den ersten Werkzeugen
|
||||
sieht man gewisse Ähnlichkeit mit den Organen. Aber auch der Umstand, dass die Technik mit einer
|
||||
Funktion verbunden ist (dass sie eine Fähigkeit bezeichnen kann), ist ihm nicht entgangen.
|
||||
„An die Stelle der Ähnlichkeit, welche die äußere Gestalt der Organe des Menschen mit deren
|
||||
gegenständlichen Projekten besitzt, tritt im Fortgang der Entwicklung technischer Gegenstände bis
|
||||
hin zur Maschine vielmehr die Projektion des organischen
|
||||
Funktionsbildes, [\dots]“\autocite[61]{leinenbach:technik} Man hat versucht Kapps Theorie
|
||||
zu widerlegen, indem man nach Artefakten gesucht hat, die keine Ähnlichkeiten mit irgendeinem
|
||||
Organ aufweisen: das Rad\autocite[Vgl.][84--86]{leinenbach:technik} oder das künstliche
|
||||
Licht\autocite[Vgl.][88\psq]{leinenbach:technik}.
|
||||
|
||||
Das war auch für Kapp offensichtlich, dass nicht alle Werkzeuge und Maschinen äußere Ähnlichkeiten
|
||||
aufweisen. Vielmehr entfernt sich die Technik im Prozess ihrer Entwicklung von ihrem
|
||||
ursprünglichen Vorbild. Kapp spricht zum Beispiel von „vergeistigten“ Werkzeugen, die eher
|
||||
den menschlichen Geist projizieren als seinen Körper. So heißt es von dem Werkzeug der Kommunikation,
|
||||
der Sprache:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
In der Sprache hört der Unterschied von Kunstwerk und Werkzeug, der sonst durchweg feststeht,
|
||||
ganz auf. Indem sie erklärt, was sie selbst ist, übt sie gerade das aus, was sie erklären will. Mithin
|
||||
ist sie das Werkzeug, sich als ihr eigenes Werkzeug zu begreifen, also ein vergeistigtes Werkzeug,
|
||||
Spitze und Vermittlung zugleich der absoluten Selbstproduktion des Menschen.\autocite[248]{kapp:technik}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Die „Spitze“ der Organprojektion sind gar nicht die technischen Artefakte, sondern der
|
||||
gesamte kulturelle Reichtum, den der Mensch um sich schafft. Nur ist diese kulturelle Bereicherung
|
||||
ohne Technik nicht möglich. Außer dass Kapp verschiedene Bedeutungen der Technik in seine Theorie
|
||||
aufnimmt, breitet er diesen Begriff so weit aus, dass er auf jegliche Errungenschaft das Menschen
|
||||
angewendet werden kann. Solche Verwendung des Begriffes „Technik“ mag zunächst
|
||||
befremdend erscheinen, aber sie ist unserer Sprache auch nicht vollkommen fremd, denn wir
|
||||
instrumentalisieren auch geistige Prozesse und sprechen von der Sprache als dem
|
||||
\textit{Werkzeug} der Kommunikation oder der Logik als dem \textit{Werkzeug} des Denkens.
|
||||
|
||||
\subsection{Kapps Menschenbild}
|
||||
|
||||
Zwar projiziert sich der Mensch immer in die Technik, aber dieser Prozess wird nie abgeschlossen. Es
|
||||
gibt immer eine unendliche Kluft zwischen der Natur und dem Mechanismus.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
[\dots]; der Mechanismus, durch Zusammensetzung von außen zustande gebracht, ist eine „Mache“
|
||||
der Menschenhand. Der Organismus ist wie die gesamte Welt \textit{natura}, ein Werdendes, der
|
||||
Mechanismus ist das gemachte Fertige; dort ist Entwicklung und Leben, hier Komposition und
|
||||
Lebloses.\autocite[68]{kapp:technik}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Kapp ist kein Materialist und der Mensch ist für ihn kein rein materielles Wesen. Anstatt von der Materie
|
||||
und dem Geist zu sprechen, spricht Kapp von der Psychologie und der Physiologie, zwei Gegensätze, die die
|
||||
menschliche Natur in sich vereinigt. Allerdings ist auch keine Trennung dieser zwei Bestandteile möglich.
|
||||
Man kann auch nicht sagen, dass das eine wichtiger oder wesentlicher wäre als das andere, wie es zum
|
||||
Beispiel Descartes sieht\footcite[Vgl.][43]{geschichte1718}. Der Mensch ist nur als ein Ganzes möglich und
|
||||
denkbar: „Psychologie und Physiologie haben lange genug fremd gegen einander getan,
|
||||
[\dots]“\autocite[19]{kapp:technik}. Auch das kulturelle Gut und die Technik sind nicht sekundär,
|
||||
obwohl es auf den ersten Blick scheint, als ob die menschliche Existenz auch ohne diese denkbar wäre,
|
||||
weil sie erst ein Produkt seiner geistigen Aktivität sind. „Einerseits sollen die natürlichen
|
||||
Organe das Vorbild aller mechanischen Objekte und Ensembles sein, andererseits lässt sich erst durch
|
||||
deren Strukturen und Funktionen das Wesen der Organe
|
||||
erkennen.“\autocite[XXXV-XXXVI]{maye:einleitung-kapp}
|
||||
|
||||
\subsection{Kritik}
|
||||
|
||||
Ganz am Anfang klingt Kapps Theorie sehr plausibel. Bei einfachen Werkzeugen kann man das sich sehr gut
|
||||
vorstellen, dass der Mensch seine Organe als Muster für die Werkzeuge benutzt hat. Vor allem, weil die
|
||||
eigene körperliche Kraft nicht ausgereicht hat, musste man einen Weg finden, zu kompensieren, anders
|
||||
gesagt, man musste seine natürlichen Organe verlängern und verstärken.
|
||||
|
||||
Allerdings mit dem Fortschritt der Technologie, wenn die direkte Analogie zwischen dem Organ und
|
||||
dem Produkt der Menschenhand zu schwanken beginnt, fällt es einem immer schwerer, an die
|
||||
Organprojektion als eine universelle Theorie zu glauben.
|
||||
|
||||
Es liegt in der Natur des Menschen, seine Umwelt immer weiter zu gestalten, und seine Werkzeuge und
|
||||
Maschinen weiter zu entwickeln. Und auch schwere Maschinen helfen dem Menschen, schwere Arbeiten
|
||||
auszuführen, die er sonst mit seinen eigenen Organen verrichten sollte. Deswegen können auch sie
|
||||
als Projektion menschlicher Organe und ihrer Funktionen betrachtet werden. Allerdings wenn Kapp
|
||||
Beispiele wie „[d]as Netz der Blutgefäße als organisches Vorbild des
|
||||
Eisenbahnsystems“\autocite[121]{kapp:technik} einführt, stellt sich die Frage, wie es zu
|
||||
überprüfen ist. Kapp zwar besteht darauf, dass es nicht bloß das „Sinnbildliche der
|
||||
Allegorie“ ist, sondern das „Sach- und Abbildliche der
|
||||
Projektion“\autocite[Vgl.][129]{kapp:technik} und versucht das argumentativ
|
||||
zu stützen\autocite[Vgl.][129--130]{kapp:technik}, seine Argumentation kann jedoch nicht als ein
|
||||
handfester Beweis gelten.
|
||||
|
||||
Die Hauptschwäche dieser Theorie ist ihre Überprüfbarkeit. Ich kann höchstens auf bestimmte
|
||||
Ereignisse oder Artefakte hinweisen und sie zum Vorteile der Theorie deuten, aber meine
|
||||
Behauptung lässt sich nicht empirisch überprüfen. Ich kann nur versuchen sie plausibler als
|
||||
die Alternativen zu machen. Vor allem geschieht die Organprojektion nach Kapp
|
||||
\textit{unbewusst} und weist sich erst im Nachhinein als solche aus. Und um den Ursprung und
|
||||
die Art unbewusster geistiger Vorgänge lässt sich nur spekulieren.
|
||||
|
||||
Des Weiteren war Kapp auf die Technik seiner Zeit beschränkt. Er konnte selbstverständlich
|
||||
nicht voraussehen, welche Herausforderungen die künftige Technik mit sich bringt, und ob die
|
||||
Theorie entsprechend angepasst werden soll. Der Glaube an den Menschen als ein einzigartiges
|
||||
Geschöpf der Natur wird immer schwächer. Vielleicht ist er gar nicht so einzigartig, vielleicht
|
||||
kann man ihn nachbauen, vielleicht kann man das, was in seinem Kopf vorgeht, auf eine Reihe
|
||||
von Algorithmen reduzieren. Immer mehr Menschen glauben, dass es sehr bald möglich sein wird.
|
||||
Für Kapp war der Mensch noch der einzige Schöpfer seiner Technik:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Niemals ist aber bei irgendeiner Maschine die Menschenhand völlig aus dem Spiele; denn auch
|
||||
da wo ein Teil des Mechanismus sich gänzlich ablöst, wie der Pfeil, die Gewehrkugel, die dem
|
||||
Schiffbrüchigen die rettende Leine überbringende Rakete, ist die Abweichung nur vorübergehend und
|
||||
scheinbar.\autocite[64\psq]{kapp:technik}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Die Technik, die immer menschlicher wird, macht darüber nachdenklich, ob der Mensch diesen Status
|
||||
für die gesamte Zeit seiner Geschichte behalten kann. Andererseits das Sprechen über die Maschinen,
|
||||
die man von einem Menschen nicht mehr unterscheiden kann, ist auch nur noch eine Spekulation. Und
|
||||
es ist meines Erachtens noch zu früh, sie als ein Argument gegen Kapps Ansichten auszuspielen.
|
||||
Schließlich hat auch die höchste entwickelte Technik ihren Ursprung im Menschen und ist Folge
|
||||
seiner Leistung, wie es Kapp auch sagt. Das heißt, wenn eine Maschine ohne menschliche
|
||||
Teilnahme andere Maschinen produzieren kann, so wurde sie so konstruiert, um diese Aufgabe
|
||||
zu erfüllen. Es wird inzwischen über die Maschinen spekuliert, die auch geistige Leistungen
|
||||
des Menschen übernehmen können, die zum Beispiel selbst programmieren können, und so andere
|
||||
Maschinen hervorbringen, die nicht nur nach einem bestimmten Plan konstruiert sind, sondern
|
||||
tatsächlich neue Technik darstellen. Aber selbst in diesem Fall soll solche Intelligenz erstmal
|
||||
künstlich geschaffen werden, sie würde ihre Existenz immer noch dem Menschen verdanken. Das ist,
|
||||
denke ich, die Tatsache, auf die Kapp hinweisen wollte.
|
||||
|
||||
Man darf auch nicht vergessen, dass obwohl wir Technik bauen und verwenden, darüber zu
|
||||
reflektieren, warum wir sie eigentlich brauchen und warum wir so bauen, wie wir sie bauen, keine
|
||||
einfache Aufgabe ist, die lückenlos gelöst werden kann. Deswegen verdient Kapps
|
||||
Theorie Aufmerksamkeit als ein möglicher Lösungsansatz.
|
||||
|
||||
\subsection{Kapps Technikphilosophie in Anwendung auf die nachfolgende Geschichte der Technik}
|
||||
|
||||
Das Kapitel, in dem Harald Leinenbach über die Rezeptionsgeschichte der Organprojektionstheorie spricht,
|
||||
nennt er „Die Grundlinien einer Philosophie der Technik“
|
||||
„Kapps mystisches Blendwerk“\autocite[60]{leinenbach:technik}, womit er andeuten will,
|
||||
wie das Werk meistens rezipiert wurde.
|
||||
„Dabei finden sich Erwähnungen der Organprojetionstheorie meist bloß in knappen
|
||||
Randbemerkungen. Kapps Technikphilosophie ist nirgends aufgenommen, geschweige denn konstruktiv
|
||||
weitergeführt worden.“\autocite[61]{leinenbach:technik} Als Grund gibt Leinenbach an, dass
|
||||
Kapp von seinen Gegnern immer missverstanden wurde, dass man seine Theorie nicht zu Ende denkt, sondern
|
||||
sich „hauptsächlich am Organprojektionsstatus der technischen
|
||||
Gegenstände“\autocite[60\psq]{leinenbach:technik} aufhält, und
|
||||
sobald man eine Maschine findet, die äußerlich dem menschlichen Organismus nicht ähnlich ist, hört
|
||||
man auf und lehnt die Theorie als unzureichend ab. Dazu kommen noch Begriffe wie das Unbewusste, mit
|
||||
denen Kapp gearbeitet hat.\autocite[Vgl.][64]{leinenbach:technik} Besonders in der Zeit, in der die
|
||||
Künstliche Intelligenz entwickelt wird, scheint die Hoffnung zu wachsen, das Unbewusste aus der Welt
|
||||
zu schaffen, und alles Menschliche ohne Rest technisch reproduzieren zu können.
|
30
themes/posts/2017/07/du-bist-von-anderen-umringt.tex
Normal file
30
themes/posts/2017/07/du-bist-von-anderen-umringt.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,30 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-07-22 19:51:00
|
||||
tags: Gedicht
|
||||
title: Du bist von anderen umringt…
|
||||
teaser: |
|
||||
<p>
|
||||
Du bist von anderen umringt;<br>
|
||||
Ich weiß, mein Weg ist nicht so eben.<br>
|
||||
Wenn man sich auf ihn begibt,<br>
|
||||
liegen ’rum nur laute Scherben.
|
||||
</p>
|
||||
<p>
|
||||
Er führt uns trotzdem zum Altar<br>
|
||||
und entfernt das letzte Siegel,<br>
|
||||
dass nichts im All ein Zufall war,<br>
|
||||
und dass das Sein den Tod besiege.
|
||||
</p>
|
||||
---
|
||||
\textit{Katja M. S. B.}
|
||||
|
||||
Du bist von anderen umringt;\\
|
||||
Ich weiß, mein Weg ist nicht so eben.\\
|
||||
Wenn man sich auf ihn begibt,\\
|
||||
liegen ’rum nur laute Scherben.
|
||||
|
||||
Er führt uns trotzdem zum Altar\\
|
||||
und entfernt das letzte Siegel,\\
|
||||
dass nichts im All ein Zufall war,\\
|
||||
und dass das Sein den Tod besiege.
|
13
themes/posts/2017/07/ehe-fur-alle.tex
Normal file
13
themes/posts/2017/07/ehe-fur-alle.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,13 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-07-01 09:14:00
|
||||
tags: Gedicht
|
||||
title: Ehe für alle
|
||||
teaser: |
|
||||
<p>
|
||||
„Ehe für alle!“ - heuchelte der Wind,<br>
|
||||
wo nämlich Scheidungen in Mode sind.
|
||||
</p>
|
||||
---
|
||||
„Ehe für alle!“ — heuchelte der Wind,\\
|
||||
wo nämlich Scheidungen in Mode sind.
|
770
themes/posts/2017/09/was-ist-technik.tex
Normal file
770
themes/posts/2017/09/was-ist-technik.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,770 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-10-01 00:00:00
|
||||
tags: Aufsatz
|
||||
title: Was ist Technik? Eine Auseinandersetzung mit dem Technikkonzept von Ernst Kapp
|
||||
teaser:
|
||||
<p>Im vorliegenden Artikel geht es um die Anwendung des Technikkonzepts von Ernst Kapp auf die
|
||||
heutige Technik. Eines der Gebiete, dessen Entwicklung für die Moderne unentbehrlich ist, ist die
|
||||
Computertechnik. Wobei ich einen breit gefächerten Computerbegriff benutzen möchte.
|
||||
Computer werden immer universeller und können immer mehr Aufgaben ausführen, deswegen sind sie bereits
|
||||
ein Teil vieler Bereiche unseres Daseins. Sie werden vorprogrammiert, um anhand gegebener Daten bestimmte
|
||||
Aktionen auszuführen. In diesem Sinne ist nicht nur ein Laptop ein Computer, sondern auch ein Handy;
|
||||
genauso ist ein Roboter ein komplexer Computer.</p>
|
||||
---
|
||||
Im vorliegenden Artikel geht es um die Anwendung des Technikkonzepts von Ernst Kapp auf die
|
||||
heutige Technik. Eines der Gebiete, dessen Entwicklung für die Moderne unentbehrlich ist, ist die
|
||||
Computertechnik. Wobei ich einen breit gefächerten Computerbegriff benutzen möchte.
|
||||
Computer werden immer universeller und können immer mehr Aufgaben ausführen, deswegen sind sie bereits
|
||||
ein Teil vieler Bereiche unseres Daseins. Sie werden vorprogrammiert, um anhand gegebener Daten bestimmte
|
||||
Aktionen auszuführen. In diesem Sinne ist nicht nur ein Laptop ein Computer, sondern auch ein Handy;
|
||||
genauso ist ein Roboter ein komplexer Computer.
|
||||
|
||||
\section{Datenverarbeitung. Mensch und Maschine}
|
||||
|
||||
Ein Computer ist vor allem ein Rechner. Es kommt einem so vor, als ob die Computer ganz
|
||||
verschiedene Informationsarten verwalten, bearbeiten und speichern können: Text, Musik, Bilder.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Trotzdem ist ein Computer ein Gerät, das Probleme durch Berechnungen löst: Er kann nur
|
||||
diejenigen Sachverhalte „verstehen“, die man in Form von Zahlen und mathematischen
|
||||
Formeln darstellen kann. Dass es sich dabei heute auch um Bilder, Töne, Animationen, 3-D-Welten
|
||||
oder Filme handeln kann, liegt einfach an der enormen Rechengeschwindigkeit und Kapazität moderner
|
||||
Rechner.\autocite[35]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Natürlich ist das nicht die grundlegendste Ebene:
|
||||
der Arbeitsspeicher und Prozessor wissen nichts von den Zahlen und der Arithmetik, aber die Mathematik ist
|
||||
trotzdem von fundamentaler Bedeutung für die logische Funktionsweise von Programmen.
|
||||
|
||||
\subsection{Darstellung der Daten im Computer. Zahlensysteme und das Zählen}
|
||||
|
||||
Wenn man einen Text, ein Musikstück oder ein Bild speichern will, werden sie als eine Zahlenfolge
|
||||
interpretiert, und nicht eine Folge von Buchstaben, Noten oder Farben, wie sie für den Menschen
|
||||
erscheinen. Ein wichtiger Unterschied zum vom Menschen eingesetzten dezimalen Zahlensystem ist, dass
|
||||
für das Programmieren der Computer ein binäres Zahlensystem verwendet wird. Für das Rechnen verwenden
|
||||
wir ein Zahlensystem mit 10 Ziffern, von 0 bis 10, daher der Name „dezimal“. Das binäre
|
||||
Zahlensystem hat nur 2 Ziffern: 0 und 1, funktioniert aber wie ein dezimales oder jedes andere
|
||||
Zahlensystem, und lässt sich in jedes andere Zahlensystem übersetzen. Beim Zählen um eine Nummer
|
||||
größer als 9 zu erzeugen, setzt man sie aus mehreren Ziffern zusammen.
|
||||
|
||||
\noindent\begin{tabular}{cccccccccc}
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\toprule
|
||||
& \multicolumn{9}{l}{\textbf{Ziffern des Dezimalsystems}} \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 1 & 2 & 3 & 4 & 5 & 6 & 7 & 8 & 9 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\addlinespace
|
||||
\end{tabular}
|
||||
|
||||
\noindent\begin{tabular}{cc}
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\toprule
|
||||
& \textbf{Ziffern des Binärsystems} \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 1 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\end{tabular}
|
||||
|
||||
Im binären Zahlensystem ist es genauso mit dem Unterschied, dass die zusammengesetzten Nummern
|
||||
bereits nach 1 folgt, weil es keine 2 gibt, so zählt man folgendermaßen: 0, 1, 10, 11, 100, 101, 110,
|
||||
111 und so weiter. Jeder Zahl in dieser Folge kann man eine dezimale Zahl zuordnen: 0 ist 0, 1 ist 1,
|
||||
10 ist 2, 11 ist 3, 100 ist 4 und so weiter.
|
||||
|
||||
\noindent\begin{tabular}{lcccccccccc}
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\toprule
|
||||
& \multicolumn{9}{c}{\textbf{Zuordnung}} \\
|
||||
\midrule
|
||||
Dezimal & 0 & 1 & 2 & 3 & 4 & 5 & 6 & 7 & 8 \\
|
||||
\midrule
|
||||
Binär & 0 & 1 & 10 & 11 & 100 & 101 & 110 & 111 & 1000 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\toprule
|
||||
Dezimal & 9 & 10 & 11 & 12 & 13 & 14 & 15 & 16 & 17 \\
|
||||
\midrule
|
||||
Binär & 1001 & 1010 & 1011 & 1100 & 1101 & 1110 & 1111 & 10000 & 10001 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\end{tabular}
|
||||
|
||||
Das dezimale Zahlensystem ist kaum etwas
|
||||
Eingeborenes, wir hätten auch binär, oktal oder hexadezimal rechnen können, aber die Wahl des
|
||||
Zahlensystems ist auch nicht zufällig. Kapp argumentiert, dass der Wahl des Zahlensystems die Tatsache
|
||||
zugrunde liegt, dass Menschen ihre Finger zum Zählen verwendeten und auch bis heute verwenden:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Der Ausdruck für die Menge der Maßeinheiten derselben Art, die \textit{Zahl}, wurde, wie noch heute zur
|
||||
Unterstützung des Zählens geschieht, an den fünf Fingern abgezählt. Das griechische Wort für dieses Zählen
|
||||
nach Fünfen war \textgreek{πεµπάζειν}, „fünfern“. Die zehn Finger lieferten das Dezimalsystem
|
||||
und die zehn Finger mit Zugabe der beiden Hände des Duodezimalsystem.\autocite[75]{kapp:technik}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Das heißt, man hat die Besonderheit seines Organismus verwendet, um sich das Zählen beizubringen. Beim
|
||||
Entwickeln der Computertechnik hat man auf ein gut vertrautes System zurückgegriffen und es nur
|
||||
entsprechend modifziert. Die Hardware hat keine Finger, aber dafür elektronische Schaltungen, die zwei
|
||||
Zustände haben können: „Ein“ und „Aus“, die den beiden Ziffern des binären
|
||||
Zahlensystems entsprechen. „Die grundlegenden Funktionen, die im Computer stattfinden, lassen
|
||||
sich sehr leicht als elektrische Schaltpläne darstellen.“\autocite[85]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
|
||||
\vspace{2em}
|
||||
|
||||
\noindent\begin{minipage}{.30\linewidth}
|
||||
\begin{tabular}{ccc}
|
||||
\toprule
|
||||
1 & 2 & Oder \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 0 & 0 \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 1 & 1 \\
|
||||
\midrule
|
||||
1 & 0 & 1 \\
|
||||
\midrule
|
||||
1 & 1 & 1 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\end{tabular}
|
||||
\end{minipage}
|
||||
\begin{minipage}{.65\linewidth}
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics[scale=0.5]{/assets/images/was-ist-technik/or.png}
|
||||
\captionof{figure}[Logisches Oder durch einfache Schalter]{%
|
||||
Logisches Oder durch einfache Schalter\autocite[86]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
}
|
||||
\end{minipage}
|
||||
|
||||
\vspace{2em}
|
||||
|
||||
\noindent\begin{minipage}{.30\linewidth}
|
||||
\begin{tabular}{ccc}
|
||||
\toprule
|
||||
1 & 2 & Und \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 0 & 0 \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 1 & 0 \\
|
||||
\midrule
|
||||
1 & 0 & 0 \\
|
||||
\midrule
|
||||
1 & 1 & 1 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\end{tabular}
|
||||
\end{minipage}
|
||||
\begin{minipage}{.65\linewidth}
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics[scale=0.5]{/assets/images/was-ist-technik/and.png}
|
||||
\captionof{figure}[Logisches Und durch einfache Schalter]{%
|
||||
Logisches Und durch einfache Schalter\autocite[86]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
}
|
||||
\end{minipage}
|
||||
|
||||
\vspace{2em}
|
||||
|
||||
0 und 1 lassen sich also in eine für die Hardware verständliche Sprache übersetzen. Größere Zahlen
|
||||
bekommt man, wenn man mehrere Nullen und Einsen zusammensetzt, genauso wie man es vom Dezimalsystem kennt.
|
||||
Es bleibt herauszufinden, wie man andere Informationen umwandeln kann.
|
||||
|
||||
Für einen Text ist es relativ einfach. Genauso wie in der Cäsar-Verschlüsselung kann man jedem Zeichen
|
||||
eine Zahl zuordnen. Es gibt deswegen sogenannte Kodierungen, Tabellen, die die Konvertierung zwischen
|
||||
den Zahlen und den Zeichen einer Schriftsprache ermöglichen. Eine der ältesten Kodierungen, die aber
|
||||
für die moderne Verhältnisse oft nicht mehr ausreicht, ist ASCII\@. Sie besteht aus 128 Zeichen, darunter
|
||||
sind sowohl die Buchstaben des lateinischen Alphabets (groß und klein separat), als auch Satzzeichen
|
||||
(Punkt, Komma und so weiter), als auch solche wie das Leerzeichen oder der Zeilenumbruch. Da man
|
||||
sehr bald einsehen musste, dass man vielmehr Zeichen braucht, um nicht englische Texte kodieren
|
||||
zu können, sind weitere Zeichenkodierungen entstanden wie UTF-8, UTF-16 oder UTF-32, wobei es auch
|
||||
viele anderen gibt (windows-1251, koi8-r und so weiter).
|
||||
|
||||
\noindent\begin{tabular}{cccccccccccccccc}
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\toprule
|
||||
\multicolumn{16}{c}{\textbf{ASCII}} \\
|
||||
\toprule
|
||||
97 & 98 & 99 & 100 & 101 & 102 & 103 & 104 & 105 & 106 & 107 & 108 & 109 & 110 & 111 & \dots \\
|
||||
\midrule
|
||||
0 & 1 & 2 & 3 & 4 & 5 & 6 & 7 & 8 & 9 & \@: & \@; & < & = & > & \dots \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\midrule
|
||||
65 & 66 & 67 & 68 & 69 & 70 & 71 & 72 & 73 & 74 & 75 & 76 & 77 & 78 & 79 & \dots \\
|
||||
\midrule
|
||||
A & B & C & D & E & F & G & H & I & J & K & L & M & N & O & \dots \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\toprule
|
||||
97 & 98 & 99 & 100 & 101 & 102 & 103 & 104 & 105 & 106 & 107 & 108 & 109 & 110 & 111 & \dots \\
|
||||
\midrule
|
||||
a & b & c & d & e & f & g & h & i & j & k & l & m & n & o & \dots \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\end{tabular}
|
||||
|
||||
Darstellung der Graphik ist recht ähnlich. Zunächst muss man ein Bild in die einzelnen
|
||||
„Buchstaben“ zerlegen. Im Falle der Graphik nennt man so einen „Buchstaben“
|
||||
ein \textit{Pixel}. Ein Pixel ist ein Bildpunkt. Die Pixel sind so klein, dass das menschliche
|
||||
Auge gar nicht merkt, dass ein Bild aus sehr vielen Pixeln zusammengesetzt wird, obwohl vor 30
|
||||
Jahren auf den alten Bildschirmen das noch zu sehen war. Da jedes Pixel eine eigene Farbe haben
|
||||
kann, muss jeder Farbe eine Zahl zugeordnet werden, die die jeweilige Farbe repräsentieren würde.
|
||||
Deswegen gibt es auch hier etwas etwas, was den Kodierungen der Buchstaben entpricht: Farbmodelle.
|
||||
Eines der am meistverbreiteten ist RGB (\textbf{R}ed, \textbf{G}reen, \textbf{B}lue).
|
||||
Die Farben entstehen aus Mischung der drei Grundfarben: Rot, Grün und Blau. Jeder der Grundfarben
|
||||
wird eine Zahl von 0 bis 255 zugeordnet, die der Intensivität der jeweiligen Farbe entspricht. Und
|
||||
man kann dann im Endeffekt jede Farbe als drei Zahlen jeweils von 0 bis 255 kodieren. Schwarz ist zum
|
||||
Beispiel [0, 0, 0] (alle Farben fehlen), Rot ist [255, 0, 0] (Rot hat den maximalen Wert, die anderen
|
||||
Farben sind nicht vorhanden), Gelb: [0, 255, 255] (Rot ist nicht vorhanden, Grün und Blau haben den
|
||||
maximalen Wert). Auch hier gilt es, dass es noch weitere Farbmodelle gibt, zum Beispiel
|
||||
\textit{CMYK}.
|
||||
|
||||
\noindent\begin{tabular}{ccccc}
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\toprule
|
||||
Rot & Grün & Blau & Schwarz & Weiß \\
|
||||
\midrule
|
||||
(255, 0, 0) & (0, 255, 0) & (0, 0, 255) & (0, 0, 0) & (255, 255, 255) \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\toprule
|
||||
Gelb & Pink & Dunkelgrün & Orange & Grau \\
|
||||
\midrule
|
||||
(0, 255, 255) & (255, 192, 203) & (0, 100, 0) & (255, 165, 0) & (190, 190, 190) \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\addlinespace[2em]
|
||||
\end{tabular}
|
||||
|
||||
Die Übersetzung der Informationen, Wahrnehmungen in eine für den Computer verständliche Form (in die
|
||||
digitale Form) heißt Digitalisierung. Dementsprechend, wenn man ein Ereignis mit einer Digitalkamera
|
||||
aufnimmt, wird die Aufname digitalisiert.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
In der Natur liegen alle Informationen zunächst in analoger Form vor: Das Bild, das Sie sehen,
|
||||
oder der Ton, den Sie hören, besitzt prinzipiell keine kleinste Informationseinheit oder Auflösung.
|
||||
Mit dieser Art von Informationen kann ein Computer heutiger Bauart nichts anfangen. Die besonderen
|
||||
Eigenschaften der Elektronik haben dazu geführt, dass Computer digital entworfen wurden.
|
||||
„Digital“ stammt vom englischen Wort \textit{digit} („Ziffer“); dieses Wort
|
||||
ist wiederum vom lateinischen \textit{digitus} („Finger“) abgeleitet, da die Finger von
|
||||
jeher zum Zählen eingesetzt wurden.\autocite[52]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Es gibt mindestens einen sprachlichen Zusammenhang zwischen dem Zählen, das nach Kapp eines der Produkte
|
||||
der Organprojektion ist, und der digitalen Technik. Wenn man aus dem Fenster schaut, zählt man nicht die
|
||||
einzelnen Farben und unterteilt nicht das Gesehene in die kleinsten Bestandteile. Es ist nicht bekannt, ob
|
||||
die Natur überhaupt in die kleinsten Bausteine zerlegt werden kann. Es gibt auch eine Reihe von Emergenztheorien,
|
||||
die behaupten, dass die Natur mehr ist, als die Summe ihrer Teile.
|
||||
Von der Emergenz spricht man, wenn auf höheren Ebenen der Entwicklung Eigenschaften entstehen, die auf
|
||||
niedrigieren Ebenen nicht vorhanden waren und die nicht auf etwas noch grundlegenderes reduzierbar sind.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Leben etwa ist eine emergente Eigenschaft der Zelle, nicht aber ihrer Moleküle; Bewusstsein ist
|
||||
eine emergente Eigenschaft von Organismen mit hoch entwickeltem Zentralnervensystem; Freiheit ist eine
|
||||
emergente Eigenschaft des menschlichen Organismus. Die einfacheren Lebensformen bilden zwar die Grundlage
|
||||
für die komplexeren; doch mit jedem Zusammenschluss zu einem neuen System entstehen auch qualitativ neue
|
||||
Eigenschaften, die es bei den vorangehenden Stufen noch nicht gab.“\autocite[93]{kather:leben}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Wir nehmen solche Systeme als eine Ganzheit wahr. Ein schöner Baum vermittelt uns kein
|
||||
ästhetisches Gefühl mehr, wenn er in Moleküle oder Atome zerlegt wird. Computer degegen, um solche
|
||||
Eindrücke verarbeiten und speichern zu können, zerlegen sie sie in Informationseinheiten. Damit das Bild
|
||||
eines Baumes auf meiner Festplatte gespeichert werden kann, muss es in möglichst kleine Punkte,
|
||||
von denen jedem eine Farbe zugeordnet wird, zerlegt werden, diese Bildpunkte oder Pixel müssen dann abgezählt
|
||||
werden und dann können sie gespeichert werden. Deswegen macht die Abstammung des Wortes
|
||||
„Digitalisierung“ vom „Finger“ als dem Organ, das beim Zählen
|
||||
Abhilfe schuf, immer noch Sinn: Bei der Digitalisierung werden die Elemente, zum Beispiel eines Bildes,
|
||||
abgezählt, weil nur eine endliche Anzahl von Elementen aufgenommen werden kann, und dann gespeichert.
|
||||
|
||||
Andererseits, obwohl wir unsere Umwelt als eine Ganzheit wahrnehmen, besteht die Natur aus kleineren
|
||||
Bausteinen. Der menschliche Körper besteht aus Molekülen, Atomen, Elementarteilchen. Und genauso hat
|
||||
man die Welt der Informationstechnologien aufgebaut. Es gibt immer eine Informationseinheit (ein
|
||||
Buchstabe, ein Pixel), aus deren Zusammenstellung ein komplexeres Gebilde entsteht (ein Text oder ein
|
||||
Bild). Wie ein Atom aus Protonen, Neutronen und Elektronen besteht, können auch solche
|
||||
„Informationseinheiten“ weiter zerlegt werden. Der Buchstabe „A“ des lateinischen
|
||||
Alphabets hat den ASCII-Code 65. 65 ist größer als 1, ist also nicht direkt repräsentierbar. In der
|
||||
binären Darstellung enspricht der Zahl 65, die Zahl 0100 0001. 0 oder 1 in dieser Folge heißen ein
|
||||
\textit{Bit}. Eine Folge aus 8 Bits ist ein \textit{Byte}. Ein Bit ist die kleinste Einheit für den
|
||||
Computer. Man braucht also ein Byte, um 65 oder „A“ speichern zu können. Und dieses Byte ist
|
||||
in noch kleinere „Elementarteilchen“, Bits, zerlegbar. Wenn die Technik in der Tat die
|
||||
unbewusste Projektion des menschlichen Organismus sein soll, dann ist die Art, wie die Verarbeitung der
|
||||
Daten im Computer abläuft, noch ein Beleg dafür.
|
||||
|
||||
Der Organprojektion verdankt man nach Kapp die Fähigkeit zu zählen. Diese Fähigkeit hat dem Menschen
|
||||
ermöglicht die Welt zu ermessen. Man hat gelernt Gewicht und Abstand zu messen. Mit der Einführung des
|
||||
Geldes kann man den Reichtum messen. Und heute kann man auch Informationen messen. Für das Messen
|
||||
des Abstandes wurden Einheiten eingeführt wie Millimeter, Zentimeter, Meter oder Kilometer; für diese
|
||||
des Gewichtes --- Gramme und Kilogramme. Um die Informationen digital darstellen zu können, müssen
|
||||
sie auch messbar sein. Die kleinste Informationseinheit ist ein Bit. Mit einem Bit ist nur ein 0 oder
|
||||
1 darstellbar. Eine Folge aus 8 Bits ist ein Byte. 1000 Bytes (B) sind ein Kilobyte. 1000 Kilobytes (KB)
|
||||
sind ein Megabyte (MB). Es gibt dann Gigabytes (GB), Terrabytes (TB), Petabytes (PB) und so weiter. Es
|
||||
gibt auch Masseinheiten die auf Besonderheit der Computer-Technik abgestimmt und vom binären
|
||||
Zahlensystem abgeleitet sind: 1 Kibibyte (KiB) = 1024 (2$^{10}$) Byte, 1 Mebibyte (MiB) = 1024 KiB und
|
||||
so weiter. Aber die Grundlage bleibt immer dieselbe: Man hat ein Zahlensystem, das dazu verhilft, die
|
||||
Information „abzählbar“ zu machen, damit man sie digital verarbeiten kann.
|
||||
|
||||
\subsection{Alte Prinzipien im Lichte der neuen Technik}
|
||||
|
||||
Maßeinheiten, Zahlen, Zahlensysteme kannte man vor der Elektrotechnik. Mit der Entwicklung der Technik
|
||||
hat man nur gelernt, sie anders einzusetzen. Das kann einerseits rechtfertigen, dass die
|
||||
Spekulationen der Technikphilosophie nicht vergänglich sind, dass sie mit dem Fortschritt der Technik
|
||||
nicht notwendig veraltet werden. Andererseits kann es auch für die Organprojektion sprechen, weil
|
||||
der eigene Organismus dasjenige ist, was den Menschen durch seine Geschichte begleitet hat, sodass
|
||||
die Erkenntnisse, die er aus seinem Organismus gewonnen hat, bestehen bleiben und nur erweitert,
|
||||
korrigiert und neu angewendet werden.
|
||||
|
||||
Auch von der Möglichkeit, Texte zu „digitalisieren“, konnte man sehr früh Gebrauch machen,
|
||||
und zwar im Zusammenhang mit der Kryptographie, das heißt der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Daten.
|
||||
Den Bedarf, Nachrichten verschlüsselt zu verschicken, gibt es wohl mindestens so lange, wie es Kriege gibt.
|
||||
Eines der ältesten Verschlüsselungsverfahren wird Cäsar zugeschrieben:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Julius Caesar is credited with perhaps the oldest known symmetric cipher algorithm. The so-called
|
||||
\textit{Caesar cipher} --- [\dots] --- assigns each letter, at random, to a number.
|
||||
This mapping of letters to numbers is the key in this simple algorithm.\autocite[30\psq]{davies:tls}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Was sich in den letzten Jahren geändert hat, ist, dass die Kryptographie nicht nur für bestimmte Gruppen
|
||||
(wie die Militär) interessant ist. Wenn man die Website seiner Bank, ein soziales Netzwerk oder seine
|
||||
Lieblingssuchmaschine besucht, werden die eingegebenen Daten verschlüsselt vor dem Versenden und dann am
|
||||
anderen Ende, vom Empfänger (der Bank, dem sozialen Netzwerk oder der Suchmaschine), entschlüsselt.
|
||||
|
||||
Bei der Cäsar-Verschlüsselung wird jeder Buchstabe eines geordneten Alphabets um mehrere Positionen nach
|
||||
rechts verschoben. „Verschieben“ heißt, einen Buchstaben mit einem anderen zu ersetzen,
|
||||
der $n$ Positionen weiter vorkommt. $n$ heißt dann \textit{Schlüssel} (\textit{key}). Zum Beispiel, wenn
|
||||
jedes Zeichen des Klartextes um 2 Positionen nach rechts verschoben werden muss, wird \textit{A}
|
||||
zu \textit{C}, \textit{B} zu \textit{D}, \textit{Z} zu \textit{B} usw. Um den Text dann wieder zu
|
||||
entschlüsseln, muss man die Anzahl der Positionen kennen, um die jedes Zeichen verschoben wurde,
|
||||
damit man das rückgängig machen kann (also um $n$ \textbf{nach links} verschieben). Dies ist
|
||||
ein \textit{symmetrischer} Algorithmus, weil für die Verschlüsselung und die Entschlüsselung derselbe
|
||||
Schlüssel $n$ verwendet wird: Bei der Verschlüsselung muss man um $n$ Positionen nach rechts verschieben,
|
||||
bei der Entschlüsselung --- um $n$ Positionen nach links.
|
||||
|
||||
Symmetrische Kyptographie wird immer noch weit eingesetzt. Wenn auch die modernen Algorithmen (Data Encryption
|
||||
Standard, Advanced Encryption Standard u.Ä.\autocite[Vgl.][30\psqq]{davies:tls}) etwas komplexer
|
||||
sind, funktionieren sie sehr ähnlich:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
With symmetric cryptography algorithms, the same key is used both for encryption and decryption. In some
|
||||
cases, the algorithm is different, with decryption „undoing“ what encryption did. In other
|
||||
cases, the algorithm is designed so that the same set of operations, applied twice successively, cycle
|
||||
back to produce the same result: [\dots].\autocite[30]{davies:tls}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Das heißt die Computerindustrie hat unsere Denkweise nicht kardinal geändert. Man hat mit der Technik nicht
|
||||
eine komplett neue Welt erschaffen, sondern man hat nach Wegen gesucht, erpobte Vorgehensweisen auf die neue
|
||||
Technik anzuwenden. Für die Techniktheorien, wie die von Kapp, kann es bedeuten, dass sie nicht komplett
|
||||
von der zu jeweiliger Zeit vorhandenen Technik abhängig. Ein vor Jahrtausenden entwickeltes
|
||||
Verschlüsselungskonzept findet immer noch Anwendung unter ganz anderen Bedingungen. Natürlich kann die
|
||||
Cäsar-Verschlüsselung nicht mehr eingesetzt werden, sie ist anfällig für die sogenannten
|
||||
„Brute-Force-Angriffe“: Ausprobieren aller möglichen Kombinationen oder Schlüssel. Für einen
|
||||
deutschen Text gibt es höchstens 30 Schlüssel, die man ausprobieren soll, um einen Text zu entschlüsseln
|
||||
(wenn man annimmt, dass das deutsche Alphabet 30 Buchstaben hat). Ein moderner Rechner kann diese Aufgabe
|
||||
in Sekunden lösen. Deswegen wurden Algorithmen entwickelt, die auch von einem Computer nicht so einfach
|
||||
rückängig zu machen sind, wenn man den Geheimschlüssel nicht kennt. Sie basieren aber auf derselben Grundlage
|
||||
und auch die kann man theoretisch durch das Ausprobieren aller möglichen Schlüssel umgehen, nur dass es
|
||||
auch für leistungstärkste Rechner Jahre und Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde, dies durchzuführen.
|
||||
|
||||
\subsection{Eric Kandel. „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“}
|
||||
|
||||
Wenn man eine Stufe tiefer geht und die Computertechnik auf der mechanischen Ebene betrachtet, findet
|
||||
man noch weitere Argumente für Kapps These.
|
||||
Bei einer oberflächlichen Betrachtung fällt einem sofort auf, dass die Computer komplexe Maschinen sind,
|
||||
die aus mehreren Bauteilen bestehen.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Die Hardware besteht grundsätzlich aus Zentraleinheit und Peripherie. Zur Zentraleinheit zählen vor
|
||||
allem der Mikroprozessor, der Arbeitsspeicher (RAM), die verschiedenen Bus- und Anschlusssysteme sowie
|
||||
das BIOS\@. Zur Peripherie gehören sämtliche Bauteile, die zusätzlich an die Zentraleinheit angeschlossen
|
||||
werden; sie dienen der Ein- und Ausgabe sowie der dauerhaften Speicherung von
|
||||
Daten.\autocite[115\psq]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Der menschliche Organismus hat auch eine „Peripherie“, zu der die „Bauteile“ gehören,
|
||||
die der „Ein- und Ausgabe“ dienen. Ein Eingabegerät eines Rechners ist zum Beispiel eine
|
||||
Tastatur oder Maus. Man tippt etwas ein, die Informationen werden an die Zentraleinheit weitergeleitet
|
||||
und dort verarbeitet. „Eingabegeräte“ des menschlichen Körpers sind seine Sinnesorgane, unter
|
||||
anderem seine Augen und Ohren. Man nimmt die Informationen aus der Außenwelt auf und sie werden zu seiner
|
||||
„Zentraleinheit“ weitergeleitet und dort verarbeitet. Zu Ausgabegeräten zählen
|
||||
der Bildschirm und die Lautsprecher. Das „Ausgabegerät“ des Menschen ist
|
||||
beispielsweise sein Mundwerk.
|
||||
|
||||
Zur Zentraleinheit gehört der Mikroprozessor (Central Processing Unit, kurz
|
||||
CPU)\autocite[Vgl.][119]{kersken:fachinformatiker},
|
||||
„das eigentliche Herzstück des Computers, das für die Ausführung der Programme sowie für die
|
||||
zentrale Steuerung und Verwaltung der Hardware zuständig
|
||||
ist.“\autocite[119]{kersken:fachinformatiker} Das, was für die Maschine der Mikroprozessor ist, ist für
|
||||
den Menschen sein Gehirn: „[\dots] alle Zellen [haben] spezialisierte Funktionen. Leberzellen
|
||||
beispielsweise führen Verdauungsaktivitäten aus, während Gehirnzellen über bestimmte Mittel verfügen,
|
||||
Informationen zu verarbeiten und miteinander zu kommunizieren.“\autocite[74]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
|
||||
Der menschliche Körper besteht also aus verschiedenartigen Zellen, die für bestimmte Aufgaben zuständig
|
||||
sind. Man kann auch ein ähnliches Aufbaukonzept bei einem Rechner beobachten. Abgesehen vom Mikroprozessor
|
||||
kann er auch weitere Bestandteile wie die Grafikkarte oder Audiokarte, die zur Peripherie gehören, oder
|
||||
der Arbeitsspeicher, der ein Teil der Zentreinheit ist, haben.\autocite[Vgl.][120]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
Und diese Bestandteile haben auch ihre spezifischen Funktionen, wie die Video- oder Audioverarbeitung.
|
||||
|
||||
Der Mikroprozessor ist allerdings das „Gehirn“ eines Rechners. Man kann sich einen Desktop-PC
|
||||
ohne eine Grafikkarte (der also nichts auf den Bildschirm ausgeben kann) kaum vorstellen. Es gibt
|
||||
aber auch die sogenannten Server, Computer, die bestimmte Dienste anbieten. Zum Beispiel, wenn man eine
|
||||
Webseite besucht, stellt man hinter den Kulissen eine Anfrage zu einem entfernten Computer, auf dem die
|
||||
Webseiteninhalte gespeichert sind. So ein Computer ist ein Beispiel eines Servers. Und solche
|
||||
Serversysteme bedürfen oftmals keine Bildschirmausgabe, ihre Aufgabe ist schlicht, die Anfragen der
|
||||
Benutzer anzunehmen, die richtigen Inhalte entsprechend der Anfrage auszusuchen und sie an den
|
||||
Besucher der Webseite schicken, damit er sie auf \textit{seinem} Bildschirm sehen kann. Wenn ein
|
||||
menschliches Organ „defekt“ ist, seine Funktionen nicht mehr vollständig ausführen kann, dann
|
||||
führt es zu Einschränkungen der Lebensqualität. Daher gibt es blinde und taube Menschen. Wenn einige
|
||||
Teile eines Computersystems defekt oder nicht vorhanden sind, dann ist seine Funktionalität auch
|
||||
eingeschränkt, es kann zum Beispiel keinen Ton wiedergeben oder kein Bild ausgeben. Die Art der
|
||||
Einschränkung ist aber in den beiden Fällen nicht dieselbe. Kapp hat ja immer auf den Unterschied
|
||||
zwischen dem Organischen und Mechanischen hingewiesen, darauf, dass wir uns „des Andranges solcher
|
||||
Ansichten erwehren [müssen], welche den redenden, organisch gegliederten Menschen in den Räder- und
|
||||
Tastenautomat Hübners einsargen möchten“\autocite[101]{kapp:technik}. Hier tritt die Differenz
|
||||
zwischen dem Organischen und Mechanischen nochmal ans Licht. Ein Organismus ist ein Ganzes, eine Einheit,
|
||||
die nicht ohne ein Verlust zerlegt werden kann, hier ist das Ganze mehr als die Summe der Teile. Ein
|
||||
Mensch kann wunderbar ohne eine Lunge auskommen (wenn man eine Lunge im Folge einer Krebskrankheit
|
||||
verloren hat). Vielleicht muss man auf manche Sportarten in seinem
|
||||
Leben verzichten, aber wenn man sowieso keinen Sport treibt, kann es für manche Menschen irrelevant
|
||||
sein. Und trotzdem wird es als eine Einschränkung betrachtet, als etwas, was normalerweise nicht der
|
||||
Fall sein soll. Ein Mechanismus dagegen ist die Summe der Teile und nicht mehr als das. Er ist
|
||||
nach einem Plan gebaut, da gibt es nichts Unbekanntes: „Das physikalische Gesetz deckt allerdings
|
||||
vollkommen den Mechanismus, nicht aber den Organismus, den wir nur insoweit begreifen, wie wir mit
|
||||
jenem reichen“\autocite[101]{kapp:technik}. Das Fehlen einiger Komponenten in einem Serversystem,
|
||||
die in einem Desktop-PC vorhanden sind, wird nicht als eine Einschränkung betrachtet, solange der Server
|
||||
seine Aufgaben erfüllen kann. Das heißt, solange die Technik ihrem unmittelbaren Zweck dienen kann, ist
|
||||
sie durch das Fehlen einiger Komponente nicht eingeschränkt. Selbst wenn die Audiokarte meines Rechners
|
||||
kaputtgeht, ist das mehr eine Einschränkung für mich, weil ich keinen Ton habe, als für meinen Rechner.
|
||||
|
||||
Wenn zu Kapps Zeiten die Organtransplantation und die Medizin überhaupt den heutigen Stand der Entwicklung
|
||||
gehabt hätte, würde er bestimmt noch auf Folgendes aufmerksam machen. Wenn ein technisches Gerät
|
||||
kaputtgeht, kann man es je nach der Art des Defektes reparieren. Wenn ein Kabel reißt, kann man es
|
||||
meistens löten, sodass es weiterhin seine Funktion erfüllt. Wenn ein Teil komplexer ist, ist es
|
||||
oft günstiger, dieses Teil einfach auszutauschen. Nun könnte man mit Kapp argumentieren, dass die
|
||||
Medizin ihre Entstehung dem verdankt, dass der Mensch gesehen hat, dass er von ihm erzeugte Artefakte
|
||||
reparieren kann, und daraus geschlossen hat, dass es eine Möglichkeit geben muss, auch den Menschen
|
||||
zu „reparieren“. Und diese Erkenntnis kann sehr alt sein, da sogar so etwas Einfaches wie
|
||||
ein Hammer kaputtgehen kann. Als man komplexere Maschinen reparieren musste, könnte einem
|
||||
eingefallen sein, dass man auch den Organismus durch ersetzen der Organe heilen kann. Im
|
||||
Gebrauchtwarenhandel (e.g.\ eBay) sind seit einiger Zeit Geräte „für Bastler“ zu kaufen, das heißt
|
||||
kaputte Geräte, denen man aber noch funktionierende Teile entnehmen kann, um ähnliche Modelle wieder
|
||||
beleben zu können --- die Möglichkeit, die einem Arzt durch das Vorhandensein eines Organspendeausweises
|
||||
bei einem Verstorbenen eröffnet wird.
|
||||
|
||||
Wie aber ein Mensch nicht ohne Gehirn leben kann, kann ein Computer nicht ohne den Mikroprozessor
|
||||
funktionieren. Eric Kandel, ein Gehirnforscher unserer Zeit, und ein
|
||||
Nobelpreisträger,\autocite[Vgl.][11--15]{kandel:gedaechtnis} schreibt in seinem Buch
|
||||
„Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ über drei Prinzipien, auf denen die
|
||||
Biologie der Nervenzelle beruht:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Die \textit{Neuronenlehre}
|
||||
(die Zelltheorie, auf das Gehirn angewandt) besagt, dass die Nervenzelle --- das Neuron --- der
|
||||
Grundbaustein und die elementare Signaleinheit des Gehirns ist. Die \textit{Ionenhypothese} betrifft
|
||||
die Informationsübertragung innerhalb der Nervenzelle. Sie beschreibt die Mechanismen, durch die einzelne
|
||||
Nervenzellen elektrische Signale, so genannte Aktionspotenziale, erzeugen, die sich innerhalb einer
|
||||
gegebenen Nervenzelle über beträchtliche Entfernungen ausbreiten können. Die \textit{chemische Theorie der
|
||||
synaptischen Übertragung} befasst sich mit der Informationsübermittlung zwischen Nervenzellen. Sie beschreibt,
|
||||
wie eine Nervenzelle mit einer anderen kommuniziert, indem sie ein chemisches Signal, einen Neurotransmitter,
|
||||
freisetzt. Die zweite Zelle erkennt das Signal und reagiert mit einem spezifischen Molekül, dem Rezeptor, an
|
||||
ihrer äußeren Membran.\autocite[75\psq]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Bei jedem dieser drei Prinzipien handelt es sich um die Informationsübertragung. Der menschliche Körper
|
||||
ist ein komplexes System, dessen Untersysteme anhand von Signalen miteinander kommunizieren. Wenn ich etwas
|
||||
berühre, führt es zur Erregung einer Nervenzelle, die das Signal an andere Zellen und an das Gehirn
|
||||
weiterleitet. Funktional ist das derselbe Prozess, den man auch von Computern kennt: Wenn eine Taste
|
||||
der Tastatur betätigt wird, muss das über eine Kette der Signale dem Mikroprozessor mitgeteilt werden.
|
||||
|
||||
Auch der Sprachgebrauch der Neurobiologie verweist auf die Technik:
|
||||
|
||||
„[\dots] Nervenzellen [sind] innerhalb bestimmter Bahnen verknüpft, die er [Santiago Ram\'o y Cajal]
|
||||
neuronale Schaltkreise nannte.“\autocite[81]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
|
||||
„Schaltkreis“ ist ein Begriff, der aus der Elektrotechnik kommt und jetzt in der
|
||||
Neurobiologie Anwendung findet. Kapp ist auch zu seiner Zeit auf eine Reihe von Begriffen aufmerksam
|
||||
geworden, die zunächst zur Beschreibung der Artefakte verwendet wurden, dann aber für die Beschreibung des
|
||||
Organismus übernommen wurden:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Aus der Mechanik wanderten demzufolge zum Zweck physiologischer Bestimmungen eine Anzahl von
|
||||
Werkzeugnamen nebst ihnen verwandten Bezeichnungen an ihren Ursprung zurück. Daher spielen in der Mechanik
|
||||
der Skelettbewegungen Ausdrücke wie \textit{Hebel, Scharnier, Schraube, Spirale, Achsen, Bänder,
|
||||
Schraubenspindel, Schraubenmutter} bei der Beschreibung der Gelenke eine angesehene
|
||||
Rolle.\autocite[71]{kapp:technik}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Es ist bemerkenswert, dass Kandel die elektrische Signalübertragung „die Sprache des
|
||||
Geistes“\autocite[Vgl.][90]{kandel:gedaechtnis} nennt: „ [\dots] sie ist das Mittel,
|
||||
mit dessen Hilfe sich Nervenzellen, die Bausteine des Gehirns, miteinander über große Entfernungen
|
||||
verständigen.“\autocite[90]{kandel:gedaechtnis} Das heißt, dass das, was man der
|
||||
Computertechnik zugrunde gelegt hat, hat man dann in der Gehirnforschung wiedergefunden: Die Signalübertragung der
|
||||
anhand elektrischer Signale.
|
||||
|
||||
Hier endet allerdings die Ähnlichkeit der Funktionsweise nicht. Elektrische Signale werden bei der
|
||||
Computertechnik nicht einfach weiter, sondern auch nach Bedarf gestoppt. Zum Beispiel wird logisches
|
||||
Und mit einer Reihenschaltung mit zwei Schaltern realisiert.\autocite[Vgl.][86]{kersken:fachinformatiker}
|
||||
Wenn einer der Schalter geschlossen ist, wird das Signal gestoppt, was $0 \wedge 1 = 0$ oder
|
||||
$1 \wedge 0 = 0$ entsprechen würde. Bei den Nervenzellen kann man einen ähnlichen
|
||||
„Schaltmechanismus“ entdecken:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
[\dots] nicht alle Nerventätigkeit [ist] erregend (exzitatorisch) [\dots], dass also nicht alle
|
||||
Nervenzellen ihre präsynaptischen Endigungen dazu benutzen, die nächste Empfängerzelle in der Reihe zu
|
||||
stimulieren, damit sie die Information weiterleitet. Einige Zellen sind hemmend (inhibitorisch). Sie
|
||||
verwenden ihre Endungen dazu, die Empfängerzelle an der Weiterleitung der Information zu
|
||||
hindern.\autocite[87]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Des Weiteren kennen auch die Nervenzellen keine „schwächere“ oder „stärkere“
|
||||
Signale:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Adrians Aufzeichnungen in einzelnen Nervenzellen zeigten, dass Aktionspotenziale dem
|
||||
Alles-oder-Nichts-Gesetz gehorchen: Sobald die Schwelle für die Erzeugung eines Aktionspotenzial erreicht wird,
|
||||
ist das Signal stets gleich --- in der Amplitude wie in der Form\autocite[94]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
|
||||
\subsection{Asymmetrische kryptographische Algorithmen und die Stellung des Menschen}
|
||||
|
||||
Manche Anwendungsbereiche profitieren immer noch sehr stark von der ursprünglichen Tätigkeit der Rechner:
|
||||
dem Rechnen. Ein solcher Bereich ist die Kryptographie. Als nächstes möchte ich einen kryptographischen Algorithmus
|
||||
darstellen, der seit einigen Jahrzehnten erfolgreich im Internet eingesetzt wird. Mein Ziel dabei wäre, zu
|
||||
untersuchen, was die „Denkweise“ einer Maschine von der Denkweise eines Menschen unterscheiden
|
||||
kann. Kapp hat zwar versucht, die
|
||||
Organprojektion stark zu machen, aber hat trotzdem geglaubt, dass der Mensch nicht vollständig in
|
||||
eine Maschine projiziert werden kann, dass er immer Anlagen hat, die in der technischen Welt nicht
|
||||
vorkommen können.
|
||||
|
||||
Algorithmen, die mit einem Geheimwort, einem Geheimschlüssel arbeiten (sogenannte symmetrische Verschlüsselung)
|
||||
sind im Zeitalter des Internets nicht allein verwendbar. Das Problem ist, dass
|
||||
die beiden Seiten der Kommunikation einen Geheimschlüssel austauschen müssen. Wenn Sie eine E-Mail
|
||||
verschicken möchten, können Sie sie verschlüsseln, aber Sie müssen den Geheimschlüssel dem Empfänger
|
||||
mitteilen, damit er Ihre Nachricht auch entschlüsseln und lesen kann. Wenn Sie den Geheimschlüssel zusammen
|
||||
mit der Nachricht verschicken, dann geht die ganze Sicherheit verloren, weil, dann jeder, der den Zugriff
|
||||
zu Ihrer Nachricht bekommt, kann sie auch entschlüsseln. Um dieses Problem zu lösen, wurden
|
||||
„asymmetrische“ kryptographische Verfahren entwickelt. Sie operieren genauso wie
|
||||
die Cäsar-Verschlüsselung mit den Schlüsseln, aber für die Verschlüsselung und Entschlüsselung werden
|
||||
verschiedene Schlüssel verwendet (deswegen nennt man sie asymmetrisch). Deren Funktionsweise ist der
|
||||
der symmetrischen Algorithmen nicht ähnlich, weil ihnen bestimmte Eigenschaften der Zahlen zugrunde liegen.
|
||||
Streng genommen kann man mit deren Hilfe nur Zahlen verschlüsseln und die Tatsache, dass man
|
||||
viele Informationen in der Form von Zahlen darstellen kann, macht deren Verwendung überhaupt erst möglich.
|
||||
|
||||
„By far the most common public-key algorithm is the „RSA“ algorithm, named after its
|
||||
inventors Ron \textit{Rivest}, Adi \textit{Shamir}, and Leonard
|
||||
\textit{Adleman}.“\autocite[91]{davies:tls}
|
||||
|
||||
RSA ist relativ simpel. Dessen Sicherheit basiert nicht auf komplexen Formeln, sondern darauf, dass es
|
||||
mit sehr großen Zahlen operiert wird, sodass selbst die leistungsstärksten Rechner Jahrzehnte brauchen
|
||||
würden, um auf die richtige Antwort zu kommen, ohne den Geheimschlüssel zu kennen. Und das mit Einbeziehung
|
||||
der Tatsache, dass die Computer immer schneller werden.
|
||||
|
||||
Also für die Verschlüsselung und Entschlüsselung werden zwei Schlüssel verwendet, einen davon nennt man
|
||||
den öffentlichen Schlüssel (\textit{public key}), den anderen --- den privaten Schlüssel (\textit{private
|
||||
key}). Der öffentliche Schlüssel heißt so, weil er öffentlich gemacht wird. Das eigentliche
|
||||
„Geheimwort“ ist der private Schlüssel. Stellen wir uns zwei Personen vor, Max und Sven, und
|
||||
Max will dem Sven eine E-Mail senden. Dafür muss Sven im Besitz der zwei oben genannten Schlüssel sein.
|
||||
Den öffentlichen Schlüssel stellt Sven dem Max und jedem anderen zur Verfügung, den privaten kennt nur er.
|
||||
Max verschlüsselt seine Nachricht mit Svens öffentlichem Schlüssel, verschickt sie, und nur der Besitzer
|
||||
des privaten Schlüssels, Sven, kann die Nachricht entschlüsseln. Der private Schlüssel wird zu keinem
|
||||
Zeitpunkt verschickt, der bleibt immer bei Sven. So verschwindet das Problem, das man mit der
|
||||
symmetrischen Kryptographie hat. Man muss nur zwei Schlüssel generieren können, die die Eigenschaft
|
||||
besitzen, dass, wenn man mit dem einen etwas verschlüsselt, allein der Besitzer des dazugehörigen
|
||||
privaten Schlüssels, es entschlüsseln kann.
|
||||
|
||||
Was sind diese Schlüssel eigentlich? Jeder davon besteht aus je zwei Zahlen:
|
||||
|
||||
$e$ und $n$ --- Öffentlicher Schlüssel.
|
||||
|
||||
$d$ und $n$ --- Privater Schlüssel.
|
||||
|
||||
Wenn $m$ die Nachicht ist, die verschüsselt werden soll, dann funktioniert es, wie folgt:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
c = m^e \bmod n
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
$c$ ist jetzt die verschlüsselte Nachricht. $e$ und $n$ gehören, wie oben beschrieben, zu dem öffentlichen
|
||||
Schlüssel. $a \bmod b$ berechnet den Rest der Division $a$ geteilt durch $b$. Bei der Entschlüsselung
|
||||
bedient man sich derselben Formel, nur $e$ wird mit $d$ (die Komponente des privaten Schlüssels) ersetzt:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
m = c^d \bmod n
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\subsubsection{Beispiel}
|
||||
|
||||
Nehmen wir an, Max will Sven die PIN seiner Bankkarte „1234“ übermitteln. Sven hat Max
|
||||
seinen öffentlichen Schlüssel mitgeteilt (der aus 2 Zahlen besteht):
|
||||
|
||||
\begin{gather*}
|
||||
e = 79 \\
|
||||
n = 3337
|
||||
\end{gather*}
|
||||
|
||||
Der private Schlüssel von Sven (den nur er kennt, aber nicht Max) ist:
|
||||
|
||||
\begin{gather*}
|
||||
d = 1019 \\
|
||||
n = 3337
|
||||
\end{gather*}
|
||||
|
||||
Max berechnet:
|
||||
|
||||
\begin{equation*}
|
||||
1234^{79} \bmod 3337 = 901
|
||||
\end{equation*}
|
||||
|
||||
Sven bekommt $901$ und berechnet:
|
||||
|
||||
\begin{equation*}
|
||||
901^{1019} \bmod 3337 = 1234
|
||||
\end{equation*}
|
||||
|
||||
So kann Sven verschlüsselte Nachrichten empfangen, ohne seinen Geheimschlüssel jemandem mitteilen zu
|
||||
müssen.\autocite[Vgl.][114\psq]{davies:tls} Wenn wir wissen, dass alle Informationen, mit denen ein Computer
|
||||
arbeiten kann als Zahlen repräsentierbar sind, kann man diese Vorgehensweise für jede vermittels eines
|
||||
Computers geschehende Kommunikation verwenden.\footnote{Am Rande erwähnt wird die asymmetrische Kryptographie
|
||||
nicht zur Verschlüsselung der eigentlichen Nachrichten verwendet, es ist zu langsam, um große Mengen
|
||||
an Informationen zu verschlüsseln, sondern sie wird nur für das \textit{Key Exchange} verwendet.
|
||||
Die symmetrischen Algorithmen hatten das Problem, dass beide Kommunikationspartner denselben Schlüssel
|
||||
teilen müssen. Algorithmen, wie RSA, benutzt man, um den Schlüssel eines symmetrischen Algorithmus dem
|
||||
anderen Kommunikationspartner zu übermitteln. Danach wird die Kommunikation normalerweise symmetrisch
|
||||
verschlüsselt.}
|
||||
|
||||
In dem Beispiel oben wurden sehr kleine Zahlen verwendet. Aber selbst die Berechnungen mit diesen
|
||||
Zahlen sind für einen Menschen zu komplex (Das Ergebnis von $901^{1019}$ hat über 3000 Stellen).
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
The security of the system relies on the fact that even if an attacker has access to $e$ and $n$ ---
|
||||
which he does because they're public --- it's computationally infeasbile for him to compute $d$. For
|
||||
this to be true, $d$ and $n$ have to be enormous --- at least 512 bit numbers (which is on the order of
|
||||
$10^{154}$) --- but most public key cryptosystems use even larger numbers. 1,024- or even 2,048-bit numbers are
|
||||
common.\autocite[92]{davies:tls}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Eine 512-Bit-Zahl ist eine Zahl bis $2^{512}$, eine 1024-Bit-Zahl --- bis $2^{1024}$, 2048-Bit --- bis $2^{2048}$.
|
||||
Inzwischen wird oft empfohlen, 4096-Bit-Zahlen zu verwenden.
|
||||
|
||||
\subsubsection{Diskreter Logarithmus}
|
||||
|
||||
Der Modulus $n$ ist das Produkt zweier großer Zahlen $p$ und $q$:
|
||||
|
||||
\begin{gather}
|
||||
n = pq
|
||||
\end{gather}
|
||||
|
||||
Danach muss man die Exponenten $e$ und $d$ so wählen, dass gilt:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
{(m^e)}^d \bmod n = m
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
Man schafft sich Abhilfe mit der \textit{eulerschen Funktion}:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
\phi(n) = (p - 1)(q - 1)
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
Danach wählt man $e$ und $d$, sodass gilt:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
e \cdot d \bmod \phi(n) = 1
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
The security in RSA rests in the difficulty of computing first the private exponent $d$
|
||||
from the public key $e$ and the modulus $n$ as well as the difficulty in solving the equation $m^x\%n = c$ for
|
||||
m. This is referred to as the \textit{discrete logarithm} problem. These problems are both strongly
|
||||
believed (but technically not proven) to be impossible to solve other than by enumerating all possible
|
||||
combinations.\autocite[130]{davies:tls}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
\subsubsection{Kreativität und Intuition}
|
||||
|
||||
Die Tatsache, dass der Algorithmus funktioniert, verdankt also RSA nicht einer Kenntnis, sondern
|
||||
einer \textit{Unkenntnis}, einem mathematischen Problem, für das man keine Lösung hat, von dem
|
||||
man \textit{glaubt}, dass es keine Lösung hat; und im Zusammenhang mit der Sicherheit kann man vielleicht auch
|
||||
sagen, dass man \textit{hofft}, dass man keine Lösung findet.
|
||||
|
||||
Menschliches Handeln, zumindest so, wie wir es erleben, basiert nicht nur auf Berechnungen. Der Mensch
|
||||
kann \textit{hoffen}, \textit{glauben}.
|
||||
|
||||
Davies schreibt im Bezug auf die asymmetrische Kryptographie Folgendes: „In general, public-key cryptography
|
||||
aims to take advantage of problems that computers are inherently bad at [\dots].“\autocite[91]{davies:tls}
|
||||
Er behauptet, dass die Computer grundsätzlich schlecht im
|
||||
Lösen einiger mathematischer Probleme sind. Das stößt beim ersten Lesen auf Fragen. Eigentlich sind
|
||||
die Computer oft viel besser in der Mathematik als die Menschen. \textit{Computer Algebra Systems} (CAS)
|
||||
sind Programme, die für die Arbeit mit algebraischen Ausdrücken entwickelt sind. Sie können alle möglichen
|
||||
Berechnungen durchführen und Gleichungen lösen. Aber das Lösen der Gleichungen muss
|
||||
einem CAS zunächst „beigebracht“ werden, es muss unterstützt sein, das heißt ein gewisser Algorithmus
|
||||
muss implementiert werden, nach dem die Gleichung gelöst werden kann.
|
||||
|
||||
Der Mensch sucht aber nicht nur nach Lösungen gewisser mathematischer Probleme, sondern auch nach Problemen
|
||||
selbst. Das ist ein kreativer Vorgang. Und bei manchen Problemen bleibt einem nichts anderes übrig, als
|
||||
sich auf seine Intuition zu verlassen, wie im oben aufgeführten Problem. Man muss auch in Betracht ziehen,
|
||||
dass man in dem Fall mit RSA viel Vetrauen seiner Intuition schenkt, weil die Wichtigkeit der
|
||||
Sicherheitssysteme für eine Informationsgesellschaft nicht zu unterschätzen ist. Das heißt man muss fest
|
||||
davon überzeugt sein, dass das Problem des diskreten Logarithmus zumindest nicht sehr bald gelöst werden
|
||||
kann.
|
||||
|
||||
Man kann im Bezug zu Maschinen nicht von der Kreativität, Intuition, einer Überzugung oder einem Glauben
|
||||
sprechen. Wir haben sie gebaut, wir wissen, wie sie funktionieren, wir wissen, dass sie nichts glauben.
|
||||
Selbst wenn wir von der Künstlichen Intelligenz sprechen, von den Maschinen, die selbst lernen, und die so
|
||||
viel gelernt haben, dass wir nicht mehr nachvollziehen können, wie sich die Maschine die einzelnen Inhalte
|
||||
beigebracht hat, so wissen wir zumindest, wie der Lernprozess selbst funktioniert, dass er nicht auf der
|
||||
Intuition, sondern auf der kalten Berechnung basiert.
|
||||
|
||||
Nun kann es natürlich sein, dass auch der Mensch nichts weiter als ein Bioroboter ist, der nur glaubt,
|
||||
dass er etwas glauben, von etwas überzeugt sein kann. Dann kann die Maschine den Stand des Menschen
|
||||
eines Tages einholen und ihn vielleicht sogar überholen. Das ist wohl das wichtigste und das stärkste
|
||||
Argument gegen Kapps Menschenbild. Dieses Argument hat allerdings auch problematische Seiten. Es sind
|
||||
ja die Menschen, die alles mit Bedeutung füllen. Ich kann mir auch nicht sicher sein, ob mein Nachbar
|
||||
etwas fühlt, hofft oder glaubt, oder ob er nur so tut. Erst wenn ich meinen Mitmenschen als solchen
|
||||
akzeptiere, schreibe ich ihm Eigenschaften zu, die ich selbst als Mensch zu besitzen glaube. Das
|
||||
heißt, wenn ein Roboter aus der Zukunft genauso aussieht, sich verhält, spricht wie ein Mensch, ist es
|
||||
immer noch zu wenig, ihn einem Menschen gleichzusetzen, zumindest, wenn der Mensch für mich nicht auf
|
||||
die physikalischen Eigenschaften reduzierbar ist.
|
||||
|
||||
Eine der Möglichkeiten, diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, ist ein Gedankenexperiment, das den
|
||||
Namen „Chinesisches Zimmer“ bekommen hat, der „als Standardargument der Philosophie
|
||||
des Geistes und der Künstlichen Intelligenz betrachtet werden“ kann.\autocite[8]{dresler:KI}
|
||||
Man stellt sich ein Computersystem, das chinesisch verstehen kann, es könnte beispielsweise Fragen
|
||||
auf Chinesisch beantworten, auf Aufforderungen reagieren und so weiter. So ein Programm würde chinesisch
|
||||
verstehen ohne es zu verstehen.\autocite[Vgl.][8]{dresler:KI} Und das zweite „Verstehen“ ist
|
||||
eben in dem Sinne jenes Erlebnisses, das wir als Verstehen kennen, gemeint.
|
||||
|
||||
Ich behaupte hiermit nicht, dass dieses Argument den Status des Menschen als eines einzigartigen
|
||||
Wesens rettet; ich will viel mehr zeigen, dass die Frage nach dem Menschsein nicht durch die Entwicklung
|
||||
der Technik gelöst oder aufgehoben werden kann.
|
||||
|
||||
\section{Würdigung}
|
||||
|
||||
Kapps Theorie der Organprojektion ist umstritten. Sie hat ihre Schwächen. Diese Schwächen sind
|
||||
aber nicht dadurch entstanden, dass die Theorie zu alt für die moderne Technik ist, dass sie überholt
|
||||
ist. Genauso wie zu Kapps Zeiten stößt sie auch heute auf Kritik. Man kann sie genauso in der heutigen
|
||||
Zeit vertreten mit Einbeziehung neuer Entwicklungen, neuer Beispiele. In gewisser Hinsicht wird die
|
||||
Organprojektionstheorie durch den Umstand gestärkt, dass sie nicht auf die Zeit ihrer Entstehung
|
||||
beschränkt geblieben ist, sondern dass immer neue Tatsachen aufgetaucht sind, die ihrer Unterstützung
|
||||
dienen können.
|
||||
|
||||
Die Mechanisierung schreitet fort. Immer noch ist der Streit laut zwischen denen, die glauben, dass
|
||||
der Mensch eine Maschine ist, die künstlich nachgebaut werden kann, und denen, die das menschliche
|
||||
Schaffen dem Schaffen der Natur unterordnen. Wobei die Teilung auf diese zwei Lager ist nicht
|
||||
so eindeutig. Vielleicht wird man tatsächlich eines Tages im Stande sein, einen Roboter zu bauen,
|
||||
der sich äußerlich und in dem, wie er handelt, vom Menschen nicht unterscheidet. Aber ist er
|
||||
deswegen mit einem Menschen gleichzusetzen? Hat der Mensch nicht etwas Immaterielles in sich?
|
||||
Einen Geist oder eine Seele? Die Antwort auf diese Frage kann unterschiedlich ausfallen. Für
|
||||
Kapp war der Mensch und die Natur etwas, was von der Technik nie nachgeholt werden kann. Die
|
||||
Entwicklung der Robotertechnik macht schwieriger zu vertreten. Und trotzdem dünkt es mich, dass man
|
||||
ihn nie als „nicht aktuell“ abtun kann. Schließlich hat die Frage nach dem Status des
|
||||
Menschen einiges gemeinsam mit der Gottesfrage. Wenn man als Beispiel das Christentum nimmt, ist es
|
||||
irrelevant, wie viel von der Natur man physikalisch erklären kann, Gott bleibt jenseits der Natur.
|
||||
Genauso kann es geglaubt werden, dass ein Teil des Menschen immer jenseits der physikalischen
|
||||
Welt liegt, oder dass der Körper sogar der „Kerker der Seele“ ist, der das Eigentliche
|
||||
im Menschen festhält, wie es bei Platon auftaucht\autocite[Vgl.][21]{platon:kratylos}. Die
|
||||
Entwicklung der Technik beeinflusst die Anthropologie, aber es ist schwierig sich vorzustellen, dass
|
||||
jene diese überflüssig machen kann.
|
||||
|
||||
Die ersten Werkzeuge hatten viele Ähnlichkeiten mit den menschlichen Organen. Komplexere Maschinen
|
||||
waren immer weniger ähnlich, aber haben den Anfang ihrer Entstehungsgeschichte in den einfachen
|
||||
Werkzeugen. Es ist aufregend zu sehen, wie die äußerliche Ähnlichkeit jetzt zurückkehrt. Man
|
||||
baut Roboter, die Hände, Beine, die Struktur eines menschlichen Organismus haben, und die ähnlich
|
||||
wie Menschen lernfähig sind. Der Unterschied ist, dass laut Kapp der Mensch am Anfang seiner Geschichte
|
||||
sich unbewusst in seine Werkzeuge projiziert hat. Die Entwicklung der Roboter und der
|
||||
Künstlichen Intelligenz ist hingegen voll bewusst. Man schaut, wie der Mensch sich entwickelt,
|
||||
wie er lernt, wie er aufgebaut ist, und versucht das technisch zu reproduzieren. Aber das Streben selbst,
|
||||
auf diese Weise die Natur zu erklären, sie besser zu verstehen, ist bemerkenswert. Kapp hätte auch
|
||||
hundert Jahre später kaum weniger Argumente gehabt, um seine Theorie zu verteidigen.
|
717
themes/posts/2017/12/ki-begriffsklaerung.tex
Normal file
717
themes/posts/2017/12/ki-begriffsklaerung.tex
Normal file
@@ -0,0 +1,717 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2017-12-25 00:00:00
|
||||
tags: Aufsatz
|
||||
title: Künstliche Intelligenz. Eine Begriffsklärung
|
||||
teaser:
|
||||
<p>Es ist relativ neu, dass man angefangen hat, technischen Artefakten menschliche Eigenschaften zuzuschreiben.
|
||||
So spricht man heute von „intelligenten“ Maschinen. Es gibt intelligente Menschen, die gebildet,
|
||||
begabt sind. Die Maschinen, Computer werden programmiert, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, sie arbeiten
|
||||
nach einem vordefinierten Algorithmus. Bestenfalls kann so ein Algorithmus aktualisiert werden.
|
||||
Wäre es jedoch vielleicht möglich, ein Programm zu schreiben, das das menschliche Lernvermögen nachbildet
|
||||
und lernen kann? Es ist tatsächlich möglich und in diesem Fall spricht man von der <em>künstlichen Intelligenz</em>
|
||||
(<em>Artificial Intelligence</em>) und dem <em>maschinellen Lernen</em> (<em>Machine Learning</em>), von der
|
||||
Fähigkeit einer Maschine, selbst zu lernen, also den Algorithmus, nach dem sie arbeitet, weiter zu entwickeln
|
||||
und zu verändern. Das, was eine Maschine auf diese Weise gelernt hat, ist oft so komplex, dass man nicht mehr
|
||||
sagen kann, wie genau sie das gelernt hat und wie sie zu Ergebnissen kommt, die sie liefert. Ob es ausreichend
|
||||
ist, von der Intelligenz zu sprechen, im selben Sinne, wie man von der menschlichen Intelligenz spricht, ist
|
||||
eine schwierige Frage. Selbst die menschliche Intelligenz ist kein eindeutig definierter, ein vager Begriff,
|
||||
der viele subjektive Merkmale in sich trägt.</p>
|
||||
---
|
||||
\section{Einleitung}
|
||||
|
||||
Die Technik gibt es seit sehr langem. Der Mensch war schon immer abhängig von seiner Technik und
|
||||
verdankte ihr seinen kulturellen Aufstieg. Sie erleichterte das Überleben in der Natur, ermöglichte
|
||||
den Bau der Städte und die Entwicklung der Zivilisationen, half bei der Kriegsführung und der Erforschung
|
||||
und dem Bewohnen neuer Territorien. Mit der Zeit wurde die Technik immer komplexer: Angefangen mit einfachen
|
||||
Werkzeugen hat man gelernt, komplexere Maschinen zu bauen. Dies hatte wiederum eine enorme Wirkung auf die
|
||||
Kultur. Viele schwere Arbeiten konnten auf die Maschinen verlagert werden; die Bildung hat einen neuen
|
||||
Aufschwung bekommen; Wissenschaften hatten neue Mittel, um Experimente durchzuführen und immer weiter
|
||||
fortzusrchreiten. Schon sehr lange ist der Mensch von seiner Technik umgeben; Es ist nicht erst gestern
|
||||
passiert, dass er sich von ihr abhängig gemacht hat und seine Geschichte mit der der
|
||||
Technik verbunden hat. Was sich aber im Laufe der Zeit gewandelt hat, ist die Art der angesetzten Technik.
|
||||
|
||||
Es ist relativ neu, dass man angefangen hat, technischen Artefakten menschliche Eigenschaften zuzuschreiben.
|
||||
So spricht man heute von „intelligenten“ Maschinen. Es gibt intelligente Menschen, die gebildet,
|
||||
begabt sind. Die Maschinen, Computer werden programmiert, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, sie arbeiten
|
||||
nach einem vordefinierten Algorithmus. Bestenfalls kann so ein Algorithmus aktualisiert werden.
|
||||
Wäre es jedoch vielleicht möglich, ein Programm zu schreiben, das das menschliche Lernvermögen nachbildet
|
||||
und lernen kann? Es ist tatsächlich möglich und in diesem Fall spricht man von der \textit{künstlichen Intelligenz}
|
||||
(\textit{Artificial Intelligence}) und dem \textit{maschinellen Lernen} (\textit{Machine Learning}), von der
|
||||
Fähigkeit einer Maschine, selbst zu lernen, also den Algorithmus, nach dem sie arbeitet, weiter zu entwickeln
|
||||
und zu verändern. Das, was eine Maschine auf diese Weise gelernt hat, ist oft so komplex, dass man nicht mehr
|
||||
sagen kann, wie genau sie das gelernt hat und wie sie zu Ergebnissen kommt, die sie liefert. Ob es ausreichend
|
||||
ist, von der Intelligenz zu sprechen, im selben Sinne, wie man von der menschlichen Intelligenz spricht, ist
|
||||
eine schwierige Frage. Selbst die menschliche Intelligenz ist kein eindeutig definierter, ein vager Begriff,
|
||||
der viele subjektive Merkmale in sich trägt.
|
||||
|
||||
Dass wir die Programme entwickeln können, die sich selbst „weiterschreiben“, weiterentwickeln
|
||||
können, birgt viele Möglichkeiten und viele Gefahren in sich. Einerseits können die Maschinen dem Menschen
|
||||
nicht nur schwere körperliche Arbeit abnehmen, sondern auch einige geistige Tätigkeiten. Zum Beispiel das
|
||||
Übersetzen von Texten in andere Sprachen kann teilweise von Computern übernommen werden, die ihre
|
||||
„Sprachkenntnisse“ selbst immer mehr verbessern können. Andererseits, wenn man nicht mehr
|
||||
versteht, wie genau die von ihm konstruierte Maschine handelt, fühlt man sich bedroht. Es werden auch Stimmen
|
||||
laut, dass die nächste Stufe der Evolution nicht eine biologische, sondern eine technische Evolution sei und,
|
||||
dass der Mensch sehr bald vom Werk seiner Hände überholt werde.\autocite[7ff]{kurzweil:menschheit}
|
||||
|
||||
Das Ziel dieser Arbeit ist, auf die künstliche Intelligenz und neuronale Netze, nicht nur aus technischer,
|
||||
sondern auch philosophischer Sicht zu schauen. Wenn wir von der künstlichen Intelligenz sprechen,
|
||||
verwenden wir viele Begriffe wie Lernen, Lernerfolg, Intelligenz, deren Bedeutung aber nicht immer
|
||||
klar ist. Und ich finde, dass das, wie wir über die Maschinen sprechen,
|
||||
viel darüber sagt, wie sich unser eigenes Menschenbild im technischen Zeitalter verändert oder verändert hat.
|
||||
|
||||
\section{Maschinelles Lernen}
|
||||
|
||||
Maschinelles Lernen ist ein Zweig der künstlichen Intelligenz, in dem es darum geht, einem künstlichen
|
||||
System das Gewinnen von Wissen zu ermöglichen. Ein auf diese Weise lernendes System kann eine gestellte
|
||||
Aufgabe nicht nach einem vordefinierten Algorithmus lösen, sondern ist fähig, selbst zu lernen, wie die
|
||||
Aufgabe zu lösen ist.
|
||||
|
||||
Maschinelles Lernen ist sehr vielfältig und hat verschiedene Anwendungen. Es kann grob in zwei große Kategorien
|
||||
unterteilt werden: überwachtes und unüberwachtes Lernen.
|
||||
|
||||
\subsection{Überwachtes Lernen (Supervised Learning)}
|
||||
|
||||
Beim überwachten Lernen stehen dem Lernenden eine Menge von Eingaben und den dazugehörigen Ausgaben zur Verfügung.
|
||||
Das heißt es gibt eine Reihe von Ausgangsituationen und eine Reihe möglicher Antworten beziehungsweise Reaktionen
|
||||
auf jene Situationen, wobei zwischen den ersteren und den letzteren eine Abhängigkeit vorhanden ist.
|
||||
Das Ziel des Algorithmus ist jetzt diese Abhängigkeit zu entdecken, sie zu „erlernen“.
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
\textit{Supervised learning} algorithms assume that some variable X is
|
||||
designated as the target for prediction, explanation, or inference, and that
|
||||
the values of X in the dataset constitute the „ground truth“ values for
|
||||
learning.\autocite[154]{danks:ai}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Zum überwachten Lernen gehört auch das sogenannte \textbf{bestärkende Lernen (Reinforcement Learning)}.
|
||||
Das ist das Lernen durch „Versuch und Irrtum“. Dem lernenden System steht hier keine Menge
|
||||
möglicher Ausgaben, sodass der Algorithmus aus vorhandenen Daten lernen könnte, dafür kann es mit seiner
|
||||
Umgebung interagieren und von dieser „belohnt“ oder „bestraft“ werden. Also der
|
||||
Algorithmus wird aus der Umgebung bewertet und anhand dieser Bewertung kann er lernen, wie er anhand
|
||||
einer Eingabe zu der richtigen Ausgabe gelangt.
|
||||
|
||||
„The learning algorithms used on reinforcement learning adjusts
|
||||
the internal neural parameters relying on any qualitative or quantitative information
|
||||
acquired through the interaction with the system (environment) being mapped, [\dots]“\autocite[27]{silva:ai}
|
||||
|
||||
Maschinelles und bestärkendes Lernen wird schon seit längerer Zeit bei Spam-Erkennung verwendet. Als Spam
|
||||
werden unerwünschte E-Mails, zum Beispiel Werbung, die man nicht bestellt hat, genannt. Es gibt auch einen
|
||||
Gegenbegriff zum Spam: Ham, also normale E-Mails, die man in seinem E-Mail-Postfach erwartet.
|
||||
|
||||
Wie ein Programm lernt, Spam von Ham zu unterscheiden, kann man damit vergleichen, wie es ein Mensch lernt.
|
||||
Sie bekommen unerwünschte Werbung per Post. Es ist ein Briefumschlag mit einer unpersönlichen Anrede und ein
|
||||
kleines Heft. Sie blättern es durch und sehen, dass sie daran nicht interessiert sind und schmeißen es weg.
|
||||
Wenn Sie ein ähnliches Heft nächstes Mal bekommen, blättern Sie vielleicht nochmal durch, um sicher zu sein,
|
||||
dass es nichts Wichtiges bzw\@. etwas, was Sie abonniert haben, ist. Wenn Sie einige Wochen später nochmal so ein
|
||||
Heft bekommen, reicht nur ein Blick. Vielleicht haben Sie den Namen desselben Unternehmens oder bekannte
|
||||
Produktabbildungen oder einen ähnlichen Werbetext gesehen --- Sie schmeißen es, ohne genauer zu schauen, weg.
|
||||
Sie haben gelernt, dass derartige Hefte mit Werbung keine für Sie hilfreiche Information enthalten.
|
||||
|
||||
In vielen Mail-Programmen gibt es inzwischen die Funktion „Als Spam markieren“. Wenn eine E-Mail
|
||||
als Spam markiert wird, analysiert der Spam-Filter den Inhalt der E-Mail und merkt, wie viele Male jedes Wort
|
||||
in der Nachricht vorkommt. Dieselbe Analyse macht der Filter für die anderen Nachrichten, die nicht als Spam
|
||||
markiert wurden. Langsam sammelt sich eine Datenbank mit der Anzahl der Vorkommnisse verschiedener Wörter in
|
||||
Spam- und Ham-Nachrichten. Anhand dieser Daten kann dann der Filter erkennen, dass bestimmte Wörter nur in
|
||||
Spam-Mails vorkommen, aber nicht in Ham, und kann ohne die Einmischung des Menschen entscheiden, ob eine E-Mail
|
||||
unerwünscht ist oder nicht. So ein Verfahren ist natürlich nicht fehlerfrei. Es kommt sowohl dazu, dass Spam durch
|
||||
so einen Filter unerkannt durchdringen kann, als auch dazu, dass Ham im Spam-Ordner landet. Auf diversen Webseiten
|
||||
kann man lesen: „Wenn Sie keine E-Mail innerhalb von \textit{X} Stunden erhalten haben, überprüfen Sie Ihren
|
||||
Spam-Ordner“. Wenn Ham als Spam eingestuft wird, spricht man vom \textit{False-Positive}. Es gibt meistens
|
||||
wiederum die Funktion, um die Spam-Markierung von der E-Mail zu entfernen. Dadurch kann der Filter neu lernen
|
||||
und seine Datenbank aktualisieren beziehungsweise anpassen.
|
||||
|
||||
Wir haben gesehen, dass eine der Möglichkeiten, Spam zu erkennen, darauf basiert, den Spam-Filter mit der
|
||||
Umgebung, also mit dem Benutzer, kommunizieren zu lassen. Der Benutzer hat eine Möglichkeit dem Filter mitzuteilen,
|
||||
ob eine E-Mail Spam oder Ham ist, woraus der Filter lernen kann. Je länger so ein Filter eingesetzt wird und je
|
||||
mehr er auf diese Weise trainiert wird, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit des False-Positives.
|
||||
|
||||
\subsection{Unüberwachtes Lernen (Unsupervised Learning)}
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
\textit{Unsupervised learning} algorithms do not single out any particular
|
||||
variables as a target or focus, and so aim to provide a general
|
||||
characterization of the full dataset.\autocite[154]{danks:ai}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Beim unüberwachten Lernen wird keine bestimmte Ausgabe, kein bestimmter Wert bei der Ausgabe erstrebt, wie es
|
||||
bei dem überwachten Lernen der Fall ist. Vielmehr geht es darum, eine innere Struktur in den Daten zu entdecken.
|
||||
|
||||
Ein Standardbeispiel für unüberwachtes Lernen ist ein soziales Netzwerk. In großen sozialen Netzwerken kann
|
||||
man sein Interesse oder Desinteresse dadurch zeigen, dass man bestimmte Beitrage positiv markiert
|
||||
beziehungsweise blockiert. Ein gutes soziales Netzwerk würde, um seinen Nutzern genüge zu tun, die einem
|
||||
bestimmten Benutzer angezeigten Beiträge zensieren, und ihm nur diejenigen zeigen, die er wahrscheinlich
|
||||
mag und nicht diejenigen, die er blockieren würde. Aber das Netzwerk weiß nicht im Voraus, dass es
|
||||
Beiträge zu verschiedenen Themen gibt: Kunst, Politik, Sport und so weiter. Schließlich können immer neue
|
||||
Themen auftauchen. Das Netzwerk lernt selbst die Beiträge und Benutzer zu klassifizieren. Das Lernen geht
|
||||
über die Erforschung der Vorlieben einer bestimmten Person hinaus. Nehmen wir an in Profilen zweier Personen
|
||||
unter „Interessen“ steht, dass sie gern Tennis spielen und beide lesen gerne Nachrichten eines
|
||||
Sportvereins, der eine eigene Seite im sozialen Netzwerk hat. Wenn eine dritte Person jetzt angibt, dass sie
|
||||
gern Tennis spielt, hat das soziale Netzwerk den Grund anzunehmen, dass dieser Person auch die Nachrichten
|
||||
des Sportvereins gefallen werden. Das heißt das Netzwerk lernt aufgrund komplexer Zusammenhänge, dass es bestimmte
|
||||
Gruppen, Themen- und Interessenbereiche gibt. Es gibt hier keine richtige Antwort, man überwacht nicht alle
|
||||
registrierten Benutzer und korrigiert das Netzwerk nicht: Nein, dieser Mensch gehört dieser Gruppe nicht. Und
|
||||
wenn ich einen Beitrag blockiere und markierte, bedeutet es nicht unbedingt, dass ich eine Bewertung abgebe, wie
|
||||
gut das Netzwerk gelernt hat. Es kann schließlich sein, dass ich heute keine Lust auf meinen Sportverein habe,
|
||||
sonst aber gerne lese, was er schreibt.
|
||||
|
||||
Die Unterteilung in Gruppen, Klassifizierung ist in der Wirklichkeit sehr komplex und unterzieht sich oft der
|
||||
Möglichkeit, sich auf irgendeine Weise kontrollieren oder bewerten zu lassen. Unüberwachtes Lernen kann hier
|
||||
Abhilfe schaffen.
|
||||
|
||||
\section{Neuronale Netze}
|
||||
|
||||
In diesem Abschnitt handelt es sich um eine mögliche Realisierung des maschinellen Lernens und zwar anhand
|
||||
der neuronalen Netze.
|
||||
|
||||
\subsection{Biologisches Vorbild}
|
||||
|
||||
Ein „neuronales Netz“, wie der Name raten lässt, ist ein Netz das aus
|
||||
Neuronen beziehungsweise Nervenzellen besteht. Das Neuron ist kein technischer Begriff, er stammt aus
|
||||
der Biologie: „[\dots] die Nervenzelle --- das Neuron --- [ist] der Grundbaustein und die elementare
|
||||
Signaleinheit des Gehirns [\dots]“\autocite[75]{kandel:gedaechtnis} Neuronale Netze haben nicht nur
|
||||
den Begriff des Neurons aus der Gehirnforschung übernommen, sondern auch einige weitere, und überhaupt
|
||||
haben sie menschliches Gehirn zu ihrem Vorbild.
|
||||
|
||||
Die Nervenzelle besteht aus drei Komponenten: einem Zellkörper mit zwei Arten von Fortsätzen,
|
||||
Axone und Dendriten.\autocite[Vgl.][79]{kandel:gedaechtnis} Diese Fortsätze der Nervenzelle dienen
|
||||
der Signal- beziehungsweise der Informationsübertragung:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Mit den Dendriten empfängt das Neuron Signale von anderen Nervenzellen, und mit dem Axon sendet es
|
||||
Informationen an andere Zellen\@. [\dots] Die Axonendigungen eines Neurons kommunizieren mit den
|
||||
Dendritten eines anderen Neurons nur an speziellen Stellen, die von Sherrington später Synapsen
|
||||
genannt wurden (von griechisch \textit{s\'{y}napsis} --- „Verbindung“).\autocite[81]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Synapsen sind ein weiterer Begriff, der für maschinelles Lernen wichtig ist. Sie verbinden
|
||||
die Neuronen miteinander und kodieren die bisher gelernten Informationen. In künstlichen sowie in
|
||||
biologischen neuronalen Netzen sind nicht alle Neuronen miteinander verbunden. Im Falle der biologischen
|
||||
neuronalen Netze sind „Nervenzellen innerhalb bestimmter Bahnen verknüpft [\dots], die
|
||||
er [Santiago Ram\'{o}n y Cajal] neuronale Schaltkreise nannte. Signale bewegen sich darin in
|
||||
vorhersagbaren Mustern.“\autocite[81]{kandel:gedaechtnis} Auch im Gehirn sind die Synapsen für
|
||||
die Informationsspeicherung und Lernerfahrung verantwortlich, da das Lernen die synaptische Stärke und
|
||||
dadurch die Kommunikation zwischen Neuronen verändern kann.\autocite[Vgl.][220]{kandel:gedaechtnis}
|
||||
|
||||
\subsection{Einschichtiges feedforward-Netz}
|
||||
|
||||
In diesem Abschnitt soll die Funktionsweise eines neuronalen Netzes an einem Beispiel erklärt werden.
|
||||
Nehmen wir an, wir wollen den Zusammenhang zwischen der Anzahl der Stunden, die man mit dem
|
||||
Lernen und dem Schlafen am Tag vor einer Klausur verbracht hat, und dem Ergebnis der Klausur,
|
||||
gemessen in Prozent, herausfinden.
|
||||
|
||||
Zu unseren Eingabedaten zählen:
|
||||
|
||||
\begin{enumerate}
|
||||
\item Stunden geschlafen.
|
||||
\item Stunden gelernt.
|
||||
\end{enumerate}
|
||||
|
||||
Basierend auf diesen Daten wollen wir vorhersagen, wie das Ergebnis der Klausur ausfällt. Da wir am Anfang
|
||||
nicht blind raten wollen, nehmen wir auch an, dass wir eine Testperson zur Verfügung haben, die uns für die
|
||||
Untersuchung notwendige Parameter und das Endresultat ihrer Klausur mitteilt.
|
||||
|
||||
\begin{center}
|
||||
\begin{tabular}{c c}
|
||||
(gelernt; geschlafen) & Ergebnis \\
|
||||
\toprule
|
||||
(3 Std; 5 Std) & 70\% \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\end{tabular}
|
||||
\end{center}
|
||||
|
||||
Diese Daten wollen wir verwenden, um unser neuronales Netz zu „trainieren“, d\@.h\@. es
|
||||
muss anhand dieser Daten Vorhersagen über einen wahrscheinlichen Verlauf künftiger Klausuren machen können.
|
||||
|
||||
Bei unseren Berechnungen wollen wir nicht mit verschiedenen Maßeinheiten arbeiten. Zum Beispiel in unseren
|
||||
Daten haben wir die Eingabe in \textit{Stunden} und die Ausgabe in \textit{Prozent}, es ist allerdings nicht
|
||||
möglich Stunden in Prozente zu übersetzen oder umgekehrt. Unser Netz ist aber auch an Maßeinheiten oder an
|
||||
der Art unserer Daten nicht interessiert, es muss schließlich mögliche Zusammenhänge zwischen den Eingabe-
|
||||
und Ausgabewerten finden, unabhängig davon, ob es nun Stunden, Prozente, Kilogramme oder Meter sind.
|
||||
|
||||
Außerdem soll die Ausgabe $x$ die folgende Bedingung erfüllen soll:
|
||||
|
||||
\begin{gather}
|
||||
\{x \in \mathbb{N} \mid 0 \leq x \leq 100 \}
|
||||
\end{gather}
|
||||
|
||||
Um bessere Ergebnisse zu bekommen, werden wir hauptsächlich mit reellen Zahlen von 0 bis 1 rechnen.
|
||||
Um das zu erreichen werden die Stunden und die Prozentzahl durch 100 geteilt. Nach diesen Umwandlungen
|
||||
erhalten wir die folgende Tabelle:
|
||||
|
||||
\begin{center}
|
||||
\caption{table}{\textbf{Normalisiert}}
|
||||
\begin{tabular}{c c}
|
||||
(gelernt; geschlafen) & erwartetes Ergebnis \\
|
||||
\toprule
|
||||
(0{,}03; 0{,}05) & 0,7 \\
|
||||
\bottomrule
|
||||
\end{tabular}
|
||||
\end{center}
|
||||
|
||||
\subsection{Gewichtung}
|
||||
|
||||
Unser neuronales Netz wird insgesamt aus drei Schichten bestehen:
|
||||
|
||||
\begin{figure}[H]
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics{/assets/images/ki-begriffsklaerung/image1.png}
|
||||
\caption{Einfaches neuronales Netz}\label{fig:empty_network}
|
||||
\end{figure}
|
||||
|
||||
Jede dieser Schichten hat wiederum eins oder mehrere \textit{Neuronen}. Jedes dieser Neuronen kann
|
||||
Daten speichern (in unserem Fall --- eine Zahl). Die Neuronen sind untereinander mit \textit{Synapsen} verbunden.
|
||||
Eine Synapse kann wiederum Informationen speichern, i\@.e\@. sie werden auch mit einer Zahl versehen.
|
||||
|
||||
Die erste Schicht (Abbildung~\ref{fig:empty_network}, links) ist die Eingabeschicht, sie enthält die
|
||||
Eingabedaten. Als Eingabe haben wir zwei Werte pro Testlauf: die Anzahl der Stunden, die die Testperson gelernt
|
||||
und geschlafen hat. Diese zwei Werte sind unseren Eingaben, weil es die Daten sind, auf deren Basis wir eine
|
||||
Ausgabe erwarten, eine Vorhersage machen wollen. Die Ausgabeschicht ist die letzte Schicht
|
||||
(Abbildung~\ref{fig:empty_network}, rechts), sie hat nur ein Neuron, das Ergebnis der Klausur, das wir erwarten.
|
||||
Schließlich in der Mitte ist die verdeckte Schicht. Sie ist verdeckt, weil sie für den Endbenutzer
|
||||
nicht sichtbar ist, der Endbenutzer gibt schließlich eine Eingabe und bekommt am Ende eine Ausgabe, dazwischen
|
||||
werden, basierend auf dem, was das neuronale Netz vorher gelernt hat, nur eine Reihe von Berechnungen
|
||||
durchgeführt.\autocite[Vgl.][22]{silva:ai}
|
||||
|
||||
Nun hat unser Netz noch nichts gelernt, wir wollen das erstmal nur trainieren. Für den ersten Lauf müssen
|
||||
wir deswegen eine Reihe von Parametern \textit{zufällig} wählen.
|
||||
|
||||
Erstens brauchen wir die sogenannten \textit{Gewichte}. Gewichte sind Werte, die den Synapsen zugeordnet werden.
|
||||
Sie bestimmen, welchen Einfluss ein Eingabewert auf das Endergebnis hat. Die Gewichtung repräsentiert,
|
||||
was das Netz bisher gelernt hat.
|
||||
|
||||
In unserem Fall haben wir insgesamt 9 Synapsen, sodass jedes Neuron der Eingabeschicht mit allen Neuronen der
|
||||
verdeckten Schicht, und jedes Neuron der verdeckte Schicht mit dem Neuron der Ausgabeschicht verbunden werden
|
||||
kann. Ich versehe diese Synapsen mit den folgenden Werten (von oben nach unten und von links nach rechts):
|
||||
0.8, 0.4, 0.3, 0.2, 0.9, 0.5, 0.3, 0.5, 0.9. Es gibt erstmal keinen Grund, diese Werte und nicht andere
|
||||
auszuwählen. Sie sind zufällig gefällt und die einzige Bedingung, die sie erfüllen müssen, ist, dass jeder
|
||||
dieser Werte im Intervall $\left[ 0, 1 \right]$ liegen soll.
|
||||
|
||||
Schließlich müssen wir die Neuronen der Eingabeschicht mit unseren Ausgangsdaten füllen. Unsere Ausgangssituation
|
||||
graphisch dargestellt ist dann die folgende:
|
||||
|
||||
\begin{figure}[H]
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics{/assets/images/ki-begriffsklaerung/image2.png}
|
||||
\caption{Einfaches neuronales Netz}\label{fig:start_network}
|
||||
\end{figure}
|
||||
|
||||
\subsection{Vorwärtspropagation}
|
||||
|
||||
Im nächsten Schritt wird die verdeckte Schicht gefüllt. Da wir zwei Neuronen in der Eingabeschicht haben und
|
||||
jedes davon ist den Neuronen der verdeckten Schicht verbunden ist, führen jeweils zwei Synapsen von der
|
||||
Eingabeschicht zu einem der Neuronen der verdeckten Schicht. Wir multiplizieren den Wert des Neurones der
|
||||
Eingabeschicht mit den Gewichten der daraus ausgehenden Synapsen, addieren die Ergebnisse zusammen und schreiben
|
||||
das Endergebnis in das entsprechende Neuron der mittleren Schicht. Die Werte jedes der Neuronen der
|
||||
verdeckten Schicht werden also wie folgt berechnet:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
\begin{split}
|
||||
0{,}03 \cdot 0{,}8 + 0{,}05 \cdot 0{,}2 = 0{,}034\\
|
||||
0{,}03 \cdot 0{,}4 + 0{,}05 \cdot 0{,}9 = 0{,}057\\
|
||||
0{,}03 \cdot 0{,}3 + 0{,}05 \cdot 0{,}5 = 0{,}034
|
||||
\end{split}\tag{Verdeckte Schicht}
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\begin{figure}[H]
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics{/assets/images/ki-begriffsklaerung/image3.png}
|
||||
\caption{Einfaches neuronales Netz}\label{fig:before_activation}
|
||||
\end{figure}
|
||||
|
||||
\subsection{Aktivierungsfunktion}
|
||||
|
||||
Da die Eingabe (die Stunden) nicht im Intervall $\left[ 0, 1 \right]$ liegt, verwenden wir eine
|
||||
\textit{logistische Aktivierungsfunktion}, deren Wertebereich $f(x) \in \mathbb{R} \mid 0 \leq x \leq 1$ ist:
|
||||
„The output result produced by the logistic function will always assume real values between zero
|
||||
and one.“\autocite[15]{silva:ai}
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
f(x) = \frac{1}{1 + e^{-x}} \tag{Aktivierungsfunktion}
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
So bekommen wir nach den anschließenden Berechnungen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine Zahl zwischen 0 und 1,
|
||||
die anschließlich mit 100 multipliziert werden kann, um so auf die Prozente zu kommen.
|
||||
|
||||
Wir wenden zunächst die Aktivierungsfunktion auf jeden der vorher berechneten Werte an und schreiben
|
||||
das Ergebnis ebenfalls in die verdeckte Schicht.
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
\begin{split}
|
||||
f(0{,}034) \approx 0{,}509\\
|
||||
f(0{,}057) \approx 0{,}514\\
|
||||
f(0{,}034) \approx 0{,}509
|
||||
\end{split}
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\begin{figure}[H]
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics{/assets/images/ki-begriffsklaerung/image4.png}
|
||||
\caption{Einfaches neuronales Netz}\label{fig:activation}
|
||||
\end{figure}
|
||||
|
||||
Es bleibt jetzt nur noch dieselbe Berechnung durchzuführen wie mit der Eingabeschicht: Jeder der Werte
|
||||
der verdeckten Schicht wird mit dem entsprechenden Gewicht multipliziert und alle Ergebnisse werden
|
||||
anschließend summiert.
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
\begin{split}
|
||||
0{,}509 \cdot 0{,}3 = 0{,}1527\\
|
||||
0{,}514 \cdot 0{,}5 = 0{,}257\\
|
||||
0{,}509 \cdot 0{,}9 = 0{,}4581
|
||||
\end{split}
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
\begin{split}
|
||||
0{,}1527 + 0{,}257 + 0{,}4581 \approx 0{,}87
|
||||
\end{split}
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
Hier ist das komplett ausgefüllte neuronale Netz für unsere Testperson:
|
||||
|
||||
\begin{figure}[H]
|
||||
\centering
|
||||
\includegraphics{/assets/images/ki-begriffsklaerung/image5.png}
|
||||
\caption{Einfaches neuronales Netz}\label{fig:complete_network}
|
||||
\end{figure}
|
||||
|
||||
\subsection{Fehlerrückführung}
|
||||
|
||||
Man muss einsehen, dass das Resultat, zu dem wir am Ende kamen, absolut zufällig ist.
|
||||
In fast jeder Berechnung wurden Gewichte verwendet, die am Anfang zufällig ausgewählt wurden.
|
||||
Das heißt, wenn ich mich für andere Gewichtung entschieden hätte, käme auch etwas anderes dabei
|
||||
heraus. Und das ist jetzt die Aufgabe, die bevorsteht: die Gewichtung so anzupassen, dass sie
|
||||
zu einem genaueren Ergebnis führt. Dieser Schritt heißt \textbf{Fehlerrückführung}. Man versucht
|
||||
hier den Fehler geringer zu machen. In unserem Fall ist das Ergebnis, das wir erwartet haben, 0.7.
|
||||
Statdessen haben 0.87, was um 0.17 größer als das erwartete Ergebnis. Wenn wir diese Distanz
|
||||
zwischen dem aktuellen und dem erwarteten Ergebnis geringer machen, \textit{trainieren}
|
||||
wir das neuronale Netz.
|
||||
|
||||
Es gibt mehrere Methoden, die Fehlerrückführung durchzuführen. Die einfachste (und die schlechteste
|
||||
für die Praxis, weil sie für ein größeres Netz zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde) wäre, einige der
|
||||
Gewichte zu ändern (man kann dafür wiederum andere zufällige Zahlen von 0 bis 1 verwenden), und
|
||||
alles dann nochmal mit diesen neuen Gewichten berechnet. Wenn man zu einem besseren Ergebnis kommt,
|
||||
kann man versuchen, die Gewichtung weiter anzupassen, bis das Resultat zufriedenstellend ist. Wenn
|
||||
das Ergebnis noch schlechter wird, versucht man dasselbe mit anderen Gewichten.
|
||||
|
||||
Das heißt, die \textbf{Vorwärtspropagation} und \textbf{Fehlerrückführung} werden mehrmals wiederholt,
|
||||
bis das Endresultat ausreichend genau ist. Schließlich ist eine Testperson für das Trainieren des
|
||||
neuronalen Netzes nicht ausreichend. Wenn wir weitere Daten erhalten, können wir sie genauso
|
||||
einsetzen, und den Endwert mit denselben Gewichten für diese neuen Daten berechnen. Dann können
|
||||
wir versuchen, die Gewichtung so anzupassen, dass für die beiden Fälle ein genaueres Ergebnis
|
||||
herauskommt. Dann ziehen wir noch eine dritte Testperson hinzu und so weiter\dots{} Irgendwann haben
|
||||
wir die Gewichtung so gewählt, dass wir damit rechnen können, dass wenn wir dem Netz neue Daten
|
||||
übergeben, wir eine gute Einschätzung für die Endnote bekommen. Es ist kaum möglich mit dem oben
|
||||
aufgeführten Netz. Neuronale Netze sind in der Praxis viel komplexer und haben mehrere verdeckte
|
||||
Schichten, was genauere Anpassung der Gewichte ermöglicht.
|
||||
|
||||
\section{Lernerfolg. Turing-Test}
|
||||
|
||||
Im Zusammenhang mit dem maschinellen Lernen sprechen wir vom Lernerfolg. Allerdings wurde es noch nicht
|
||||
geklärt, was Erfolg in diesem Fall bedeutet.
|
||||
|
||||
Um einen gewöhnlichen Einwand gegen den Erfolg der künstlichen Intelligenz zu erläutern, konstruieren
|
||||
wir ein futuristisches Beispiel, das in einer oder der anderen Form zum Thema vieler Filme der letzten
|
||||
Jahre geworden ist. Sagen wir, die Menschen haben einen Supercomputer entwickelt, dessen künstliche
|
||||
Intelligenz dermaßen fortgeschritten ist, dass er selbst weitere Maschinen entwerfen und produzieren kann.
|
||||
So beginnt eine neue Ära, in der die Maschinen sich selbt ohne die Einmischung des Menschen entwickeln.
|
||||
Schlussendlich wird der Mensch zu einer überholten, schwachen Spezies, deren Existenz nicht mehr förderlich
|
||||
für den weiteren technischen Fortschritt ist, sodass der mächtige Supercomputer sich dazu entscheidet,
|
||||
die menschliche Art auszulöschen. Nun hatte der Supercomputer, der eine solche Macht erlangt hat, alles über
|
||||
die Wissenschaft und Technik gelernt, was der Mensch je hätte lernen können, und diese Kenntnisse noch
|
||||
weiter gebracht hat. Man könnte sich aber fragen, ob der Erfolg des Lernens an der Anzahl der Erkenntnisse
|
||||
gemessen werden kann. In dem aufgeführten Beispiel hat sich die Technik, die der Mensch sich zuhilfe
|
||||
schuf, hatte gegen den Menschen gewendet und so gegen das moralische Prinzip, nach dem das menschliche
|
||||
Leben einen Wert an sich hat, verstoßen.
|
||||
|
||||
Wenn wir also vom Erfolg sprechen, beziehen wir den Erfolg nicht nur auf die eigentliche Tätigkeit (das
|
||||
Erwerben von Erkenntnissen), sondern auch auf das Endresultat --- wie die erworbenen Erkenntnisse angewandt
|
||||
werden. Bei der Bewertung ihrer Anwendung braucht man wiederum eine Ethik, die es ermöglicht, zu beurteilen,
|
||||
ob die Anwendung richtig oder falsch, gut oder böse ist. Man sieht sofort, wie schnell das Problem des Erfolgs
|
||||
sehr komplex und unübersichtlich wird. Ich werde deswegen dafür argumentieren, dass der Erfolg des
|
||||
Lernens nur in dem Sinne des unmittelbaren Erfolgs ohne die Einbeziehung der Konsequenzen verstanden werden
|
||||
muss. Desweiteren werde ich versuchen den Erfolg anhand des Turing-Tests etwas genauer zu bestimmen.
|
||||
|
||||
Alan Turing stand vor einem ähnlichen Problem, als er das, was wir heute Turing-Test nennen, vorgeschlagen
|
||||
hat. Das Lernen, die Suche nach Gesetzmäßigkeiten und die Anwendung des Gelernten und Erforschten sind
|
||||
wichtige Aspekte menschlicher Denktätigkeit. Wenn wir davon sprechen, dass die Computer selbstständig
|
||||
lernen, stellt sich die Frage, ob sie dann auch denken kennen? Um zu sagen, ob die Computer denken
|
||||
können, muss man dann definieren, was das Denken eigentlich ist und dann schauen, ob diese Definition
|
||||
auf die Computersysteme angewandt werden kann.
|
||||
|
||||
Nun ist es aber alles andere als trivial, eine Definition für das Denken zu finden. Das eigentliche Problem
|
||||
besteht aber nicht darin, dass eine solche Definition eine schwierige Aufgabe ist, sondern darin, dass
|
||||
die Angabe einer Definition des Denkens sich sowohl dem Interessenbereich der Technik als auch
|
||||
dem Interessenbereich der Wissenschaft entzieht. Wir verbinden das Denken mit den Gehirnaktivitäten. Aber
|
||||
spielt es für einen Gehirnforscher in seiner wissenschaftlichen Forschung eine Rolle, was das Denken ist?
|
||||
Er kann durchaus eine private Überzeugung haben, dass das, was wir unter dem Denken verstehen, nichts weiter
|
||||
als die Gehirnaktivität ist, oder, dass das, was wir im Gehirn beobachten, nur auf eine bestimmte Weise
|
||||
unser Denken repräsentiert. Aber ob er sich für die erste Möglichkeit, oder für die zweite, oder für eine
|
||||
dritte entscheidet, ist für seine eigentliche wissenschaftliche Forschung von wenig Bedeutung. Auch
|
||||
umgekehrt: Wenn man eines Tages weiß, dass man jede geistige Aktivität auf Gehirnaktivitäten zurückführen
|
||||
kann, bedeutet es, dass ich mich ab dann für einen vollständig von den physikalischen Gesetzen
|
||||
bestimmten Bio-Roboter halte, der keinen eigenen Willen hat?
|
||||
|
||||
Es ist ganz natürlich den Gegenständen menschliche Eigenschaften und Aktivitäten zuzurschreiben:
|
||||
„Der Computer \textit{will} nicht funktionieren“. Natürlich kann es bei einem kaputten
|
||||
Rechner keine Rede vom Willen sein. Das ist bloß eine Redewendung. Aber wenn die Computer viel
|
||||
leistungsfähiger werden, passiert die Zuschreibung viel bewusster, wir fangen an, von ihrer Intelligenz,
|
||||
ihrem Denken oder dem Erfolg ihrer Aktivitäten zu sprechen. Diese Begriffe sind aber in der Sprache sehr
|
||||
oft ambivalent und werden intuitiv verwendet. Deswegen ist es auch problematisch, sie auf andere
|
||||
Gegenstände zu übertragen.
|
||||
|
||||
Um das höchstproblematische Reden vom Denken im Fall der Computer zu vermeiden, hat Alan Turing
|
||||
„The Imitation Game“\autocite[433f]{turing:mind} vorgeschlagen. Dieses Imitationsspiel
|
||||
wird von drei Personen gespielt: einem Mann (A), einer Frau (B) und einem Fragesteller (C), dessen
|
||||
Geschlecht für das Spiel irrelevant ist. Der Fragesteller kennt die beiden anderen Personen A und B
|
||||
nicht und befindet sich in einem anderen Raum. Das Ziel des Spiels für den Fragesteller besteht
|
||||
darin, richtig zu erraten, wer von A und B ein Mann und wer eine Frau ist. Dabei kann der Fragesteller
|
||||
den übrigen Spielteilnehmern Fragen stellen und Antworten auf seine Fragen bekommen. Die Teilnehmer
|
||||
kommunizieren miteinander so, dass der Befragende und die Befragten einander weder sehen noch
|
||||
hören können, zum Beispiel sie könnten einander Texte über das Internet versenden. A und B sind nicht
|
||||
verpflichtet, ehrliche Antworten auf die Fragen zu geben. Die Aufgabe von A ist, dem Befragenden zu
|
||||
helfen, B soll ihn im Gegenteil in die Irre führen.\autocite[433f]{turing:mind}
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
We now ask the question, „What will happen when a machine takes the part of A in this
|
||||
game?“ Will the interrogator decide wrongly as often when the game is played like this
|
||||
as he does when the game is played between a man and a woman? These questions replace our
|
||||
original, „Can machines think?“\autocite[434]{turing:mind}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Das heißt, die Maschine soll die Rolle eines Spielers --- entweder A oder B --- übernehmen. Es gibt
|
||||
keine Frau, keinen Mann und Fragesteller mehr, sondern einen Menschen, eine Maschine und den
|
||||
Fragesteller (menschlich). Wenn es für den Fragesteller genauso schwierig ist, ohne einen direkten
|
||||
Kontakt eine Maschine von einem Menschen zu unterscheiden, wie eine Frau von einem Mann, dann hat
|
||||
die Maschine den Turing-Test bestanden.
|
||||
|
||||
Im Grunde, um den Erfolg des Lernens eines Computersystems zu bewerten, wird hier eine funktionale
|
||||
Beschreibung verwendet. Anstatt nach der Washeit der Dinge zu fragen: Was ist Denken? Was ist Erfolg?
|
||||
Können diese Begriffe auf ein Computersystem angewandt werden?, fragt man, ob und wie gut das System
|
||||
eine bestimmte Funktion ausführen, einen Test bestehen kann. Der Turing-Test scheint mir auch die beste
|
||||
Methode zu sein, um den Erfolg des Lernes eines Computersystems zu bewerten. Vor allem, weil so ein
|
||||
funktionaler Test einen Aufschluss darüber gibt, welche Stufe in der Entwicklung der künstlichen
|
||||
Intelligenz man bereits erreicht hat, und was noch verbessert werden muss, um den Lernerfolg zu
|
||||
vergrößern. Er gibt auch eine Skala an, von der abgelesen werden kann, ob ein Algorithmus bessere
|
||||
Ergebnisse liefert als ein anderer. Dies ermöglicht den technischen Fortschritt und die Verbesserung
|
||||
der Algorithmen. Diese Skala gibt es aber nicht oder sie ist sehr verschwommen, wenn der Lernerfolg eine
|
||||
ethische Perspektive haben soll.
|
||||
|
||||
Was ich hiermit nicht sagen will, ist, dass die Ethik für die Entwicklung der
|
||||
künstlichen Intelligenz unwichtig ist. Es macht nur wenig Sinn sie in die Definition des Lernerfolgs
|
||||
eines künstlichen Systems einzubeziehen. Um so ein System weiter zu entwickeln, braucht man eine
|
||||
technische Definition des Erfolgs, die ermöglicht, die Schwächen dieses Systems aufzuzeigen, an denen
|
||||
noch gearbeitet werden soll. Eine voreilige Einbeziehung einer ethischen Bewertung würde den Fortschritt
|
||||
im Bereich der künstlichen Intelligenz unnötig verkomplizieren und verlangsamen. Eine ethische Bewertung
|
||||
der künstlichen Intelligenz als solchen und dessen, wie sie eingesetzt wird, ist im Gegenteil nützlich
|
||||
und nötig, um die Möglichkeit einer bösartigen Anwendung deren zu verringern.
|
||||
|
||||
Ich meine auch nicht, dass eine ethische Auseinandersetzung der technischen Entwicklung zeitlich
|
||||
folgen soll. Es kann zu spät sein, sich mit etwas auseinanderzusetzen, was schon da ist. Vielmehr sollen
|
||||
die Bereiche des Technischen und Ethischen voneinander getrennt sein. Wenn ein Informatiker oder ein
|
||||
Mathematiker an einem neuen Algorithmus für maschinelles Lernen arbeitet, ist er wahrscheinlich
|
||||
gar nicht daran interessiert, ein künstliches System zu erschaffen, das ihm ermöglicht, die Welt
|
||||
zu beherrschen, womöglich ist er nur an seinem Fach interessiert und will sehen, wie weit man die
|
||||
künstliche Intelligenz bringen kann. Natürlich soll man sich Gedanken darüber machen, was passiert,
|
||||
wenn man den neuen Algorithmus oder die neue Technologie auf den Markt bringt, das darf aber nicht
|
||||
der eigentlichen Forschung im Wege stehen.
|
||||
|
||||
\section{Dritt- und Erstperson-Perspektive}
|
||||
|
||||
Kommen wir auf die Frage „Können die Maschinen denken?“ zurück. Was ist an dieser
|
||||
Frage so problematisch, sodass Alan Turing sie umzugehen suchte, außer dass der Begriff
|
||||
„Denken“ schwierig zu definieren ist. Oder warum ist er schwierig zu
|
||||
definieren? Das Denken für den Menschen ist ein \textit{Erlebnis}, das heißt ich erlebe mich
|
||||
selbst als ein denkendes Wesen. Ich gehe davon aus, dass auch die anderen Menschen sich als
|
||||
denkende Wesen erleben, obwohl ich nicht mit Sicherheit sagen kann, wie sich das Denken eines
|
||||
anderen Menschen für ihn anfühlt, was und wie er denkt. Man denke nur an die Diskussionen, ob
|
||||
Tiere Freude oder Leiden empfinden können, ob sie denken können. Es ist relativ naheliegend,
|
||||
dass andere Menschen denken können, aber es ist nicht klar, ob man das von den anderen Lebewesen
|
||||
behaupten kann. Desto unklarer ist es, wenn man von etwas spricht, was überhaupt kein
|
||||
Lebewesen ist.
|
||||
|
||||
Anstatt der Maschine einen Geist und eine Art Innerlichkeit zuzuschreiben, entwickelt sich aber
|
||||
die Tendenz, den Menschen mechanisch zu verstehen. Wenn Sören Kierkegaard sagt:
|
||||
„Der Mensch ist Geist“\autocite[11]{kierkegaard:krankheit}, so heute ist der Mensch immer
|
||||
öfter sein Gehirn: „In Germany, leading neuroscientists like Wolf Singer and Gerhard
|
||||
Roth are omnipresent in TV and press. They speak of the brain as if they were talking about a
|
||||
person.“\autocite[164]{foerster:neuroturn} Kierkegaards Mensch und sein Geist waren nicht bloß
|
||||
eine immaterielle Substanz, sondern vielmehr eine Synthese „aus Unendlichkeit und Endlichkeit,
|
||||
aus dem Zeitlichen und dem Ewigen, aus Freiheit und
|
||||
Notwendigkeit, [\dots]“\autocite[11]{kierkegaard:krankheit} Ob die Beschreibung des Menschen
|
||||
als Gehirn genauer zutrifft, ist fraglich. Yvonne Förster in ihrem Artikel „Effects of the
|
||||
Neuro-Turn: The Neural Network as a Paradigm for Human Self-Understanding“ macht darauf
|
||||
aufmerksam, dass obwohl bei der Erforschung des Gehirns nur die Drittperson-Perspektive in die Betrachtung
|
||||
einbezogen wird, eine Verschiebung der Terminologie von der Philosophie zu den Neurowissenschaften
|
||||
stattfindet:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
While phylosophy works with concepts, experience, reflection, and linguistic
|
||||
description, neuroscience, on the other hand, uses these philosophical terms within
|
||||
a third-person framework of observation, imaging techniques, and
|
||||
measurements.\autocite[163]{foerster:neuroturn}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Eine Reihe von Begriffen, wie der freie Wille oder das Bewusstsein, für die die Innenperspektive
|
||||
unentbehrlich ist, werden aus der Drittperson-Perspektive beurteilt und beschrieben.
|
||||
Doris Nauer spricht auch davon, dass bei der Erforschung geistiger Funktionen
|
||||
„NaturwissenschaftlerInnen zunehmend die Interpretationsgrenzen rein naturwissenschaftlicher
|
||||
Forschung überschreiten“.\autocite[35]{nauer:seelsorge}
|
||||
Außerdem merkt Förster an, dass die Neurowissenschaften keinen direkten Zugang auch zum Gehirn oder den
|
||||
Neuronen selbst haben, vielmehr arbeiten sie mit Modellen:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
The neural gains its visibility only via technology. The process of making the neural visible is
|
||||
not a simple representation of something otherwise hidden. Rather it is a production of images by
|
||||
means imaging techniques. What we get to see is not the inside of our skull, not copies of our
|
||||
neurons, but reconstructions modeled according to a certain set of rules of computation. The neural
|
||||
net as we know it from neuroscientific imagery is not a photograph of brain parts. It is deeply
|
||||
technological mediated.\autocite[172]{foerster:neuroturn}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Das Selbstverständnis des Menschen und das Verständnis der Maschine und der künstlichen Intelligenz sind
|
||||
voneinander abhängig. Wenn wir die Maschinen konstruieren, die selbst lernen und vielleicht denken können,
|
||||
und so den Menschen nachahmen, lernen wir auch etwas über die menschlichen Denkprozesse und dem
|
||||
Zusammenhang zwischen dem Bewusstsein und dem Gehirn. Andererseits um
|
||||
zu entscheiden, ob die Maschinen denken oder ein geistiges Leben haben können, ist unser Menschenbild
|
||||
wichtig, weil es von ihm abhängt, ob sich das, was wir unter dem Menschen verstehen, auf die Maschine
|
||||
übertragen lässt.
|
||||
|
||||
\section{Zum Begriff der Intelligenz}
|
||||
|
||||
Eine der Fragen, die sich noch stellen, ob wir im Falle der künstlichen Intelligenz überhaupt von
|
||||
der \textit{Intelligenz} sprechen kann, wie wir von der menschlichen sprechen. Ich möchte von vornherein
|
||||
sagen, dass diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist. Von einem Menschen zu sagen, er sei intelligent,
|
||||
ist nicht dasselbe, wie zu sagen: „Zwei ist eine gerade Zahl“.
|
||||
|
||||
Erstens, je nachdem wer das Wort „intelligent“ sagt, kann man darunter unterschiedliche
|
||||
Eigenschaften meinen. Für einen mag intelligent derjenige sein, der über viele Fachkentnisse in
|
||||
einem bestimmten Bereich verfügt. Für einen anderen ist es der, der allgemein gebildet ist und nicht
|
||||
nur in bestimmten Bereichen. Für den dritten spielen die erworbenen Kenntnisse überhaupt eine geringere
|
||||
Rolle, viel wichtiger, um intelligent zu sein, sei es, schlau zu sein, schnell die Lösungen für die
|
||||
auftretenden Probleme zu finden.
|
||||
|
||||
Zweitens hängt die Antwort auf die Frage, ob man so eine Eigenschaft wie „Intelligenz“
|
||||
auf eine Maschine übertragen kann, sehr stark von anthropologischen Ansichten der jeweiligen Person.
|
||||
Ist der Mensch selbst wahrscheinlich nichts weiter als eine Art von der Natur erschaffener Roboter?
|
||||
In diesem Fall kann wohl auch eine vom Menschen konstruierte Maschine Intelligenz haben. Wenn der Mensch
|
||||
dagegen ein geistiges Wesen ist, das nicht vollständig durch physikalische Gesetze determeniert ist,
|
||||
dann ist es qualitativ etwas anderes als eine Maschine und man könnte argumentieren, dass deswegen bestimmte
|
||||
Eigenschaften wie Intelligenz nur dem Menschen zugeschrieben werden können.
|
||||
|
||||
Der Stand der Entwicklung rechtfertigt nicht immer die Anwendung des Begriffes „Intelligenz“
|
||||
im Bezug auf die Maschinen. Bereits heutige Computer sind in bestimmten Bereichen
|
||||
intelligenter als die Menschen. Zum Beispiel kann jeder der heutigen Prozessoren (oder CPU,
|
||||
\textbf{C}entral \textbf{P}rocessing \textbf{U}nit) einfache Berechnungen, wie Multiplizieren,
|
||||
Dividieren, Addieren oder Substrahieren, vielfach schneller durchführen als ein Mensch. Und diese
|
||||
Fähigkeit besitzten bereits die Computer der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als die künstliche
|
||||
Intelligenz noch nicht so verbreitet war. Schnelles Rechnen kann auch ein Merkmal der Intelligenz sein.
|
||||
Und doch spricht man von der künstlichen Intelligenz meistens in Bezug auf maschinelles Lernen. Dies zeigt,
|
||||
dass wenn man von intelligenten Maschinen spricht, meint man eine bestimmte Art von der Intelligenz, und
|
||||
zwar meint man die Maschinen, die das Können besitzen, nicht nur die einprogrammierten
|
||||
„Kenntnisse“ anzuwenden, sondern auch neue Erkenntnisse selbstständig zu gewinnen. Das heißt
|
||||
Intelligenz knüpft hier an die \textit{schöpferische} Kraft des Menschen, an die Kraft etwas neues
|
||||
zu \textit{erschöpfen}. Natürlich ist es nicht dasselbe wie Erschaffen eines Kunstwerkes oder eines
|
||||
Musikstückes, weil das, was erkannt wird, schon da ist, es nicht aus Nichts geschaffen wird. Und doch
|
||||
ist auch das Gewinnen der Erkenntnisse aus der Erfahrung, die vorher nicht waren, ist das Gewinnen von
|
||||
etwas \textit{neuem}, also ein schöpferischer Vorgang. Und dieser Übergang zwischen einer die Befehle
|
||||
ausführenden und einer lernenden Maschine ist wohl die Grenze, ab der die Maschinen
|
||||
\textit{intelligent} werden.
|
||||
|
||||
Wie weit die künstliche Intelligenz reicht oder reichen kann, lässt sich noch nicht sagen. Wir haben
|
||||
noch keine Roboter, die malen, Romane oder Lieder schreiben oder physikalische Gesetze entdecken. Wie
|
||||
am Beispiel mit dem neuronalen Netz gezeigt wurde, geht es bei maschinellem Lernen um das Erkennen
|
||||
bestimmter Muster in der Eingabedaten. Falls so ein Muster tatsäschlich erkannt wurde, dann können anhand
|
||||
dessen auch neue Daten ausgewertet werden. Dem lernenden System geht es nicht um die Forschung oder die
|
||||
Suche nach der Wahrheit. Und hier ist es nicht mal wichtig, was Wahrheit ist, und ob es sie gibt. Wenn
|
||||
ein Schriftsteller schreibt, sehnt er oft aus dem tiefsten seines Herzens, seinen Lesern etwas
|
||||
mitzuteilen, seine Wahrheit zu verkünden. Auch ein Forscher kann von diesem Gefühl bewegt werden,
|
||||
selbst wenn seine Theorie sich später als falsch erweist, hat er versucht, etwas Wahres zu entdecken.
|
||||
Ein lernendes System hat überhaupt keinen Sinn für die Wahrheit. Es wurde programmiert, um Muster in
|
||||
den Daten zu erkennen und das tut es. Wenn ich weiß, wie ein System aufgebaut ist, kann ich es von
|
||||
vornherein mit manipulierten Daten füttern, sodass es etwas falsch lernt, und es wird sich nicht
|
||||
betrogen fühlen. Wobei ich zugeben muss, dass es auch einem Menschen passieren kann, dass er sich
|
||||
auf falsche, falsch ausgewählt Daten, stützt, und deswegen zu inkorrekten Ergebnissen gelangt.
|
||||
|
||||
Die Mustererkennung ist wichtig auch für das menschliche Überleben. Allerdings vermag der Mensch auch
|
||||
abstrakt zu denken. Es gibt zum Beispiel in der Natur keine Zahlen, es gibt nur abzählbare Gegenstände.
|
||||
Man muss sich von den einzelnen Gegenständen beziehungsweise ihrer endlichen Anzahl abstrahieren können,
|
||||
um auf die unendliche Menge von natürlichen Zahlen kommen. Diese Fähigkeit zum abstrakten Denken ist etwas,
|
||||
was den Menschen gegenüber den Maschinen immer noch auszeichnet.
|
||||
|
||||
\section{Grenzen der Anwendung von maschinellem Lernen}
|
||||
|
||||
Zwar ist die künstliche Intelligenz zum selbstständigen Lernen fähig, ist kein selbstständiges
|
||||
Lebewesen wie der Mensch, sondern nur ein Instrument unter vielen anderen.
|
||||
|
||||
Nehmen wir an, wir wollen quadratische Gleichungen in der Normalform lösen:
|
||||
|
||||
\begin{equation}
|
||||
x^2 + px + q = 0
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
Dafür beabsichtigen wir ein Programm zu schreiben, das die 2 Parameter, $p$ und $q$, als
|
||||
Eingabewerte annimmt und die Gleichung nach $x$ auflöst. Man kann diese Aufgabe durchaus mithilfe der
|
||||
künstlichen Intelligenz lösen. Wir entwerfen ein neuronales Netz, das zwei Neuronen in der
|
||||
Eingabeschicht und zwei in der Ausgabeschicht hat. Dann lösen wir einige Tausende solcher Gleichungen
|
||||
selbst und übergeben die Eingaben und die Lösungen dem Netz, damit es aus diesen Daten lernen kann.
|
||||
Dann testen wir, ob das Netz nun selbst richtige Antworten produzieren kann. Wenn es nicht der Fall
|
||||
sein soll, bereiten wir weitere Angaben und Lösungen vor. Irgendwann haben wir das neuronale Netz
|
||||
ausreichend trainiert, sodass es jetzt selbst solche Gleichungen lösen kann.
|
||||
|
||||
Eigentlich wissen wir aber, wie man eine quadratische Gleichung löst. Genauso gut könnten wir den folgenden
|
||||
Algorithmus in einem Programm implementieren:\autocite[Vgl.][10f]{lothar:math}
|
||||
|
||||
\begin{enumerate}
|
||||
\item Berechne die Diskriminante $D$:
|
||||
\begin{equation}
|
||||
D = {(p/2)}^2 - q
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\item Wenn $D \geq 0$ ist, gibt es zwei reelle Lösungen:
|
||||
\begin{equation}
|
||||
x_{1/2} = -\frac{p}{2} \pm \sqrt{D}
|
||||
\end{equation}
|
||||
|
||||
\item Wenn $D < 0$ ist, gibt es zwei konjugiert komplexe Lösungen:\autocite[Vgl.][676]{lothar:math}
|
||||
\begin{equation}
|
||||
x_{1/2} = -\frac{p}{2} \pm j \cdot \sqrt{\left|D\right|}
|
||||
\end{equation}
|
||||
\end{enumerate}
|
||||
|
||||
Der Aufwand, dieses Programm, zu schreiben ist viel geringer als die Variante mit der künstlichen
|
||||
Intelligenz. Was noch viel wichtiger für ein Programm, das mathematische Berechnungen durchführt, ist,
|
||||
ist, dass wir wissen, dass, wenn der Algorithmus korrekt implementiert ist, er richtige Ergebnisse
|
||||
liefert. Im Falle des neuronalen Netzes ist es nicht so. Wenn das neuronale Netz komplex genug ist,
|
||||
können wir nicht mehr nachvollziehen, wie eine bestimmte Berechnung durchgeführt wird, das heißt, wir
|
||||
können nicht überprüfen, ob der Algorithmus für alle Paare $p$ und $q$ das richtige Ergebnis liefert.
|
||||
Für die Anwendungsfelder des maschinellen Lernens ist eine solche Genauigkeit auch nicht unbedingt
|
||||
erforderlich. Wenn ein soziales Netzwerk setzt künstliche Intelligenz ein, um gezielte Werbung
|
||||
anzuzeigen, dann ist es durchaus vorteilhaft, wenn die Werbung den Nutzer anspricht, aber es ist immer
|
||||
noch zulässig, wenn die Wahl der Werbung nicht optimal ist. Es genügt, wenn die Werbung
|
||||
\textit{interessant genug} für den Nutzer ist, oder dass ein gewisser Profit durch sie erreicht wird.
|
||||
|
||||
Künstliche Intelligenz ist keine universelle Lösung für alle Probleme. Sie ist sehr nützlich für
|
||||
die Auswertung von großen Mengen an Daten und für die Suche nach Mustern in diesen, aber ist noch
|
||||
nicht fähig abstrakte, e\@.g\@. mathematische Probleme zu lösen.
|
||||
|
||||
\section{Fazit}
|
||||
|
||||
Über viele Fragen lässt es heute nur spekulieren. Können die Maschinen alle Tätigkeiten ausüben, die
|
||||
die Menschen ausüben? Sind sie eine neue Evolutionsstufe, sodass sie die Menschen eines Tages
|
||||
verdrängen und überflüssig machen? Oder werden die Maschinen und Menschen weiterhin friedlich
|
||||
coexistieren? Einige Autoren versuchen bereits diese Fragen zu beantworten. Ich wage heute noch nicht,
|
||||
auf sie eine Antwort zu geben. Schließlich ist die Entwicklung der Wissenschaft und der Technik
|
||||
auch von einer Reihe von sozialen, politischen und wirtschaflichen Faktoren mitbestimmt.
|
||||
|
||||
Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen ist ein junges Konzept, dem viel Aufmerksamkeit von
|
||||
verschiedenen Siten geschenkt wird. Die Technik und Informatik sind daran interessiert, weil es ermöglicht
|
||||
neue, selbst „denkende“ Programme zu schreiben; Naturwissenschaften hoffen durch künstliche
|
||||
auch die menschliche Intelligenz besser zu verstehen; man sieht auch Potenzial, den Menschen noch mehr
|
||||
vom Last der Arbeit zu befreien, aber man warnt auch vor den Gefahren der Verselbständigung der
|
||||
Computertechnik oder deren Missbrauch. Naturwissenschaftliche Forschung hatte schon fatale Folgen, sie
|
||||
ermöglichte zum Beispiel eines Tages die Erschaffung der Atomwaffen, was vielen unschuldigen Menschen
|
||||
ihr Leben kostete. Doch sie hat auch einen soliden Beitrag zur modernen Medizin und Technik geleistet,
|
||||
auf die wir uns jeden Tag verlassen. Um die künstliche Intelligenz scheint es ähnlich zu stehen: Es ist
|
||||
ein kontroverses Thema.
|
Reference in New Issue
Block a user