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date: 2015-01-25 05:22:00
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tags: Übersetzung
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title: Zum 77. Geburtstag von W. Wyssozki
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teaser: |
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Wyssozki sang uns mal mit Kraft,<br>
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wie's in den Bars und Kirchen.<br>
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Dass er nicht mehr gesehen hat,<br>
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wie Menschen heute stinken!
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Ich sag' euch: Sein Zigeunerlied... kann ich ewig hören.<br>
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Nichts ist so, so wie es soll! Das kann ich, Freunde, schwören.
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Wyssozki sang uns mal mit Kraft,\\
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wie’s in den Bars und Kirchen.\\
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Dass er nicht mehr gesehen hat,\\
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wie Menschen heute stinken!
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Ich sag’ euch: Sein Zigeunerlied… kann ich ewig hören.\\
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Nichts ist so, so wie es soll! Das kann ich, Freunde, schwören.
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\textit{Juri Julianowitsch Schewtschuk (DDT)}
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Es mag sein, dass ich bei der Übersetzung den Akzent von einer bedauernswerten
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Situation zu sehr auf die Menschen verschoben habe, aber sie sind schließlich
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das, worum es Wyssozki so oft geht.
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layout: post
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date: 2015-04-22 04:06:00
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tags: Aufsatz
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title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 1. Die Geburt der Tragödie
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teaser: |
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Wie soll man mit einer Welt, aus der Gott ausgetrieben wurde und die Idee
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einer sinnvollen Schöpfung erschüttert wurde, zurechtkommen? Wie soll man
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das Leben in einer säkularisierten, von jeglichem Sinn befreiten Welt
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ertragen, in einer Welt voller Grausamkeit, Demütigung, Verrat und Leid, in
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einer Welt, wo alles Leben zum sinnlosen Sterben verurteilt ist? Auf der
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Suche nach einer Antwort gelangt Nietzsche zur Kunst. In der Kunst offenbart
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sich die menschliche Schaffenskraft, vielleicht kann sie einen wesentlichen
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Beitrag zum Leben leisten.
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\subsection{Einleitung}
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\epigraph{%
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[D]ie Kunst ist lang,\\
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Und kurz ist unser Leben.}
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{\textbf{Faust I\\Johann Wolfgang von Goethe}\footcite[20]{faust}}
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Heutzutage wird oft und intensiv über die Fortschritte der Wissenschaft
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gesprochen. Vieles, ohne was der moderne Mensch sein Leben nicht mehr vorstellen
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kann, verdankt er den wissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Zeit. Die
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Technik, die entwickelt wird, soll mehr Komfort in die Existenz des modernen
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Menschen bringen, sein Leben einfacher, erträglicher machen. Wenn man einen
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Blick in die Vergangenheit wirft, kann man sich schwer vorstellen, wie man vor
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einiger Zeit ohne Elektrizität und Maschinen leben konnte. Armut und schwere
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Arbeiten scheinen das Joch zu sein, unter dem das Leben zum Leid wird. Die
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industrielle Entwicklung, Instrumentalisierung der Forschungsergebnisse,
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Erschaffung der Maschinen haben dazu verholfen, dass diese Probleme gelöst
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wurden und das Leben auf ein anderes Niveau erhoben wurde.
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In Friedrich Nietzsches Aufzeichnungen aus den Jahren 1882–1883 findet sich
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ein Satz, der einen wissenschaftlichen Fortschritt zu einem Rückschritt macht:
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„Der wissenschaftliche Mensch hat Ein Loos mit dem Seildreher: er spinnt seinen
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Faden länger, geht aber dabei selber — rückwärts.“\footcite[105]{nietzsche:fragmente}
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Man bekommt den Eindruck, dass diese Aussage der Erfahrung unserer Zeit blind
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widerspricht. Wenn man jedoch das menschliche Glück nicht auf einen materiellen
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Luxus reduziert und in die Tiefe des menschlichen Seins schaut, wird man
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feststellen müssen, dass die eigentliche Problematik des menschlichen Seins von
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der Wissenschaft nicht einmal berührt wird. Die Tatsache, dass manche Mitglieder
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moderner Gesellschaften psychologische Unterstützung brauchen oder sich sogar
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das Leben nehmen, zeigt eine tiefe Verzweiflung dieser Menschen am Leben, die
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zwar nicht immer gleich zu sehen ist, über die man aber nicht einfach
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hinwegschauen kann. Einem scheint etwas zu fehlen, ein Ziel, für welches man
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kämpfen kann. Wissenschaft kann aber diese geistliche Lücke nicht mit Inhalt
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füllen. Wissenschaftliche Erkenntnis ist negativer Natur, die erschafft nichts
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Neues, sondern strebt an, das Vorhandene, die bereits gegebene Welt, zu
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analysieren. Es wird nichts Positives, absolut Neues erschaffen. Was aber ein
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Mensch braucht, um seine Existenz als sinnvoll zu erfahren, ist etwas Neues, ein
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Lebenssinn, etwas, was nicht in der materiellen Gegebenheit gefunden werden kann.
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Was die Sinngebung betrifft, kann man deswegen, wenn auch nicht von einem
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Rückschritt sprechen, so doch sagen, dass die Wissenschaft sich in dieser
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Hinsicht nicht von der Stelle rührt. Eine solche existenzielle Problemstellung
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kann aber philosophisch angegangen werden, da man philosophische Fragestellungen
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nicht auf die wissenschaftlichen reduzieren kann. Nietzsche sieht die Versuche,
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die seit Kant unternommen werden, Philosophie nur als eine Wissenschaft zu
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verstehen, als eine Fehlentwicklung. So nimmt er 1884 Bezug auf die deutsche
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Universitätsphilosophie: „Wenn Kant die Philosophie zur ‚Wissenschaft‘ reduzieren
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wollte, so war dieser Wille eine deutsche Philisterei: an der mag viel Achtbares
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sein, aber gewiß noch mehr zum Lachen.“\footcite[133]{nietzsche:fragmente}
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Dieses Verhältnis von der Philosophie und Wissenschaft wird sehr oft auf den
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Kopf gestellt: Alles Philosophieren sei ein sinnloses Unternehmen, Philosophie
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beschäftige sich mit Fragen, die nicht beantwortet werden können, es gebe seit
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mehr als zwei Jahrtausenden keinen Fortschritt. Klaus Kornwachs schreibt:
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„Philosophie stellt seit zwei Jahrtausenden Fragen und die Antwortversuche
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stellen ihre Geschichte dar.“\footcite[7]{kornwachs:technik}Und die
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gestellte Frage ist bereits ein Schritt nach vorne.
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Friedrich Nietzsche war sich dieser existenziellen Problematik sehr wohl bewusst,
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ihm war es auch klar, dass für die von der Wissenschaft entzauberte Welt die
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bisherigen Antwortversuche nicht mehr zufriedenstellend waren. Im Herbst 1881
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ruft er aus: „Wie tief-fremd ist uns die durch die Wissenschaft entdeckte
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Welt!“\footcite[97]{nietzsche:fragmente} Wie soll man mit einer Welt, aus
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der Gott ausgetrieben wurde und die Idee einer sinnvollen Schöpfung erschüttert
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wurde, zurechtkommen? Wie soll man das Leben in einer säkularisierten, von
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jeglichem Sinn befreiten Welt ertragen, in einer Welt voller Grausamkeit,
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Demütigung, Verrat und Leid, in einer Welt, wo alles Leben zum sinnlosen Sterben
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verurteilt ist?
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Auf der Suche nach einer Antwort gelangt Nietzsche zur Kunst. Er bemüht sich
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sogar aus seinem eigenen Leben ein Kunstwerk zu erschaffen: „Der junge Nietzsche,
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der auf der inneren Bühne der Tagebücher dem eigenen Leben Bedeutung verleihen
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möchte, bewundert jene Genies, die nicht nur nach innen, sondern auch fürs
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Publikum zu Darstellern ihres Selbst, zu Autoren des eigenen Lebens werden
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konnten.“\footcite[25]{safranski:biographie} In der Kunst offenbart sich
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die menschliche Schaffenskraft, vielleicht kann sie einen wesentlichen Beitrag
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zum Leben leisten.
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Nietzsches Haltung zur Kunst war im Laufe seines Lebens bei weitem nicht
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konstant. Er revidierte und entwickelte seine Ansichten weiter. Alles fängt
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dennoch mit dem am 2. Januar 1872\footcite[Vgl.][11]{ries:geburt}
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erschienenen Buch „Die Geburt der Tragädie aus dem Geiste der Musik“ an, das
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„innerhalb seines Gesamtwerkes eine herausragende
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Position“\footcite[11]{ries:geburt} einnimmt.
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\subsection{Die Geburt der Tragödie}
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Im Bezug auf „Die Geburt der Tragödie“ spricht Wiebrecht Ries von der Geburt
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Nietzsches Philosophie, die sich in diesem Buch ereignet.\footcite[7]{ries:geburt}
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Es ist aber bemerkenswert, dass das kein philosophisches Werk, sondern ein
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philologisches ist. Nietzsche wurde früh ohne Promotion und Habilitation als
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Professor für klassische Philologie berufen und hatte die Absicht, mit einer
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schriftlichen Arbeit zu beweisen, dass er seine Berufung verdient
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hat.\footcite[Vgl.][52]{safranski:biographie} Trotzdem scheint Nietzsche sich
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mit der Zeit immer mehr der Philosophie zuwenden zu wollen. So bewirbt er sich
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vermutlich im Jahre 1871 um Lehrstuhl für Philosophie in
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Basel.\footcite[Vgl.][183]{hayman:biographie} Diese innere Spannung, in der
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er sich damals befand, spiegelt sicht auch in der „Geburt der Tragödie“ wider.
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So, während Ronald Hayman hervorhebt, dass das Werk „unbestritten brillant“ sei,
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charakterisiert er es zugleich als „die Mischung von Philosophie und
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dichterischen Parodoxon mit der klassischen Philologie“.\footcite[183]{hayman:biographie}
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Nicht nur Nietzsches Kritiker heben die Bedeutung der „Geburt der Tragödie“
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hervor,\footcite[Vgl.][12]{ries:geburt} sondern auch Nietzsche
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selbst kommt in seinen späteren Jahren immer wieder auf sein Erstlingswerk
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zurück. 1886 läßt er eine zweite Ausgabe erscheinen, wobei wenn die
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ursprüngliche Überschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“
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lautete, die Neuausgabe mit dem Titel „Die Geburt der Tragödie. Oder:
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Griechenthum und Pessimismus“ versehen wurde.\footcite[Vgl.][326]{groddeck:geburt-in-ecce}
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Außerdem wurde der zweiten Ausgabe noch eine Vorrede, die mit „Versuch der
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Selbstkritik“ betitelt wurde, vorangestellt.\footcite[Vgl.][11--22]{nietzsche:geburt}
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Eine weitere Reflexion Nietzsches über sein Frühwerk findet man in „Ecce homo“
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im Kapitel „Die Geburt der Tragödie“.\footcite[Vgl.][309--315]{nietzsche:ecce-homo}
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Unabhängig davon, wie man diese Bezugnahmen Nietzsches auf seine erste Schrift
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bewertet, scheint sie für ihn niemals ganz an Bedeutung verloren zu haben.
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Wie der Titel des Buches unschwer erraten lässt, handelt es sich um die Geburt
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beziehungsweise Entstehung der Tragödie und zwar der griechischen. Nietzsche
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greift aus der griechischen Mythologie zwei Gottheiten heraus, die zwei
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grundlegende Mächte des Seins symbolisieren, und entwickelt seine Theorie von
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dem Aufstieg und Niedergang der attischen Tragödie: „An ihre [der Griechen]
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beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, dass
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in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen,
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zwischen Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der
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Musik, als der des Dionysus, besteht“.\footcite[25]{nietzsche:geburt}
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\subsubsection{Zwei Vorträge über die griechische Tragödie}
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„Die Geburt der Tragödie“ ist nicht die erste Arbeit, in der sich Nietzsche mit
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dem dort behandleten Themenspektrum auseinandersetzt. 1870 hat Nietzsche zwei
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Vortrage in Baseler Museum gehalten: einen am 18. Januar über „Das griechische
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Musikdrama“ und den anderen am 1. Februar über „Socrates und die griechische
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Tragödie“.\footcite[Vgl.][29 f]{ries:geburt} „In ihnen ist die
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Gesamtkonzeption der Tragödienschrift bereits vorgebildet, die Entstehungs- und
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Verfallstheorie der Tragödie im Rahmen des Verhältnisses von Kunst und
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Kultur.“\footcite[29]{ries:geburt}
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Im Vortrag „Das griechische Musikdrama“ entwickelt Nietzsche in Anlehnung an ein
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Werk der zeitgenössischen Altphilologie, „Geschichte der griechischen Literatur“
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von Karl Otfried Müller, die Auffassung, dass die griechische Tragödie aus dem
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Dionysoskult entstanden ist. Dionysische Feste treiben die feiernden Menschen
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bis zum Exzess, ins Maßlose, sodass principium individuationis durchbrochen wird
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und der Mensch sich als Individuum in der Menge verliert und sich in ihr auflöst.
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Wie in einem ekstatischen Rausch glauben die dionysischen Schwärmer, die dieses
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Ganze, diese verschmolzene Einheit bilden, dieselben Visionen zu sehen. Am Ende
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eines Festes kommt allerdings die Zeit, dass alle wieder ihre alte Gestalt
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annehmen. Und für dieses Stadium hatte der Grieche die Tragödie nötig, die das
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Ritual war, das den Übergang in die Vereinzelung weniger gefährlich
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machte.\footcite[Vgl.][52 f]{safranski:biographie}
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Der oben geschilderte Vorgang dionysischer Feste ist die Grundlage oder Urbild
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dessen, was im griechischen Musikdrama geschieht. Nietzsche sieht die
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Festlichkeit als Bestandteil der Kunst überhaupt, so notiert er 1880:
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\begin{quote}
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„Einstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das
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Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk
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überhauptausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der
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ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch
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sind.“\footcite[58]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Das entscheidende Element des attischen Theaters ist der Chor, der ursprünglich
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der Satyrchor war. Während die Helden, die den dionysischen Schwärmern entstammen,
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auf der Bühne untergehen, bleibt der Chor immer bestehen, sodass die Helden als
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eine Vision des Chors vorgestellt werden. Das Singen des Satyrchors, die Musik,
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erzeugt also die Stimmung eines dionysischen Festes, in der die Menschen
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miteinander verschmelzen, und auch das Publikum wird von der Gewalt der Musik
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verschlungen. Die Protagonisten lösen sich aus dem Chor und, indem sie als
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Einzelne auftreten, erzeugen sie „lebende
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Dissonanz“,\footcite[Vgl.][54]{safranski:biographie} wonach sie wieder im Chor aufgehen.
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Das wesentliche Element der griechischen Tragödie sieht Nietzsche demzufolge in
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der Musik. Rüdiger Safranski bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Tragödie
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das Verhältnisbvon Musik und Wort symbolisiert: „Das Wort ist Mißverständnissen
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und Fehldeutungen preisgegeben, es kommt nicht aus dem Innersten und es reicht
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nicht bis dorthin.“\footcite[54]{safranski:biographie} Es ist also
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die Musik, die uns die Erkenntnis über die innersten Strukturen der Welt
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erschließt und nicht das Wort, nicht der Logos. Der Protagonist, der mit Worten
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operiert, geht im singenden Chor auf. Aus diesem Gedanken über die Macht der
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Musik über dem Wort fließt unmittelbar die Idee des zweiten Vortrages über
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„Socrates und die griechische Tragödie“. Sokrates war bekanntlich derjenige, der
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den Menschen den Glauben eingepflanzt hat, dass die Welt intelligibel ist, dass
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man die Wirklichkeit rational erkennen und erforschen kann. Die Vorstellung, die
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man vom Sein hat, wird viel oberflächlicher, das Unbewusste wird ausgegrenzt,
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man taucht nicht mehr in die Seinsabgründe, sondern man begnügt sich mit
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ausgedachten Begriffen, die darauf angewendet werden. Der Optimismus bahnt sich
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den Weg, die Hoffnung, das die dunklen Lebensmächte sich rational aufhellen und
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dann lenken lassen. „Denken und Sein sind keinesfalls dasselbe. Das Denken muß
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unfähig sein, dem Sein zu nahen und es zu packen.“\footcite[20]{nietzsche:fragmente}
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Diese Vereinfachung des Weltbildes beeinflusst unmittelbar die Tragödie. Sie
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wird dem Tod überlassen. Am Ende des Vortrages erwähnt Nietzsche allerdings,
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dass die Tragödie wiedergeboren werden kann.\footcite[Vgl.][55 f]{safranski:biographie}
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Wenn der erste Vortrag sich noch in Grenzen der damaligen altphilologischen
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Forschung bewegt, so ist der zweite, der nahezu vollständig in die „Geburt der
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Tragödie“ übernommen wurde,\footcite[Vgl.][30]{ries:geburt} für
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die Altphilologie so provokativ, dass Nietzsche sich bemüht, dass sein Lehrer
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Friedrich Ritschl, dem er seine erste Professur verdankt,\footcite[Vgl.][137 f]{hayman:biographie}
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nichts von dem Vortrag erfährt.\footcite[Vgl.][55]{safranski:biographie}
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\subsubsection{Schopenhauer und Wagner}
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Aus zwei Vorarbeiten zur „Geburt der Tragödie“ lässt es sich auf zwei Figuren
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schließen, deren Einfluss auf die frühen Einsichten Nietzsches, was die Kunst
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betrifft, maßgeblich war. Es sind Arthur Schopenhauer und Richard Wagner.
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Die zentrale Unterscheidung der nietzscheanischen Metaphysik zwischen dem
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Apollinischen und dem Dionysischen geht auf Arthur Schopenhauer zurück, genauer
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gesagt auf sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, das Nietzsche
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fast zufällig, vermutlich Ende Oktober 1865, kennenlernte.\footcite[Vgl.][99 f]{hayman:biographie}
|
||||
Er übernimmt Schopenhauers Ideen, modifiziert sie und formt sie um. Was
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||||
Nietzsche das Dionysische nennt, ist der Wille bei Schopenhauer; das Apollinische
|
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ist die Vorstellung.\footcite[Vgl.][17 f]{ries:geburt} Nach
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Schopenhauer ist der Wille, genauso wie das dionysische Element bei Nietzsche,
|
||||
eine absolute Einheit und absolute Negativität, weil er der unvernünftige Grund
|
||||
der Welt ist, der im ewigen Werden und so die Ursache alles Leidens
|
||||
ist.\footcite[Vgl.][19]{schulz:function-and-place}Die reinen Formen der
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||||
Sinnlichkeit, Raum und Zeit im Zusammenspiel mit der Kategorie der Kausalität
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verursachen, dass das Seiende in einzelne Gestalten zerfällt und als eine
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||||
objektive Welt vorgestellt wird.\footcite[Vgl.][1]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||||
Daher ist die Bezeichnung „Vorstellung“.
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||||
Auch die hohe Schätzung der Kunst und besonders der Musik findet man bei Schopenhauer
|
||||
wieder. Schopenhauer greift auf den platonischen Begriff der Idee zurück. Die Ideen
|
||||
sind jedoch nicht in einem ideellen Reich verankert, sondern sie werden in der Kunst
|
||||
erst erzeugt. So erschafft die Kunst eine andere Welt, die eine gewisse Ruhe vom Werden
|
||||
aufweist.\footcite[Vgl.][19 f]{schulz:function-and-place} Die Musik nimmt eine Sonderstellung
|
||||
in diesem Modell ein. Sie rührt an das Wesen des Seins. Sie hat den gleichen Wert
|
||||
wie die erscheinende Welt selbst. Wenn ein malerisches Kunstwerk „sekundäre“ Qualität
|
||||
hat, da es nur die Abbildung einer Erscheinung, der Welt, ist, hat die Musik den gleichen
|
||||
Rang mit der erscheinenden Welt, weil die Musik die Abbildung des Wesens der Welt,
|
||||
des Willens, selbst ist.\footcite[Vgl.][231]{boening:metaphysics-art-lang} Nietzsche
|
||||
misst der Musik allerdings noch mehr Bedeutung bei, als dies Schopenhauer tut, denn
|
||||
sie wird bei dem Ersteren nicht bloß als „‚Quietiv‘, sondern \textit{Stimulans}
|
||||
des Lebens“\footcite[18]{ries:geburt} verstanden.
|
||||
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||||
Seit 1868 kannten Nietzsche und Wagner einander persönlich.\footcite[Vgl.][523]{hayman:biographie}
|
||||
Schopenhauer war gewissermaßen ein Bindeglied zwischen diesen beiden, da Wagner auch
|
||||
von der schopenhauerschen Philosophie inspiriert war, und zwar lebenslang, im Gegensatz
|
||||
zu Nietzsche, der sich mit der Zeit sowohl von Schopenhauer als auch von Wagner distanzierte.\footcite[Vgl.][20]{ries:geburt}
|
||||
Wenn Nietzsche am Ende seines Vortrages über Sokrates, der die Schuld daran trägt,
|
||||
dass die griechische Tragödie zugrunde geht, eindeutet, dass die Hoffnung auf die
|
||||
zweite Geburt oder Wiedergeburt der Tragödie besteht, so verweist er eindeutig auf
|
||||
Richard Wagner als den, der den Prozess dieser Wiedergeburt in Gang setzen kann.\footcite[Vgl.][56]{safranski:biographie}
|
||||
|
||||
Wie die Tragödie aus dem Geiste der Musik geboren werden soll, lässt sich aus Wagners
|
||||
Konzeption des Gesamtkunstwerkes und der absoluten Musik erklären. Zur Zeit Wagners
|
||||
wurde die Musik als selbständige Kunstgattung gesehen, was nicht immer der Fall war.
|
||||
Bis Ende des 18. Jahrhunderts war man oft der Auffassung, dass sie nur eine begleitende
|
||||
Komponente zum Text darstellt, der Affektäußerung dient und keinen eigenständigen
|
||||
Wert hat. Deswegen musste sich die instrumentelle Musik, die sich auf keinen Text
|
||||
stützte, gegen diese Betrachtungsweise wehren, um nicht als sinnlos zu gelten.\footcite[Vgl.][158 f]{bruse:gesamtkunstwerk}
|
||||
Demzufolge kann man die Tatsache, dass der Musik bei Schopenhauer und Nietzsche eine
|
||||
herausragende gegenüber den anderen Kunstgattungen Rolle, zukommt, auch als eine Folge
|
||||
dieses Kampfes innerhalb der Ästhetik ansehen. So hat man eine an sich „bedeutungslose
|
||||
Tonfolge“ in eine Kunst umgewandelt, die viel tiefgründiger als alle anderen Künste ist:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
„Im Verhältniß zur Musik ist alle Mittheilung durch
|
||||
Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht:
|
||||
das Wort macht das Ungemeine gemein.“\footcite[219]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Das Verhältnis zwischen der Musik und dem Wort ist nicht mehr, dass die Musik ohne
|
||||
Text ihren Wert verliert, sondern dass der Text nur eine mögliche Deutung einer musikalischen Komposition ist.
|
||||
|
||||
Wagner hat selber die Instrumentalwerke zunächst dem Drama untergeordnet: Ohne dazugehöriges
|
||||
Bühnengeschehen verliere die instrumentelle Musik ihre inhaltliche Füllung. Um so
|
||||
eine von anderen Künsten (beispielsweise Dichtung, szenische Handlung) und vom Gesamtkunstwerk
|
||||
losgelöste Musik zu bezeichnen, gebrauchte er den Begriff „absolute Musik“. Nachdem
|
||||
Wagner jedoch Schopenhauers Anhänger wird, ändert er diese Konzeption. Die Musik äußert
|
||||
jetzt das eigentliche Wesen der Handlung und nicht erst durch diese sinnvoll wird.
|
||||
Die Idee der absoluten Musik, die bei Nietzsche autonom ist, liegt dionysischer Musik
|
||||
zugrunde.\footcite[Vgl.][158--160]{bruse:gesamtkunstwerk} Dass die Musik nicht an eine
|
||||
konkrete Interpretation gebunden ist, zeigt Nietzsche am Beispiel des Volksliedes.
|
||||
Konstituierendes Element des Volksliedes ist die „ursprüngliche Melodie“, die mit
|
||||
verschiedenen Texten versehen werden kann. Kein Text kann die „Weltsymbolik“ der Musik
|
||||
vollständig zum Ausdruck bringen.\footcite[Vgl.][48 f]{nietzsche:geburt}
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
„In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die
|
||||
Sprache auf das Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen.“\footcite[49]{nietzsche:geburt}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Das Wort erleidet die Gewalt der Musik und sucht sie nachzuahmen, aber mehr vermag
|
||||
es nicht. Der Text wird aus der Melodie geboren:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
„Wer eine Sammlung von Volksliedern z.B. des Knaben
|
||||
Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie
|
||||
die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Buntheit,
|
||||
ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und
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||||
seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren.“\footcite[49]{nietzsche:geburt}
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\end{quote}
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Aus demselben Geiste der Musik, aus dem die Volksdichtung geboren wird, wird auch die attische Tragödie geboren.
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\subsubsection{Das Apollinische und das Dionysische}
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Schon öfter wurden Apollo und Dionysus erwähnt, auf die Nietzsche als Vertreter zweier
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Götterwelten der Griechen greift, die nach Auffassung der Romantik, die „zur Zeit
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Nietzsches als kanonisch galt“,\footcite[40]{ries:geburt} in
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einem Gegensatz zueinander stehen. Einerseits ist das die olympische, mit der Dichtung
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Homers verbundene Religion mit ihren leuchtenden Göttern (Zeus, Apollo, Athene),\footcite[Vgl.][40]{ries:geburt}
|
||||
andererseits die chthonische, die „eine ältere Schicht der griechischen Religion als
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Glauben an die dunkle Mächte der Erdtiefe, wie er in der Dichtung Hesiods sichtbar
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wird an den Töchtern der Nacht, den Erinyen, den weiblichen Todesgöttinnen (Kore,
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Demeter, Persephone)“,\footcite[40--41]{ries:geburt} ist. Nietzsche
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verwendet jedoch die Namen der beiden Götter sehr oft adjektivisch: apollinisch und
|
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dionysisch. Daraus lässt sich schließen, dass jedes dieser Adjektive ein Sammelbegriff
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für ein Bündel von Eigenschaften ist. Genauso wie die Griechen selbst sich ihrer Götter
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bedient haben, um die mysteriöse, unbekannte Seite der Natur zu entschärfen, indem
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man die natürlichen Erscheinungen mythisch erklärt, bedient sich Nietzsche dieser
|
||||
zwei Göttergestalten, um zwei verschiedene Aspekte des Seins zu beschreiben. Diese
|
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Aspekte stehen in einem Widerstreit miteinander, in welchem sie „durch einen metaphysischen
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Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘“\footcite[25]{nietzsche:geburt} die attische Tragödie gebären.
|
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Apollo ist für Nietzsche nicht nur bloß der Sonnengott, sondern Nietzsche spielt mit
|
||||
dem Begriff der Sonne, die scheint, und Apollo wird aus dem scheinenden Gott der Gott
|
||||
des Scheines. Der Schein hat eine gestaltende Funktion, er bringt die Schönheit der
|
||||
Formen, die er erzeugt, mit sich.\footcite[Vgl.][26 ff]{nietzsche:geburt} Dieser
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freie Umgang mit dem Mythos hat bereits am Anfang des Textes einen Anlass zur Kritik
|
||||
seitens der Philologen gegeben. So verfasst Dr.\ phil.\ Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf
|
||||
Pamphlet „Zukunftsphilologie!“. Nachdem Nietzsches Freunde, Erwin Rohde und Richard
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Wagner, versucht haben, Nietzsches Schrift gegen die Angriffe zu verteidigen, veröffentlicht
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||||
Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf einen zweiten Teil. Im ersten Teil, im Bezug auf
|
||||
Apollo als den Gott des schönen Scheins, schreibt er: „es gehörte freilich eine gewaltige
|
||||
‚tapferkeit‘ dazu, aus Apollon, der ‚seiner wurzel nach der scheinende ist‘. (5) auf
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||||
dem wege des kalauers den ‚gott des scheins‘, d.h.\ des scheins des scheins, ‚der
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höhern wahrheit des traumes gegenüber der lückenhaft verständlichen tageswirklichkeit‘
|
||||
zu machen!“\footcite[34]{zukunftsphilologie}
|
||||
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||||
Dionysus symbolisiert dagegen die entgegengesetzte Kraft. Von Lust und orgiastischen
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Trieben gelenkt schafft sie nichts, sondern ist darum bemüht den Schein zu zerstören,
|
||||
jede Ordnung zunichte zu machen, in den Urzustand einer ungeordneten Einheit zu bringen.\footcite[Vgl.][28 ff]{nietzsche:geburt}
|
||||
Die eigentliche Äußerung findet das Dionysische in der Musik, wobei Nietzsche wiederum
|
||||
von der dorischen Musik als von der apollinischen spricht.\footcite[Vgl.][33]{nietzsche:geburt}
|
||||
K. O. Müller folgend stellt Nietzsche auf diese Weise der dorischen, apollinischen
|
||||
Musik den dionyischen Dithyrambus entgegen.\footcite[Vgl.][47 f]{ries:geburt}
|
||||
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||||
Dennoch ist die Kunst nur als Produkt dieses Kampfes von Entstehen und Vergehen möglich.
|
||||
So spricht Nietzsche im Bezug auf das Apollinische und Dionysische vom „Urwiderspruch“.\footcite[Vgl.][70]{nietzsche:geburt}
|
||||
Des weiteren wendet sich Nietzsche an Euripides mit den Worten: „Und weil du Dionysus
|
||||
verlassen, so verliess dich auch Apollo“.\footcite[75]{nietzsche:geburt}
|
||||
Wenn jemand den Einen verlässt, so entkommt ihm auch der Andere.
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||||
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||||
Man muss auch in Betracht ziehen, dass der junge Nietzsche einen sehr breiten Kunstbegriff
|
||||
hat. Es sind nicht die physikalischen Gesetze, die die die Welt und alles Leben konstituieren,
|
||||
vielmehr sind es die beiden Mächte, das Apollinische und Dionysische. „[D]ie Welt
|
||||
selbst ist nichts als Kunst“.\footcite[183]{nietzsche:fragmente} Indem
|
||||
Nietzsche die Welt als „sich selbst gebärende[n] Kunstwerk“\footcite[182]{nietzsche:fragmente}beschreibt,
|
||||
entwirft er eine „Artisten-Metaphyisk“.\footcite[Vgl.][182]{nietzsche:fragmente}
|
||||
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||||
Alles ist in der Welt im Werden, alles kommt und vergeht, jedes Seiende entsteht,
|
||||
um sich schließlich im Nichts spurlos aufzulösen. Das eigentliche Wesen, der erste
|
||||
Grund der Welt ist das Leid, der Urschmerz. Dies macht verständlich, warum Nietzsche
|
||||
im „Versuch einer Selbstkritik“ die Auffassung in Frage stellt, dass der Optimismus
|
||||
ein Zeichen der Blütezeit ist. Vielmehr war der mit dem Namen Sokrates verbundene
|
||||
Optimismus und die Hoffnung, die Welt vernünftig erkennen zu können, ein Symptom einer
|
||||
unheilbaren Krankheit, ein Todeszeichen. Was die Kunst fordert, ist nicht der Optimismus,
|
||||
sondern der Pessimismus.\footcite[Vgl.][12 f]{nietzsche:geburt} Das Sein selbst
|
||||
ist also in seinem Innersten untrennbar mit Pessimismus verbunden und das ist das
|
||||
Faktum, das nicht „das Erspriesslichste“ für den Menschen ist. Nietzsche gibt die
|
||||
alte Sage wieder, nach der der König Midas den weisen Silen aufsucht, um ihn zu fragen,
|
||||
was für den Menschen das Allerbeste sei. Der Silen antwortet darauf: „Das Allerbeste
|
||||
ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu
|
||||
sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben.“\footcite[35]{nietzsche:geburt}
|
||||
Wie kann man angesichts dieses Grauens noch die menschliche Existenz rechtfertigen?
|
||||
Wie kann man es ertragen, jeden Morgen die Augen zu öffnen? Das ist der Augenblick,
|
||||
an dem das Apollinische, „das entzückte Verharren vor einer erdichteten und erträumten
|
||||
Welt“,\footcite[180]{nietzsche:fragmente} ins Spiel kommt. Um die Wirkung
|
||||
der Schönheit des Scheins auszudrücken, haben die Griechen die olympischen Götter
|
||||
erdichtet, „[u]m leben zu können“\footcite[36]{nietzsche:geburt}
|
||||
mussten die Bewohner des Olymps ins Dasein gerufen werden. „So rechtfertigen die Götter
|
||||
das Menschenleben, indem sie es selbst leben.“\footcite[36]{nietzsche:geburt}
|
||||
|
||||
Außer dem oben erwähnten Gegensatz zwischen der Kunst des Bildners und der der Musik
|
||||
verwendet Nietzsche noch ein weiteres Gleichnis, um das Wesen des Apollinischen und
|
||||
des Dionysischen näher zu bestimmen, und zwar spricht er vom Traum und Rausch.\footcite[26]{nietzsche:geburt}
|
||||
Die Welt, wie sie uns vor unseren Augen erscheint, erscheint eben nur so, an sich
|
||||
ist sie „eine einzige ununterschiedene Flut“.\footcite[216]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||||
In Dionysus, wie unter der Wirkung des Rausches, taucht der Mensch in die Selbstvergessenheit
|
||||
ein, die Grenzen des Individuellen verschwimmen immer mehr, bis sie verschwinden.
|
||||
Auf der anderen Seite dieses Ur-Eine selbst, in dem alles Seiende wurzelt und aus
|
||||
dem Alles hervorgeht, träumt die Welt durch den Menschen und ist somit selbst der
|
||||
Grund für die Erscheinung. Das ist der Unterschied zu Schopenhauers System, dem die
|
||||
Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen entnommen sind. „Für Schopenhauer
|
||||
bewirken die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, als das ‚principium individuationis‘
|
||||
die Zerteilung alles für uns Seienden in die Vereinzelung“.\footcite[216]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||||
Es ist also nicht der Wille selbst, wie es bei Nietzsche der Fall ist.\footcite[Vgl.][217]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||||
|
||||
\subsubsection{Entstehung und Verfall der griechischen Tragödie}
|
||||
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||||
\epigraph{Die tragische Kunst, an beiden Erfahrungen reich, wird
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||||
als Versöhnung des Apoll und Dionysos bezeichnet: der Erscheinung wird die tiefste
|
||||
Bedeutsamkeit geschenkt, durch Dionysos: und diese Erscheinung wird doch verneint
|
||||
und mit Lust verneint.}
|
||||
{\textit{Herbst 1885 -- Herbst 1886}\\
|
||||
\textbf{Friedrich Nietzsche}\footcite[181]{nietzsche:fragmente}}
|
||||
|
||||
Nietzsche hat die tragische Kunst als Gegenstand seiner Betrachtung ausgewählt, weil
|
||||
sie die Tragik des Lebens wiedergibt. Alles Leben dreht sich selbst im ewigen Kreis
|
||||
von Werden und Vergehen, und es hat ihren Ursprung in der Duplizität des Apollinischen
|
||||
und Dionysischen genauso wie die griechische Tragödie. Die Griechen konnten die beiden
|
||||
Gegensätze in der Tragödie vereinigen und miteinander versöhnen.\footcite[Vgl.][56]{ries:geburt}
|
||||
Die Entstehung der Tragödie ist nicht so wichtig in historischer Hinsicht wie für
|
||||
die Beschreibung dessen, wie die Kunst überhaupt „geboren“ wird.
|
||||
|
||||
Als Vorbild eines Tragödiendichters wählt Nietzsche Archilochus, der uns „durch die
|
||||
trunknen Ausbrüche seiner Begierde“\footcite[43]{nietzsche:geburt}
|
||||
erschreckt, er ist also ein dionysischer Dichter. Sein Verdienst ist, dass er das
|
||||
Volkslied in die Literatur eingeführt hat, wobei das Volkslied dadurch, dass sie als
|
||||
„ursprüngliche Melodie“ verstanden, eine metaphysische Bedeutung bekommt.\footcite[Vgl.][48 f]{nietzsche:geburt}„
|
||||
Hier folgt Nietzsche Schopenhauer, für den es innerhalb der Musik die Melodie ist, die
|
||||
als tonaler Zusammenhang dem ‚Willen‘ am nächsten kommt.“\footcite[67]{ries:geburt}
|
||||
|
||||
Wie Nietzsche bereits in seinem Vortrag „Die griechische Musikdrama“ erläutert, ist
|
||||
die attische Tragödie aus dem Chor entstanden und war „nur Chor und nichts als Chor“.\footcite[52]{nietzsche:geburt}
|
||||
Der Chor ist wiederum ein dionysisches Element, weil Nietzsche ihn „Satyrchor“\footcite[Vgl.][55]{nietzsche:geburt}
|
||||
bezeichnet, es wurde also vorgestellt, dass er aus den mythischen Wesen, die Dionysus
|
||||
begleiteten, besteht. Auch das Thema der Tragödie war nichts anderes als Dionysus
|
||||
und die Darstellung seiner Leiden. Nietzsche erblickt hier aber etwas, was er „metaphysischen
|
||||
Trost“ nennt, und zwar besteht dieser Trost darin zu sagen, dass das Leben trotz allem
|
||||
„unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“.\footcite[56]{nietzsche:geburt}
|
||||
Wiebrecht Ries bemerkt dazu, dass der metaphysiche Trost nicht der griechischen Tragödie
|
||||
entstammt, sondern vielmehr Nietzsches Lebensphilosophie. Nietzsche wendet sich im
|
||||
Grunde gegen den Pessimismus von Schopenhauer und behauptet das Leben als etwas Lustvolles,
|
||||
etwas, was gerechtfertigt werden kann.\footcite[Vgl.][70]{ries:geburt}
|
||||
|
||||
An der Stelle, an der Nietzsche über das Volkslied spricht, redet er über den Prozess
|
||||
einer Entladung der Musik in Bildern.\footcite[Vgl.][50]{nietzsche:geburt}
|
||||
Wie ich bereits erwähnt habe, hat das Bild gegenüber der Musik eine sekundäre Stellung,
|
||||
einerseits hilft es bei der Deutung der Musik, andererseits ist die Gewalt der Musik,
|
||||
deren Klang aus dem tiefsten Grund der Welt stammt, so gewaltig, dass sie eine Entladung
|
||||
im Bild nötig hat, sie muss besänftigt werden.\footcite[Vgl.][67 f]{ries:geburt}
|
||||
Für Nietzsche wird der Prozess der Entladung in der Tragödie nachvollziehbar: Das
|
||||
Geschehnis der Tragödie wird in der Handlung entladen. Das ist eine Parallele zu dionysischen
|
||||
Festen: Am Ende des Festes war genauso die Entladung in der tragischen Handlung vonnöten,
|
||||
um in das tägliche, individuelle Leben zurückzukehren.
|
||||
|
||||
Es ist wichtig anzumerken, dass es eben um ein Geschehnis, genauer gesagt um ein Erlebnis
|
||||
geht. Es gibt einen Unterschied zwischen dem erzählten, ewigen (zeitlosen) Epos und
|
||||
der Tragödie als Drama, die erlebt wird. Der Chor sieht die göttlichen, dionysischen
|
||||
Visionen; die Zuschauer sind keine Zuschauer, sondern Zeugen; die Helden, „alle die
|
||||
berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w.\ [sind] nur Masken
|
||||
jenes ursprünglichen Helden Dionysus [\dots]“.\footcite[71]{nietzsche:geburt}
|
||||
Die Tragödie wird nicht einfach gespielt, sondern immer neu erlebt.\footcite[Vgl.][71--73]{ries:geburt}
|
||||
Dies erklärt unter Anderem, wieso Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik“ schreibt,
|
||||
dass „Die Geburt der Tragödie“ ein Buch für die Künstler ist, es ist ja „aus lauter
|
||||
vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen“\footcite[13]{nietzsche:geburt}
|
||||
aufgebaut. Es reicht nicht, etwas über die Kunst zu lesen oder sie zu besprechen.
|
||||
Allein die Selbsterlebnisse haben das entscheidende Gewicht. Es ist ein Buch, die
|
||||
für diejenigen geeignet sind, die mit Nietzsche gleichgesinnt sind, „für Künstler
|
||||
mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten“.\footcite[13]{nietzsche:geburt}
|
||||
|
||||
Der Verfall der Tragödie fängt mit Euripides an, „der die vernunftgeprägte Weltverhaltung
|
||||
in der Tragödiendichtung und dann in der Kunst überhaupt — wesenswidrig — zur Herrschaft
|
||||
gebracht haben soll“.\footcite[238]{boening:metaphysics-art-lang} Während Ulrich
|
||||
von Wilamowitz-Möllendorff den alleinigen Grund Nietzsches Argumentation gegen Euripides
|
||||
darin sieht, dass Nietzsche mit einem maßlosen Hass gegen den Dichter, „welcher nächst
|
||||
Homer dem gesamten altertum teuer und vertraut war“,\footcite[48]{zukunftsphilologie}
|
||||
erfüllt war, betrachtet W. Ries diese Entgegenstellung eines wahren, dionysischen
|
||||
Tragikers, Archilochus, und „frevelndes“\footcite[Vgl.][74]{nietzsche:geburt}
|
||||
Euripides als Teil einer Strategie. Nietzsche zielt damit auf die Gegenwartskritik
|
||||
ab.\footcite[Vgl.][92]{ries:geburt} Hier kommt „der tiefe Hass gegen
|
||||
‚Jetztzeit‘, ‚Wirklichkeit‘ und ‚moderne Ideen‘“\footcite[21]{nietzsche:geburt}
|
||||
zum Ausdruck. Die Kritik wird von Nietzsches Zeit auf die Antike projiziert, das idealisierte
|
||||
sechste Jahrhundert wird hervorgehoben und der Zeit des Verfalls, dem dritten und
|
||||
vierten Jahrhundert entgegengestellt.\footcite[91 f]{ries:geburt}
|
||||
|
||||
Aus dem Euripides spricht weder Dionysus noch Apollo, sondern „ein ganz neugeborner
|
||||
Dämon, genannt Sokrates“.\footcite[83]{nietzsche:geburt} Im Folgenden
|
||||
entwickelt Nietzsche das Bild eines theoretischen Menschen, dessen Hauptvertreter
|
||||
Sokrates ist. Der theoretische Mensch ist auch um die Suche der Wahrheit bemüht, um
|
||||
das Erkennen des Innersten des Seins, aber er sucht die Wahrheit auf einem ganz anderen
|
||||
Wege. Anhand eigener Vernunft versucht der Theoretiker die kausalen Zusammenhänge
|
||||
in der Natur zu erkennen. Er vertieft sich immer weiter in die theoretischen Erkenntnisse
|
||||
mit dem Glauben (sogar wie Nietzsche sagt von der „Wahnvorstellung“ getrieben), „dass
|
||||
das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins
|
||||
reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren
|
||||
im Stande sei“.\footcite[99]{nietzsche:geburt} Das Eintreten des theoretischen
|
||||
Menschen in die griechische Kultur kennzeichnet gleichzeitig den Tod der Tragödie
|
||||
und damit auch den Tod der Kunst überhaupt. Die Wissenschaft sucht auf der Oberfläche,
|
||||
nur in der apollinischen Erscheinung und reicht nicht bis zum dunklen Grund des Daseins,
|
||||
der sich einem in der Tragödie offenbart.
|
||||
|
||||
Obwohl Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik“ schreibt, dass er „Hoffnungen anknüpfte,
|
||||
wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies“,\footcite[20]{nietzsche:geburt}
|
||||
sah er vor seiner Enttäuschung und dem Bruch mit Wagner in 1876\footcite[Vgl.][379]{safranski:biographie}
|
||||
ein Potenzial zur Wiedergeburt der Tragödie beziehungsweise zur Auferstehung der Kunst.
|
||||
Bereits am Anfang schrieb Nietzsche über seine Erfahrung, dass wir bei dem „höchsten
|
||||
Leben“ der Traumwirklichkeit „doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins
|
||||
haben“\footcite[26]{nietzsche:geburt} und zur Bekräftigung seiner
|
||||
Worte auf Schopenhauer verwiesen hat, der behauptete, dass, wenn einem alle Dinge
|
||||
manchmal als bloße Phantome vorkommen, dies ein Kennzeichen philosophischer Befähigung
|
||||
ist.\footcite[Vgl.][26 f]{nietzsche:geburt}Eben Schopenhauer, der seinerseits
|
||||
an Kants Erkenntniskritik anknüpft, trägt der Wiedergeburt der Tragödie und der Kunst
|
||||
bei, indem er den „metaphysischen Erkenntnisoptimismus“ kritisiert.\footcite[Vgl.][113]{ries:geburt}
|
||||
Auch in der deutschen Musik, wie etwa „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, lassen
|
||||
sich die Töne erkennen, die die Ketten der Erscheinung zerreißen und den Menschen
|
||||
zum finsteren Grund seiner Selbst und der Welt bringen.\footcite[Vgl.][114--116]{ries:geburt}
|
||||
Bezüglich Wagner findet man bei Nietzsche folgende Aufzeichnung aus dem Jahr 1871:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
„Ich erkenne die einzige Lebensform in der griechischen:
|
||||
und betrachte Wagner als den erhabensten Schritt zu deren Wiedergeburt im deutschen
|
||||
Wesen.“\footcite[24]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
\subsubsection{Zeitgenössische Rezeption}
|
||||
|
||||
Was ist von dieser Geschichte der griechischen Tragödie, wie sie von Nietzsche dargelegt
|
||||
wird, zu halten? Was hatte der Autor im Sinne als er dieses sein erstes Buch schrieb?
|
||||
Das ist im Grunde ein Werk, das ein philologisches Problem behandelt. Gleichzeitig
|
||||
wurde oben eine Vielfalt philosophischer Fragestellungen aufgezeigt, die der Autor
|
||||
untersucht. „Die Geburt der Tragödie“ enthält die Grundzüge der gesamten späteren
|
||||
Philosophie von Nietzsche. Die Themen, die er in der Tragödienschrift berührt, sind
|
||||
prägend für sein gesamtes Denken, sie werden wieder aufgegriffen und weiter
|
||||
entwickelt.\footcite[Vgl.][12]{ries:geburt}
|
||||
Es stellt sich aber die Frage, ob diese Idealisierung der griechischen Tragödie als
|
||||
eigentliche Kunst, ihr Verfall und Tod, der philologisch-historischen Realität entspricht,
|
||||
zumindest dem Wissensstand Nietzsches Zeit. Wilamowitz-Möllendorff hat Nietzsche und
|
||||
sein Werk „Geburt der Tragödie“ in seinem Aufsatz „Zukunftsphilologie!“ sehr scharf
|
||||
angegriffen. Nach dem Versuch Wagners, Nietzsche zu verteidigen, hat Wilamowitz-Möllendorff
|
||||
sogar eine Fortsetzung „Zukunftsphilologie! Zweites Stück\@. eine erwiderung auf die
|
||||
rettungsversuche für Fr. Nietzsches ‚Geburt der tragödie‘“ verfasst.\footcite[Siehe][]{streit-um-geburt}
|
||||
|
||||
Bereits im Titel des zweiten Aufsatzes stehen die Begriffe, die es deutlich machen,
|
||||
wie Wilamowitz-Möllendorff als Philologe Nietzsches Werk bewertet. Nietzsche wurde
|
||||
nicht verteitigt, sondern man versuchte ihn zu „retten“ und er konnte trotz alledem
|
||||
nicht gerettet werden, weil es nur „Versuche“ waren. Im ersten Teil seiner Auseinandersetzung
|
||||
mit „Geburt der Tragödie“ wirft Wilamowitz-Möllendorff Nietzsche vor, Winckelmann,
|
||||
nie gelesen zu haben,\footcite[Vgl.][32]{zukunftsphilologie} Homer nicht zu
|
||||
kennen,\footcite[Vgl.][35]{zukunftsphilologie} Archilochus und die Geschichte
|
||||
der griechischen Musik gröblich zu verkennen\footcite[Vgl.][38]{zukunftsphilologie}
|
||||
und die Tragödie überhaupt, nicht zu kennen.\footcite[Vgl.][46]{zukunftsphilologie}
|
||||
|
||||
Wilamowitz-Möllendorff veweist auf Winckelmann, der gezeigt hat, „wie die allgemeinen
|
||||
regeln wissenschaftlicher kritik auch für die geschichte der kunst, ja für das verständnis
|
||||
jedes einzelnen kunstwerks nötig seien, [\dots]“.\footcite[32]{zukunftsphilologie}
|
||||
Und der Ursprung des Missverständnisses zwischen Wilamowitz-Möllendorff und Nietzsche
|
||||
scheint eben in dieser „Wissenschaftlichkeit“ zu liegen. Wenn man den Text der Tragödienschrift
|
||||
sich anschaut, wird man feststellen, dass Nietzsche kaum die Quellen angibt, aus denen
|
||||
er das Material für seine Überlegungen schöpft, oder die Angaben sind sehr ungenau.
|
||||
An ein paar Stellen wird Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ zitiert,
|
||||
die aber wohl nicht so aussagekräftig für eine philologische Forschung der attischen
|
||||
Tragödie ist, ansonsten werden einige moderne und antike Autoren erwähnt ohne genauere
|
||||
Angaben. Die Vernachlässigung der Prinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens ist
|
||||
kaum ein Zufall oder Unaufmerksamkeit Nietzsches. Der Grund liegt meines Erachtens
|
||||
darin, dass die primäre Zielsetzung beim Schreiben der Arbeit „Die Geburt der Tragödie“
|
||||
gar nicht eine wissenschaftliche Untersuchung der Entstehung der attischen Tragödie
|
||||
war. Vielmehr handelt es sich bei diesem Buch um einen modernen Mythos. Warum braucht
|
||||
man aber in unserer von der Wissenschaft aufgekläre Gesellschaft Mythen? Denn wenn
|
||||
die Wissenschaft an ihre Grenzen kommt, muss sie in Kunst umschlagen.\footcite[Vgl.][99]{nietzsche:geburt}
|
||||
Die wichtigsten Fragen des menschlichen Seins berührt die Wissenschaft nicht, sie
|
||||
stellt sie oft nicht mal auf. Was ist der Sinn dessen, dass es etwas gibt. Um die
|
||||
Antwort auf diese Frage zu geben, bedarf man eines Mythos, der erzählt, wie die Tragödie
|
||||
aus dem Geiste der Musik geboren wird und wie diese göttliche Musik der tragischen
|
||||
Aufführung auf der Bühne des Lebens Sinn verleiht.
|
||||
|
||||
Giorgio Colli nimmt Nietzsches philologische Position ernster. Er konstatiert zwar
|
||||
auch die Tatsache, dass „[d]ie klassische Altertumswissenschaft [\dots] Nietzsches
|
||||
Konzeption als unwissenschaftlich stillschweigend ignoriert“\footcite[901]{colli:geburt-nachwort}
|
||||
hat, aber fügt hinzu, dass die Wissenschaft selbst nicht viel mehr auf diesem Gebiet
|
||||
geleistet hat: „Die überlieferten Fakten sind immer noch die gleichen, dürftigen und
|
||||
unsicheren.“\footcite[901]{colli:geburt-nachwort} Jedoch auch G. Colli
|
||||
ist es bewusst, dass „Die Geburt der Tragödie“ „keine historische Interpretation“
|
||||
der Entstehung und des Verfalls der Tragödie ist, sondern das Werk „eine Interpretation
|
||||
des gesamten Griechentums“ und „eine philosophische Gesamtschau“ entfaltet.\footcite[Vgl.][902]{colli:geburt-nachwort}
|
@@ -0,0 +1,125 @@
|
||||
---
|
||||
layout: post
|
||||
date: 2015-04-23 03:20:00
|
||||
tags: Aufsatz
|
||||
title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 2. Gesellschaftliche Dimension der Kunst
|
||||
teaser: |
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||||
<p>
|
||||
Die Bedeutung der Kunst endet nicht mit der Frage, welche Position sie im Leben
|
||||
eines Individuums einnimmt. Nietzsche versucht seinen Kunstbegriff auf größere Menschenmengen
|
||||
zu beziehen, um damit gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse zu erklären, oder
|
||||
mindestens zu schauen, welche Auswirkung die Kunst oder die einzelnen Künstler auf
|
||||
die menschliche Gesellschaft und Kultur haben.
|
||||
</p>
|
||||
---
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||||
Die Bedeutung der Kunst endet nicht mit der Frage, welche Position sie im Leben
|
||||
eines Individuums einnimmt. Nietzsche versucht seinen Kunstbegriff auf größere Menschenmengen
|
||||
zu beziehen, um damit gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse zu erklären, oder
|
||||
mindestens zu schauen, welche Auswirkung die Kunst oder die einzelnen Künstler auf
|
||||
die menschliche Gesellschaft und Kultur haben.
|
||||
|
||||
In einer Aufzeichnung von 1885 schreibt Nietzsche Folgendes:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
„Die mathematischen Physiker können die Klümpchen-Atome
|
||||
nicht für ihre Wissenschaft brauchen: folglich construiren sie sich eine Kraft-Punkte-Welt,
|
||||
mit der man rechnen kann. Ganz so, im Groben, haben es die Menschen und alle organischen
|
||||
Geschöpfe gemacht: nämlich so lange die Welt zurecht gelegt, zurecht gedacht, zurecht
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gedichtet, bis sie dieselbe brauchen konnten, bis man mit ihr ‚rechnen‘
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konnte.“\footcite[163]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Es existiert also keine „objektive Welt“. Die Menschen erdichten ihre eigene Welt,
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in der ihnen am Besten zu Mute ist, in der sie leben können und wollen. Und dies ist
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genau, das was bereits für den jungen Nietzsche eine menschliche Kultur ausmacht.
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Das Dionysische ist das Fundament auf dem die Kulturen entstehen, „der ungeheure Lebensprozess
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selbst, und Kulturen sind nichts anderes, als die zerbrechlichen und stets gefährdeten
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Versuche, darin eine Zone Lebbarkeit zu schaffen“.\footcite[59]{safranski:biographie}
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Im Zusammenhang mit der menschlichen Kultur führt Nietzsche den Krieg als ein dionysisches
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Element ein, und dieses Element beinhaltet auch „die Bereitschaft zum lustvollen
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Untergang“.\footcite[59]{safranski:biographie} Nietzsche, der selbst im Krieg
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einige Wochen als Sanitäter beteiligt war, sieht im Krieg als zerstörerischer
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Macht des Dionysus eine positive Potenz, und zwar erwartet er, dass dem
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Vernichten das Werden folgt, mit anderen Worten erhofft er eine Erneuerung
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der Kultur. Die Grausamkeit des Krieges um der Erneuerung der Kultur willen scheint
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übertrieben und grauenvoll zu sein. Daher hat der Krieg eine Umgestaltung durch die
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bildende apollinische Kraft nötig.\footcite[Vgl.][58--61]{safranski:biographie} Nietzsche
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greift wieder auf das Vorbild der Griechen, die „ein Beispiel dafür, wie diese kriegerische
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Grausamkeit sublimiert werden kann durch den Wettkampf, der überall stattfindet, in
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der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Kunst.“\footcite[62]{safranski:biographie}
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„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage: der
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Krieg ist es, der jede Sache heiligt!“\footcite[109]{nietzsche:fragmente}
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schreibt er im November 1882 -- Februar 1883.
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Auch auf der kulturellen Ebene balancieren die zwei grundlegenden Lebensmächte,
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das Dionysische und Apollinische, einander aus. Jede Kultur benötigt apollinische
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Bilder, um das Leben ertragen zu können, aber es besteht die Gefahr, dass die Kultur
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erstarrt und die dionysische Dynamik verliert, und dann muss sich das Dionysische
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wieder in den Weltprozess deutlicher einmischen.\footcite[Vgl.][62 f]{safranski:biographie}
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Ein anderer Grund, den Krieg als eine unabdingbare Komponente der Entwicklung anzusehen,
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besteht darin, dass die Kultur für Nietzsche die oberste Position in der Pyramide
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der Menschheitswerke. Alles andere ist ihr untergeordnet: Gelehrsamkeit, Religion,
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Staat.\footcite[Vgl.][63]{hayman:biographie}
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Kennzeichnend dafür, welche Bedeutung die Kultur hat, ist, wie Nietzsche die Rolle
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des Künstlers in einer Gesellschaft einschätzt. So heißt es am Ende 1870 -- April 1871:
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\begin{quote}
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„Ich würde aus meinem idealen Staate die sogenannten ‚Gebildeten‘ hinaustreiben,
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wie Plato die Dichter: dies ist mein Terrorismus.“\footcite[22]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Die Dichter, die Künstler dürfen keinesfalls aus dem Nietzsches Staat ausgetrieben
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werden. Ganz im Gegenteil, für ihr Wohlergehen müssen alle Bedingungen erschaffen
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werden. Auch in dieser Hinsicht ist das antike Griechenland ein Vorbild für Nietzsche.
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Er verteidigt die damalige Sklaverei als notwendige Bedingung für das Wohl der „höchsten
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Exemplaren“ einer Gesellschaft, die ihrerseits den Beitrag zum Aufblühen der Kultur
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leisten.\footcite[Vgl.][67]{hayman:biographie} Nietzsche hat keineswegs illusionäre
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Vorstellungen bezüglich der Sklaverei, vielmehr lobt er die grausame Ehrlichkeit der
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Griechen, die „die letzten Geheimnisse ‚vom Schicksale der Seele‘ und Alles, was sie
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über die Erziehung und Läuterung, vor Allem über die unverrückbare Rangordnung und
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||||
Werth-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen
|
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zu deuten suchten: […]“.\footcite[169]{nietzsche:fragmente} Es ist
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auch nicht so, dass Nietzsche die Demokratie verachtet, weil sie zu Gleichheit der
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Menschen untereinander führt. Er glaubt einfach nicht, dass in einem demokratischen
|
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Staat, das Verhältnis sich ändert. Die demokratische Gleichheit ist für ihn eine Lüge:
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\begin{quote}
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In neuerer Zeit wird die Welt der Arbeit geadelt, aber das sei Selbstbetrug,
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denn an der fundamentalen Ungerechtigkeit der Lebensschicksale, die den einen
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die mechanischen Arbeit und den Begabteren das schöpferische Tun zuweist, ändere
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||||
auch die \underline{Begriffs-Hallucination} von der \underline{Würde der Arbeit}
|
||||
nichts."\footcite[68]{safranski:biographie}
|
||||
\end{quote}
|
||||
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Nietzsche zieht sozusagen die dionysische Wahrheit, die besagt, dass das menschliche
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Sein von vornherein ungerecht ist, der apollinischen Einbildung, dass die Demokratie
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eine Gerechtigkeit gleicher Menschen garantieren kann, vor. Nietzsche idealisiert
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||||
auch die privilegierte Kaste eines derartigen Staates nicht und fragt sich, „[o]b
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||||
man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen“.\footcite[147]{nietzsche:fragmente}
|
||||
Nietzsche beschreibt diese Welt als eine „Sich-selber-widersprechendste, und dann
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||||
wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück
|
||||
bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner
|
||||
Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein
|
||||
Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: diese meine
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||||
dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens“.\footcite[158]{nietzsche:fragmente}
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||||
Als dionysische Welt ist sie in sich absurd und widersprüchlich. Die Vereinigung der
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||||
Gegensätze in sich ist auch der Maßstab für die Größe des Künstlers und das ist auch
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eben, was ihn „böse“ macht, denn den Tugenden wohnt der Frevel bei, die kreative Kraft
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wird durch die zerstörerische vervollständigt. So antwortet Nietzsche auf seine Frage:
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\begin{quote}
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||||
„[D]ie Größten haben vielleicht auch große Tugenden,
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aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der
|
||||
Gegensätze, und aus deren Gefühle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen
|
||||
Spannung, entsteht.“\footcite[147]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
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||||
Genauso wie der Krieg ein Aspekt der Kultur ist, ohne den Nietzsche ihre dynamische
|
||||
Entwicklung sich nicht vorstellen kann, genauso ist die prinzipielle Ungleichheit
|
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und Grausamkeit der Menschen gegenüber einander etwas, worauf die Kultur beruht, und
|
||||
was sie apollinisch, d.h.\ für den Menschen erträglich zu gestalten sucht. Und so verwendet
|
||||
Nietzsche dieselben Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen, die er entdeckt
|
||||
hat, um das kulturelle Leben einer Gesellschaft zu beschreiben.
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@@ -0,0 +1,456 @@
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layout: post
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date: 2015-04-30 11:35:00
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tags: Aufsatz
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||||
title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 3. Die Kunst und das Leben
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||||
teaser:
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<p>
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||||
Nietzsche unternimmt einen neuen Versuch, dem Leben, so wie es ist, einen
|
||||
Sinn zu geben. Es ist keine Rechtfertigung, die auf eine bestimmte Theologie
|
||||
oder ein Moralsystem stützt, sondern dies ist die Rechtfertigung eines
|
||||
Künstlers. Nur als ein ästhetisches Phänomen lässt sich das Dasein als
|
||||
lebenswert erfahren.
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</p>
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||||
\epigraph{Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große
|
||||
Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.}
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||||
{\textit{Mai -- Juni 1888}\\
|
||||
\textbf{Friedrich Nietzsche}\footcite[283]{nietzsche:fragmente}}
|
||||
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||||
In der „Geburt der Tragödie“ steht ein bekannter Satz, der oft zitiert wird. Nietzsche
|
||||
unternimmt einen neuen Versuch, dem Leben, so wie es ist, einen Sinn zu geben. Es ist keine
|
||||
Rechtfertigung, die auf eine bestimmte Theologie oder ein Moralsystem stützt, sondern
|
||||
dies ist die Rechtfertigung eines Künstlers. Nur als ein ästhetisches Phänomen lässt
|
||||
sich das Dasein als lebenswert erfahren.\footcite[Vgl.][47]{nietzsche:geburt}
|
||||
Alles andere ist hilflos gegen die Weisheit des Silen. 1878 stellt Nietzsche die Moral
|
||||
der Kunst entgegen und schreibt rückblickend:
|
||||
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\begin{quote}
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||||
Damals glaubte ich daß die Welt vom aesthetischen Standpunkt
|
||||
aus ein Schauspiel und als solches von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als
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||||
moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schlusse kam, daß nur als
|
||||
aesthetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse.\footcite[55]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Nur als Teilnahme am Traum eines göttlichen Wesens kann die menschliche Existenz
|
||||
gerechtfertigt werden, nur so können die extremen Widersprüche im menschlichen Dasein
|
||||
erträglich gemacht werden.\footcite[Vgl.][59 ff]{ries:geburt}
|
||||
|
||||
Mithilfe der Kunst versucht Nietzsche dem Pessimismus und Nihilismus zu entkommen
|
||||
und sagen: Das Leben muss bejaht werden! W. Ries nennt die Rechtfertigung des Lebens
|
||||
bei Nietzsche „die letzte Bastion gegenüber einer Gegenwart […], welche durch
|
||||
die universale Banalisierung ihrer reduzierten Lebensvollzüge funktionalistisch charakterisiert
|
||||
werden kann, einer Gegenwart, aus welcher ‚die Götter‘ ebenso endgültig verschwunden
|
||||
sind wie ‚die griechische Heiterkeit‘ und an deren Trivialität es nichts mehr zu ‚rechtfertigen‘
|
||||
gibt.“\footcite[66]{ries:geburt}
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||||
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\subsubsection{1. Die Kunst als Wahrheit oder die Kunst anstatt der Wahrheit}
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||||
Der Grund, warum Nietzsche die alten Ideale wie Religion und Moral als nicht
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lebenstauglich verwirft, liegt darin, dass sie ein objektives System von
|
||||
Urteilen voraussetzen, zum Beispiel einen Gott und ein göttliches Gesetz oder
|
||||
die Idee des Guten, gegenüber welchen Nietzsche sehr skeptisch ist. Erkenntnistheoretisch
|
||||
besteht das Problem darin, dass man sie nicht mit voller Sicherheit begründen kann.
|
||||
Im Fall mit der Religion spielt der Glaube eine enorme Rolle und die Glaubenssätze
|
||||
können nicht auf die logische Ebene zurückgeführt werden, sonst würde es sich um keine
|
||||
Religion, sondern um eine Wissenschaft handeln. Im Fall mit der Moral besteht die
|
||||
Gefahr, dass alle Normen, die als objektiv gültig zu sein scheinen, bloß eine Folge
|
||||
der kulturellen Entwicklung sind, sodass die Moral sich dann als „eine Summe von
|
||||
Vorurtheilen“\footcite[67]{nietzsche:fragmente} entlarven lässt. Die
|
||||
menschliche Entwicklung und die kulturellen Zusammenhänge sind oft dermaßen
|
||||
kompliziert, dass es sich kaum unterscheiden lässt, was objektiv und was ein
|
||||
subjektives (oder ein kollektives) Vorurteil ist. Im Sommer 1880 stellt Nietzsche
|
||||
die Moral der Wissenschaft gegenüber:
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||||
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||||
\begin{quote}
|
||||
In den Wissenschaften der speziellsten Art redet man
|
||||
am bestimmtesten: jeder Begriff ist genau umgrenzt. Am unsichersten wohl in der Moral,
|
||||
jeder empfindet bei jedem Worte etwas Anderes und je nach Stimmung, hier ist die Erziehung
|
||||
vernachlässigt, alle Worte haben einen Dunstkreis bald groß bald eng werdend.\footcite[66]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Auch der moderne Pluralismus lehrt, dass es nicht so einfach ist, eine Religion
|
||||
oder ein Moralsystem in den Bereich des Absoluten zu erheben.
|
||||
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||||
Volker Gerhardt findet Nietzsches Hervorheben der ästhetischen Seite des Daseins
|
||||
provokativ und fragt: „Wie weit reicht eigentlich die Provokation des moralischen
|
||||
Denkens durch die Forderung nach einer ganz und gar ästhetischen Betrachtung des Seins?“\footcite[47]{artisten-metaphysik}
|
||||
Ist Nietzsches Argumentation ernst gemeint oder will er einfach in jeder Diskussion
|
||||
Recht behalten, indem er moralische Urteile relativiert und an ihre Stelle ästhetische
|
||||
Sichtweise erhebt? V. Gerhardt argumentiert, dass es kränkend sei, wenn jemand moralische
|
||||
Argumente bringt, die von dem Opponenten nicht ernst genommen werden, sodass der Letztere
|
||||
sich noch berechtigt fühlen könne, seine Untat zu rechtfertigen und zu wiederholen.
|
||||
Außerdem kann man einen solchen „Künstler“ überhaupt ernst nehmen, wenn „Grausamkeiten
|
||||
belächelt, fremde Qualen genossen und eigene Pflichten bloß theatralisch genommen
|
||||
werden“?\footcite[Vgl.][47]{artisten-metaphysik} Darauf kann man zweierlei antworten:
|
||||
|
||||
\begin{enumerate}
|
||||
\item
|
||||
Innerhalb eines Freundeskreises, einer Kultur oder sogar einer Epoche
|
||||
würde vielleicht tatsächlich „jeder von uns empört, wenn ein ernstes moralisches Anliegen
|
||||
durch Hinweis auf ästhetische Reize zurückgewiesen wird“.\footcite[47]{artisten-metaphysik}
|
||||
Nun wird die Frage nach der Geltung der Moral, nach dem Vorhandensein allgemein gültiger
|
||||
moralischer Regeln, von Nietzsche viel radikaler gestellt. Ihn interessiert, ob es
|
||||
prinzipiell eine moralische Gesetzgebung gibt, die dieselbe Gültigkeit wie ein physikalisches
|
||||
Gesetz hat, das überall auf der Erde in allen Zeiten gültig ist. Nietzsche verneint
|
||||
die Möglichkeit der Existenz einer moralischen Gesetzgebung.
|
||||
|
||||
Wird nicht jeder von
|
||||
uns empört, wenn ein moralisches Anliegen diametral entgegengesetzt bewertet wird,
|
||||
aufgrund eines anderen Wertesystems, einer andersartigen Ethikkonzeption oder eines
|
||||
ungleichen kulturellen Hintergrundes? Lässt es sich in der Tat immer über die moralischen
|
||||
Urteile streiten? Man denke nur an moralische Konflikte auf einer größeren, politischen,
|
||||
Ebene zwischen den Ländern, deren moralische Wertesysteme durch eine Jahrhunderte
|
||||
und Jahrtausende lange Geschichte geprägt sind.
|
||||
|
||||
\item „Ästhetisch“ und „theatralisch“
|
||||
kann nicht einfach mit „frech“, „leichtsinnig“, „gleichgültig“, „egoistisch“ gleichgesetzt
|
||||
werden. Auf der Bühne des Theaters kann sehr ernst gespielt werden (man denke nur,
|
||||
welche existenzielle Bedeutung hat nach Nietzsche die griechische Tragödie). Des Weiteren
|
||||
kann man sehr wohl auf Moralsysteme mit den Maximen wie „Vertraue keinem Menschen“,
|
||||
„Erreiche dein Ziel um jeden Preis“, „Kümmere dich nur um dich selbst und um die Menschen,
|
||||
die dir etwas bedeuten“ und so weiter stoßen. Auf der anderen Seite kann man sein
|
||||
Leben ästhetisch als ein schönes und gutes Kunstwerk gestalten. Die Frage, ob die
|
||||
Moral oder die Ästhetik mehr Wahres in sich hat, ist theoretischer Natur. Welche Auswirkung
|
||||
auf das menschliche Handeln die Entscheidung für entweder moralische oder ästhetische
|
||||
Weltbetrachtung hat, hängt allein von der Lebenseinstellung des Handelnden.
|
||||
\end{enumerate}
|
||||
|
||||
Alles, was „jenseits“, nicht sinnlich ist, will Nietzsche aus der Philosophie verbannen,
|
||||
und wieder hat hier die Philosophie von der Kunst zu lernen:
|
||||
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||||
\begin{quote}
|
||||
In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht
|
||||
als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben
|
||||
geht, sie liebten die Dinge ‚dieser Welt‘, - sie liebten ihre Sinne. Entsinnlichung
|
||||
zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnisß oder eine Krankheit oder eine Kur,
|
||||
wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. […] Was gehen
|
||||
uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an!\footcite[154]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Gegen die christlichen Vorstellungen und philosophische Systeme, die den Leib als
|
||||
Kerker der Seele betrachten, setzt Nietzsche fort und sagt, dass es sogar „ein Merkmal
|
||||
der Wohlgerathenheit [ist], wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und
|
||||
Herzlichkeit an ‚den Dingen der Welt‘ hängt“.\footcite[154]{nietzsche:fragmente}
|
||||
Zwar nennt er diese Welt, wie oben gesagt, eine Scheinwelt, aber es gibt keine andere.
|
||||
Wenn Nietzsche darüber spricht, dass wir in einer Scheinwelt leben, so verweist er
|
||||
nicht auf eine wahre, reale Welt, es existiert keine „Hinterwelt“\footcite[Vgl.][93]{nietzsche:fragmente}
|
||||
Er will kein Dualist sein und akzeptiert nur die Realität, die er mit seinen Sinnen
|
||||
wahrnehmen kann, selbst wenn sie eine Täuschung sein soll:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Wir finden das Umgekehrte, die Gegenbewegung gegen die
|
||||
absolute Autorität der Göttin ‚Vernunft‘ überall, wo es tiefere Menschen giebt. Fanatische
|
||||
Logiker brachten es zu Wege, daß die Welt eine Täuschung ist; und daß nur im Denken
|
||||
der Weg zum ‚Sein‘, zum ‚Unbedingten‘ gegeben sei. Dagegen habe ich Vergnügen an der
|
||||
Welt, wenn sie Täuschung sein sollte; und über den Verstand der Verständigsten hat
|
||||
man sich immer unter vollständigeren M<enschen> lustig gemacht.\footcite[162]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
\subsubsection{2. Wissenschaft}
|
||||
|
||||
Nicht nur Religion und Moral können uns keine Aussage über die Welt, wie sie
|
||||
an sich ist, und über die Wahrheit geben, auch die Wissenschaft kann es kaum.
|
||||
Wenn auch Walter Schulz Nietzsche „wissenschaftsgläubig“ nennt,\footcite[Vgl.][19]{schulz:function-and-place}
|
||||
so hat Nietzsche doch die Wissenschaft zu verschiedenen Zeiten seines Lebens unterschiedlich
|
||||
bewertet. Ja, die Wissenschaft mag sich auf empirische Daten stützen und deswegen
|
||||
nicht so subjektiv sein, wie Metaphysik, Religion oder Moral. Es stellt sich allerdings
|
||||
die Frage, ob die Wissenschaft deswegen einen Anspruch auf die Wahrheit hat.
|
||||
|
||||
Besonders gut lässt sich die Berechtigung dieser Frage nachvollziehen, wenn man
|
||||
einen kurzen Blick auf die moderne Wissenschaftstheorie wirft. Moderne Wissenschaften
|
||||
geben heutzutage gar nicht vor, die Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, was
|
||||
vor zwei oder drei Jahrhunderten der Fall war. Die naive Vorstellung, die Wissenschaft
|
||||
erforsche die Wirklichkeit, ist zwar verbreitet, aber nicht in den wissenschaftlichen
|
||||
Kreisen selbst. Moderne Wissenschaften basieren auf Theorien, was bedeutet, dass sie
|
||||
mit von Menschen erschaffe- nen Modellen arbeiten, die helfen, bestimmte Phänomene
|
||||
zu erklären oder gewisse Berechnungen durchzuführen.
|
||||
|
||||
Hatte Nietzsche nicht schon damals Recht, als er die einzig reale für den Menschen
|
||||
Welt eine Scheinwelt genannt hat, denn wie sonst kann man erklären, dass der Mensch
|
||||
kein Wissen über die Tatsachen der Welt hat, sondern ledigilich auf die Bildung von
|
||||
Theorien angewiesen ist? Man kann jetzt die radikale Frage stellen, ob die Wissenschaft
|
||||
selbst nicht eine „Kunstgattung“ ist. Die Gegenfrage würde lauten: Wenn man die Kunst
|
||||
braucht, um das Leben umzulügen, es umzudichten und so erträglich zu machen, wozu
|
||||
braucht man dann die Wissenschaft?
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Die Bequemlichkeit, Sicherheit, Furchtsamkeit, Faulheit,
|
||||
Feigheit ist es, was dem Leben den gefährlichen Charakter zu nehmen sucht und alles
|
||||
‚organisiren‘ möchte - Tartüfferie der ökonomischen Wissenschaft\footcite[135]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Wissenschaften bringen Sicherheit ins Leben. Diese Funktion hatten früher die heidnischen
|
||||
Religionen. Man fühlte sich sicherer, wenn man wusste, dass man nicht der blinden,
|
||||
gleichgültigen Natur ausgeliefert ist; wenn man wusste, dass eine Götterwelt sich
|
||||
hinter allen Naturphänomenen verbirgt, die man anbeten kann und so bekam man das Gefühl,
|
||||
dass man ein gewisses Maß an Kontrolle über die Natur hat. Deswegen schreibt Nietzsche
|
||||
über die griechische Mythologie, dass die Götter des Olymps „aus tiefster Nöthigung“\footcite[36]{nietzsche:geburt}
|
||||
geschaffen wurden.
|
||||
|
||||
Diese Rolle der Lebensabsicherung hat später die Wissenschaft übernommen. Sie ermöglicht
|
||||
einerseits Zusammenhänge zwischen den Ereignissen festzustellen und daraus auf die
|
||||
Naturgesetze zu schließen, und so erscheint die Welt nicht mehr chaotisch, sondern
|
||||
wird geordnet und als ein nach Gesetzen funktionierendes System vorgestellt. Andererseits
|
||||
versetzt die Wissenschaft in die Lage, Voraussagen über die Zukunft zu treffen. Aufgrund
|
||||
der Komplexität der physikalischen Systeme, können alle natürlichen Ereignisse in
|
||||
so großen Systemen wie unser Universum nicht genau vorhergesehen werden, weshalb,
|
||||
was die Auswirkung auf den Menschen betrifft, die Vorhersagemöglichkeit der Naturphänomene
|
||||
analog zu Anbetung der Götter ist, weil beides mehr Sicherheit in den folgenden Tag bringt.
|
||||
|
||||
Etwas andere Sicht auf die Wissenschaft bietet eine andere Aufzeichnung von Nietzsche,
|
||||
die aus der Zeit zwischen dem Herbst 1885 und Herbst 1886 stammt:
|
||||
|
||||
\begin{quote}
|
||||
Man findet in den Dingen nichts wieder als was man nicht
|
||||
selbst hineingesteckt hat: dies Kinderspiel, von dem ich nicht gering denken möchte,
|
||||
heißt sich Wissenschaft? […] das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das
|
||||
Hineinstecken - Kunst, Religion, Liebe, Stolz.\footcite[188]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
In diesem Modell ist es die schöpferische Kraft des Menschen die, die Welt schafft.
|
||||
Die Wissenschaft hat zu ihrer Aufgabe die so erschaffene Welt zu analysieren und aus
|
||||
den gewonnenen Daten ein wissenschaftliches System zu formen. Diesen Gedanken findet
|
||||
man ebenfalls in der modernen Wissenschaftstheorie wieder, und zwar im Konzept der
|
||||
Operationalisierung. Das ist ein wichtiges Konzept, das ermöglicht, ein Objekt unter
|
||||
bestimmte Begriffe zu subsumieren. Operationalisierung sagt uns nichts über die realen
|
||||
Eigenschaften eines Objektes, es besagt bloß, dass, um einem Objekt einen Begriff
|
||||
zuzuordnen, eine Messmethode angegeben wieden muss. Ein Beispiel aus der Psychologie
|
||||
wäre ein Intelligenztest. Empirisches Problem beim Durchführen eines derartigen Tests
|
||||
ist, dass es nicht klar ist, was Intelligenz eigentlich ist, was genau unter Intelligenz
|
||||
verstanden wird. Man würde den Begriff „Intelligenz“ operationalisierbar machen, wenn
|
||||
man eindeutig eingeben würde, wie die Intelligenz zu messen ist (zum Beispiel anhand
|
||||
eines Tests, der genauso universell für die Messung der Intelligenz ist, wie ein Lineal
|
||||
für die Messung der Länge). Das hätte das Problem mit der Subjektivität und Begrenztheit
|
||||
eines Intelligenztests gelöst, man hätte sie messen können und mit den Messwerten
|
||||
anderer Menschen vergleichen. Dafür, dass der Begriff „Intelligenz“ nun operationalisierbar
|
||||
wäre, würde man jedoch ein anderes Problem bekommen: Bevor man anfängt etwas zu messen,
|
||||
muss man definieren, wie es zu messen ist. In dem Fall mit der Intelligenz bedeutet
|
||||
es, dass man nicht auf die „Idee der Intelligenz“ in einem platonischen Ideenreich
|
||||
zugreift, die objektiv definiert, was die Intelligenz ist, sondern man legt vorher
|
||||
selbst fest, was es ist und wie es zu messen gilt. In den Naturwissenschaften ist
|
||||
es nicht anders: Man misst nicht etwas aus der objektiven Wirklichkeit, sondern nur
|
||||
das, was man messen will, mit Nietzsche gesagt: Man misst nur das, was man in
|
||||
die Natur „hineingesteckt“ hat.
|
||||
|
||||
Man kann Nietzsches Metaphysik auch auf die Wissenschaft anwenden. Wissenschaft
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||||
erscheint in diesem Licht als eine lebensnotwendige Lüge, genauso wie die Welt, die
|
||||
von ihr erforscht wird.
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||||
|
||||
\subsubsection{3. Pessimismus und Optimismus in der Kunst}
|
||||
|
||||
"Nietzsche legt - das Gesamt der geistigen Tätigkeiten durchmusternd - dar, daß Metaphysik, Moral,
|
||||
Religion und Wissenschaft nur verschiedene Formen der Lüge sind."\footcite[12]{schulz:function-and-place}
|
||||
Menschen haben aber das innere Streben nach der Wahrheit, sonst hätte man diese Lügen
|
||||
nicht ausgedacht. Aber auch mit der Kunst steht es nicht viel anders, und Walter Schulz
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schreibt an einer anderen Stelle: "Die Kunst lügt um, aber sie umlügen, weil wir sonst
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nicht leben können."\footcite[11]{schulz:function-and-place}Und wenn auch die
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Welt nur ein Kunstwerk ist, ist auch sie durch und durch lügnerisch. Und wenn man
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diese Wahrheit niemals erreichen kann, weil es sie nach Nietzsche nicht gibt, dann
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hat kann man sich fragen, was für einen Sinn das Leben überhaupt hat, und ob es ausreicht
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sich ästhetisch zu betrügen, wenn man jede Sekunde weiß, dass es nur eine Lüge ist.
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Diese Frage ist entscheidend für Nietzsche, weil er sich nicht als Pessimist verstehen
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will. Wenn er im „Versuch einer Selbstkritik“ dem Optimismus als dem Zeichen des Verfalls
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den Pessimismus gegenüberstellt,\footcite[Vgl.][12 f]{nietzsche:geburt} so
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meint er mit dem „Pessimismus“ in diesem Fall etwas anderes. Optimismus, den Nietzsche
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zu bekämpfen sucht, ist der Optimismus in der Erkenntnis, sokratische Einstellung,
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dass das Sein in seinem Grund vernünftig, geordnet und berechenbar ist. Das ist auch,
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was heute oft als „positives Denken“ bekannt ist. Denke positiv, schließe deine geistigen
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Augen und merke nicht die Probleme und die Welt um dich herum. Diese Lebenshaltung ist zu „apollinisch“.
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Der Gegenbegriff zum Optimismus ist der Pessimismus oder wie Nietzsche sagt „Pessimismus
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der Stärke“.\footcite[12]{nietzsche:geburt} Es zeugt von gewisser
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Stärke, die Welt in ihrem dionysischen Chaos und ihrer Absurdität anzuerkennen und
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trotzdem „Ja“ zum Leben zu sagen. Es gibt aber auch das, was man analog zum „Pessimismus
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der Stärke“ „Pessimismus der Schwäche“ nennen könnte. Das ist, wenn man zwar keine
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Angst hat, in die Abgründe des Seins zu schauen, aber zu schwach ist, die Welt trotz alledem zu bejahen.
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Wie ich oben erwähnte hat Nietzsche die Überschrift der zweiten Ausgabe der „Geburt
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der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ verändert, das Buch hieß nun „Die Geburt der
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Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus“. Im „Versuch einer Selbstkritik“ beschreibt
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er „Griechentum und das Kunstwerk des Pessimismus“,\footcite[12]{nietzsche:geburt}
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wobei die Griechen positiv als Pessimisten beschrieben werden, da Nietzsche sie im
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nächsten Satz die „zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen“\footcite[12]{nietzsche:geburt}
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nennt. Auch in seiner Aufzeichnung zur „Geburt der Tragödie“ aus dem Herbst 1885 -
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Herbst 1886 äußert er sich positiv über die „pessimistische Religion“, die an den
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tragischen Mythos gebunden ist: „Ein Verlangen nach dem tragischen Mythus (nach ‚Religion‘
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und zwar pessimistischer Religion) (als einer abschließenden Glocke worin Wachsendes
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gedeiht)“.\footcite[181]{nietzsche:fragmente}
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In „Ecce homo“, in dem Abschnitt, wo Nietzsche „Die Geburt der Tragödie“ reflektiert,
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verdreht er allerdings die ursprüngliche Bedeutung des zweiten Teils der Überschrift
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und, um anscheinend seine Opposition gegen den „Pessmismus der Schwäche“ zu betonen,
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spricht er von Griechen, die im Gegenteil keinen Pessimismus kannten: „‚Griechenthum
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und Pessimismus‘: das wäre ein unzweideutigerer Titel gewesen: nämlich als erste Belehrung
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darüber, wie die Griechen fertig wurden mit dem Pessimismus, - womit sie ihn überwunden…
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Die Tragödie gerade ist der Beweis dafür, dass die Griechen keine Pessimisten
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waren: Schopenhauer vergriff sich hier, wie er sich in Allem vergriffen
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hat“.\footcite[Vgl.][309]{nietzsche:ecce-homo}
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Es gibt „das Kunstwerk des Pessimismus“,\footcite[12]{nietzsche:geburt}
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das dem Menschen offenbart, was der Pessimismus der Stärke ist, aber es gibt keine
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pessimistische Kunst im Sinne des Pessimismus der Schwäche.
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Das Verständnis von Pessimismus ist der Punkt, in dem Nietzsche sich von seinem geistigen
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Lehrer Schopenhauer absetzt, wie man es aus dem letzten Zitat aus „Ecce homo“ sieht.
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Schopenhauer hat den dunklen, in sich widersprüchlichen Kern des Daseins entdeckt. Nietzsche
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geht einen Schritt weiter und behauptet, dass das Dasein zu bejahen ist. 1888 antwortet
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Nietzsche auf die Frage „Pessimismus in der Kunst?“, die in der Überschrift seiner
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Aufzeichnung steht, folgendermaßen:
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\begin{quote}
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Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung
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des Daseins…\\-: Was bedeutet eine pessimistische Kunst?.. Ist das nicht
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eine contradictio? - Ja.\\Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in
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den Dienst des Pessimism stellt. Die Tragödie lehrt nicht ‚Resignation‘…\\-
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Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der
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Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht… Es giebt keine pessimistische
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Kunst.. Die Kunst bejaht. Hiob bejaht.\footcite[250]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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\subsubsection{4. Ästhetische Rechtfertigung des Daseins}
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Wenn man nach dem Sinn des Lebens fragt, dann fragt man: „Welchen Zweck hat
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das Leben?“. Die Möglichkeit einer vernünftigen
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Antwort auf diese Frage setzt also voraus, dass es eine Zweckmäßigkeit in der Natur
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gibt, dass sie nach einem Prinzip funktioniert. Nun ist der dionysische Grund in dieser
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Hinsicht nicht anders als dessen Vorbild, der Wille bei Arthur Schopenhauer, er „hat
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kein Ziel und ist kein Prinzip, er begründet nichts, richtet nicht und kann folglich
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auch nichts ‚rechtfertigen‘“.\footcite[55]{artisten-metaphysik} Wenn
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die Welt das menschliche Dasein nicht rechtfertigen kann, so kann es nur der Mensch
|
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selbst. Der Mensch projiziert aber sein Bedürfnis nach einem Sinn in die Welt, um
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sich von der Last, sein Dasein rechtfertigen zu müssen, zu befreien. Dies führt zur
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Entstehung großer Systeme wie die Moral oder Religionen. Wenn man aufhört nach dem
|
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Sinn in der Außenwelt zu suchen, weil die menschliche Erkenntnis nicht zuverlässig
|
||||
ist, so ist das Einzige, was übrig bleibt, in sich selbst zu suchen, weil man die
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Grenzen seiner Selbst nicht sprengen kann.\footcite[Vgl.][55]{artisten-metaphysik}
|
||||
Da Nietzsche das bis zum Ende konsequent durchdenkt, kommt er zu dem Schluss, dass
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die Rechtfertigung des Daseins nur von dem Menschen selbst ausgehen kann, wenn
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sie überhaupt möglich sein soll.
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||||
Volker Gerhardt setzt den Gedanken über die Rechtfertigung des Lebens fort und
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||||
verbindet ihn mit den Bedingungen des menschlichen Handelns. Ein mit Sinn erfülltes
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||||
Leben ist die Voraussetzung für das menschliche Handeln, weil, wenn man keinen Grund
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||||
zu leben hat, man auch keinen Grund zu handeln hat, woraus folgt, dass es Nietzsche
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||||
nicht nur um die theoretische, sondern auch um die praktische Philosophie geht.\footcite[Vgl.][52--54]{artisten-metaphysik}
|
||||
Deswegen hat die Lösung des Problems, ob das Dasein für den Menschen befriedigend
|
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gerechtfertigt werden kann, weitreichende Konsequenzen für das individuelle und gesellschaftliche
|
||||
Leben, das aus handelnden Subjekten besteht, obwohl Nietzsche nichts über den möglichen
|
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funktionalen Zusammenhang von ästhetischen und theoretischen (oder praktischen) Einsichten"\footcite[Vgl.][56]{artisten-metaphysik}
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sagt.
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V. Gerhardt unterscheidet zwischen der Rechtfertigung der Welt und des individuellen
|
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Daseins. Der Mensch als handlungsfähiges Subjekt ist auf die Interaktion mit den anderen
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Menschen und der Umwelt angewiesen, das heißt, um das eigene Leben und Handeln als
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sinnvoll zu erfahren, muss das menschliche Subjekt sein eigenes Dasein im „Lauf der
|
||||
Dinge“\footcite[Vgl.][56]{artisten-metaphysik} verstehen. Bei Nietzsche ist
|
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es nicht möglich, weil die Rechtfertigung der Welt und des eigenen Daseins verschmelzen,
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es ist schließlich nur der Mensch selbst, der allem Sinn gibt. Man kann also sein
|
||||
Dasein nicht in den „Lauf der Dinge“ integrieren, sondern nur in seine eigene Einbildung
|
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oder in den vom Zufall gesteuerten Traum eines höheren Wesens. Kann so etwas als „Rechtfertigung“
|
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und „Sinngebung“ gelten, oder wäre es ehrlicher mit dem Schopenhauers Pessimismus zu bleiben?
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||||
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||||
Dazu muss man sagen, dass, wenn man den Geist aus der Welt vollständig ausklammert,
|
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als etwas, was empirisch nicht nachgewiesen werden kann (und es ist das Ziel Nietzsches,
|
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ohne eine Hinterwelt auszukommen), es keine bessere Lösung gibt. Eine physische, von
|
||||
den Naturgesetzen gelenkte Welt ist uns genauso fremd wie der absurde Traum des Dionysus.
|
||||
Wenn wir unser Dasein als ein Glied in der Geschichte der Menschheit verstehen können,
|
||||
dann nimmt diese Geschichte ihren Anfang im Nichts und sie wird sich am Ende im Nichts
|
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auflösen. Die individuelle Existenz ist in diesem Modell absolut sinnlos, obwohl es
|
||||
in ein größeres Ganzes eingebaut werden kann. Das Letzte, was dem Menschen bleibt,
|
||||
sich und seiner Umwelt selbst einen Sinn zu geben. Und da ist man schon wieder bei
|
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Nietzsche. Dass er die Rechtfertigung des Daseins und diejenige der Welt nicht auseinanderhält,
|
||||
ist ein richtiger Schachzug von ihm: Die Existenz der Welt ist sowieso sinnlos (oder
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wird als solche erfahren), wenn es die menschliche Existenz ist.
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||||
Ein anderes Argument, das V. Gerhardt bringt, ist, dass die Kunst, die das Leben
|
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rechtfertigen soll, an Voraussetzungen gebunden ist, die sie dann zu erklären
|
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versucht. In einem anderen Artikel, „Nietzsches ästhetische Revolution“ spricht
|
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er von der „Dequalifizierung des Kunstbegriffs“:
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\begin{quote}
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||||
Erstens geht der Begriff der Kunst dem des Lebens methodisch
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voraus. Allein das vorgängige Verständnis der Kunst ermöglicht, wenn überhaupt noch,
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das Leben zu verstehen. Alle anderen Modelle, die von den Wissenschaften bereitgestellt
|
||||
worden sind - bis hin zur mechanischen Erklärung der Lebensprozesse -, hält Nietzsce
|
||||
für gescheitert. Nur als Analogon der Kunst ist das Leben noch sinnvoll mit den historisch
|
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inzwischen unumgänglich gewordenen Erfahrungen zu
|
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verbinden.\footcite[25]{revolution}
|
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\end{quote}
|
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||||
Aber andererseits wird das Leben oder bestimmte Erfahrungen im Leben vorausgesetzt, weil
|
||||
„wenig so stark an ein Gegenteil gebunden ist wie gerade die Kunst. Die ästhetische
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||||
Erfahrung braucht, um Stimulans zu sein, die Not und die Enge des
|
||||
Lebens“,\footcite[64]{artisten-metaphysik} weil die Welt uns sich
|
||||
selbst nicht als ein Kunstwerk präsentiert.\footcite[Vgl.][65]{artisten-metaphysik}
|
||||
|
||||
Dazu kommen noch erkenntnistheoretische Voraussetzungen. Nietzsche erklärt die
|
||||
Erkenntnis mithilfe der Kunst, aber zunächst muss man \textit{erkennen}, was die
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||||
Kunst ist.\footcite[Vgl.][65]{artisten-metaphysik}
|
||||
|
||||
Aber leider auch in diesem Fall bleibt einem nichts Besseres übrig. Sagen wir,
|
||||
ich werde anerkennen, dass die theoretische Erkenntnis ist, was die Kunst begründet
|
||||
und nicht umgekehrt. Was gibt mir aber die Sicherheit, dass meine Erkenntnis keine
|
||||
Illusion, keine Einbildung ist? Was gibt mir die Sicherheit, dass meine Erkenntnis
|
||||
nicht an andere Voraussetzungen gebunden ist, zum Beispiel an die Kunst. Woher kann
|
||||
ich wissen, dass es nicht die Kunst ist, die die Erkenntnis möglich macht? V. Gerhardt
|
||||
hat recht, dass die logische Erkenntnis und die Logik der Kunst methodisch vorausgehen,
|
||||
was aber nicht bedeutet, dass sie ihr auch ontologisch übergeordnet sind. Die Natur
|
||||
der menschlichen Erkenntnis ist so, dass sie immer reflexiv ist. Erst in der Reflexion
|
||||
kann man die Frage stellen, ob die theoretische Erkenntnis die Kunst begründet oder
|
||||
umgekehrt. Wenn man überhaupt keine Voraussetzungen machen will, landet man im Skeptizismus,
|
||||
aus dem man nicht mehr rauskommt.
|
||||
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||||
Wenn Nietzsche alles der Kunst unterordnet und sagt, dass man sein Leben selbst
|
||||
künstlerisch gestaltet und es so etwas wie Wahrheit nicht gibt, so bleibt er seinem
|
||||
Wort treu, egal wie absurd es klingen mag. So schreibt er im Sommer 1883:
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||||
|
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\begin{quote}
|
||||
Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei
|
||||
der es uns am freiesten zu Muthe wird; d.h.\ bei der unser mächtigster Trieb sich
|
||||
frei fühlt zu seiner Thätigkeit. So wird es auch bei mir
|
||||
stehn!\footcite[111]{nietzsche:fragmente}
|
||||
\end{quote}
|
||||
|
||||
Ist es ein Selbstwiderspruch? Genau. Das ist die naive Ehrlichkeit, die Nietzsches
|
||||
Schriften kennzeichnet. Er scheint keine Angst zu haben, sich selbst zu widersprechen,
|
||||
und tat es absichtlich, weil er von dem Sein wusste, das in sich selbst widersprüchlich
|
||||
ist, weil er es als Solches erlebt hat. Er versuchte diese Widersprüche in sich zu
|
||||
vereinigen um dem Sein gerecht zu werden.\footcite[Vgl.][187]{ries:geburt}
|
||||
Es ist nicht so, wie V. Gerhardt behauptet, dass nur die Kunst das Leben oder bestimmte
|
||||
Lebenserfahrungen voraussetzt, weil die logische Erkenntnis es auch tut, sie ist an
|
||||
dieselben Bedingungen gebunden. Das Vorhandensein solcher Menschen wie Friedrich Nietzsche
|
||||
ist gerade der Beweis dafür, dass man im Leben auch Erfahrungen sammeln kann, die
|
||||
zu einem ästhetischen Weltbild führen und nicht zu einem logischen. V. Gerhardt fragt,
|
||||
warum die Welt uns nicht als ein Kunstwerk erscheine?\footcite[Vgl.][65]{artisten-metaphysik}
|
||||
Man kann auch die Gegenfrage stellen: Warum erscheint uns die Welt nicht als ein logisches
|
||||
System? Warum stellt Philosophie, wie Klaus Kornwachs sagt, seit zwei Jahrtausenden
|
||||
Fragen, die sie und keine Wissneschaft beantworten kann?\footcite[Vgl.][7]{kornwachs:technik}
|
||||
Vielleicht, weil die Welt ein Kunstwerk ist, in das wir unsere logischen Denkgesetze
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übertragen? Von dem Standpunkt des Lebens betrachtet kann die Welt nicht nur als ein
|
||||
logisches, sondern auch als ein ästhetisches Werk gedeutet werden.
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||||
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Das Problem einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt bleibt trotzdem sehr schwer
|
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zu lösen. Das endliche Dasein auf der Erde kann Einem sinnvoll erscheinen, weil nur
|
||||
wenn jemand begrenzte Zeit im Leben hat, man mehr zu erreichen versucht, und sich
|
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mehr um sein Leben kümmert. Für den Anderen kann es umgekehrt zwecklos sein, sich
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um etwas zu bemühen, wenn alles eines Tages sowieso untergeht. Aber ist es nicht bereits
|
||||
eine ästhetische Rechtfertigung, mit der man versucht seinem Leben Sinn zu erteilen,
|
||||
indem man entweder sein Leben als eine kurze Theateraufführung versteht, oder ein
|
||||
geistiges Reich erschafft, in dem man ewig leben kann.
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||||
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||||
Es stellt sich auch die Frage, warum man sein Dasein überhaupt rechtfertigen soll?
|
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Warum muss man das eigentlich in der Kunst umlügen? Man kann in Schopenhauers Pessimismus
|
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Schwäche sehen, weil er nicht stark genug war, das Ekelhafte und Grauenvolle zu beja-
|
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hen. Man kann aber genauso Nietzsches Pessimismus als eine Schwäche interpretieren,
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eine Schwäche, sich der Grausamkeit, Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit Gesicht zu
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Gesicht zu stellen. Die Antwort auf diese Frage ist auch nicht von der Erfahrung zu
|
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trennen, die der Mensch im Leben macht. Theoretisch wollte Nietzsche die Kunst als
|
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Stimulans des Lebens begreifen. Aber inwieweit ist es möglich für ein Wesen, das nach
|
||||
der Wahrheit strebt (und Nietzsche strebt auch nach Wahrheit des Dionysus), an eine
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Lüge zu glauben, über die man weiß und die man sich sogar selbst ausgedacht hat. Ist
|
||||
es möglich auch auf der praktischen Ebene sich dermaßen zu belügen, oder ist die Kunst
|
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doch nur ein Quietiv und hilft nur, das Leben etwas zu verschönern, um nicht an der
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||||
Wahrheit zu Grunde zu gehen? Es ist also die Frage, ob man eine theoretische Einstellung
|
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zum Leben auch in der Praxis realisieren kann, wo einem so viele Hindernisse im Wege stehen.
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layout: post
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date: 2015-05-07 18:17:00
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tags: Aufsatz
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title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 4. Abschließende Bemerkungen
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teaser: |
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<p>
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Der Welt, aus der die Wissenschaft die Geistigkeit vertrieben hat, die
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||||
genauso wie ihr Gott „getötet“ und zu einem physischen Mechanismus gemacht
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wurde, schenkt Friedrich Nietzsche ein neues Leben, neue Dynamik, die
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Dynamik eines Kunstwerkes, das noch nicht vollendet ist und niemals
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||||
vollendet sein wird.
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</p>
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\epigraph{Eigentlich sollte ich einen Kreis von tiefen und zarten
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Menschen um mich haben, welche mich etwas vor mir selber schützten und mich auch zu
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erheitern wüßten: denn für einen, der solche Dinge denkt, wie ich sie denken muß,
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||||
ist die Gefahr immer ganz in der Nähe, daß er sich selber zerstört.}
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{\textit{Herbst 1885 -- Frühjahr 1886}\\\textbf{Friedrich Nietzsche}\footcite[170]{nietzsche:fragmente}}
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||||
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Der Welt, aus der die Wissenschaft die Geistigkeit vertrieben hat, die genauso
|
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wie ihr Gott „getötet“ und zu einem physischen Mechanismus gemacht wurde, schenkt
|
||||
Friedrich Nietzsche ein neues Leben, neue Dynamik, die Dynamik eines Kunstwerkes,
|
||||
das noch nicht vollendet ist und niemals vollendet sein wird. Seine Theorie von der
|
||||
ästhetischen Rechtfertigung des Lebens hat er in die Praxis umgesetzt, er komponierte
|
||||
sein schriftliches Werk: „Sie hätte singen sollen, diese ‚neue Seele‘ --- und nicht
|
||||
reden!“,\footcite[15]{nietzsche:geburt} klagt er im „Versuch einer Selbstkritik“
|
||||
darüber, dass er nicht gewagt hat, in seinem Erstlingswerk „als Dichter“\footcite[15]{nietzsche:geburt}
|
||||
zu sprechen. Und Wiebrecht Ries bemerkt, dass in der „Zarathustra-Dichtung“ erfüllt
|
||||
ist, „daß die Rede Musik wird, und dies in gleicher Weise wie der Gedanke Seele wird.“\footcite[138]{ries:geburt}
|
||||
Nietzsches Leben wurde wie eine Tragödie aus dem Geiste der Musik, die ihn sein Leben
|
||||
lang inspirierte,\footcite[Vgl.][18]{ries:geburt} geboren.
|
||||
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||||
„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ vernichtet Nietzsches Karriere, weil die Behauptungen
|
||||
wie, dass die Existenz nur eine „Theateraufführung“ im Bewusstsein eines mythischen
|
||||
Wesens, „provozierend gemeint [sind], aber sie […] einen unbeabsichtigten Zweifel
|
||||
an der Nüchternheit und Zuverlässigkeit des Autors als humanistischen Gelehrten“\footcite[187]{hayman:biographie}
|
||||
provozieren. „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der
|
||||
Wahrheit zu Grunde gehn.“,\footcite[279]{nietzsche:fragmente} heißt es 1888.
|
||||
Dennoch geht er an der dionysischen Wahrheit zu Grunde und erleidet einen Zusammenbruch.\footcite[Vgl.][439]{hayman:biographie}
|
||||
„Das Finale im Wahnsinn verlieh dem Werk rückwirkend eine dunkle Wahrheit: da war
|
||||
offenbar jemand ins Geheimnis des Seins so tief eingedrungen, daß er darüber den Verstand
|
||||
verloren hatte.“\footcite[331]{safranski:biographie} Nietzsches Schwester Elisabeth,
|
||||
die noch zu Lebenszeiten seines Bruders alle Rechte auf seine Werke bekommen hat,
|
||||
hat sich nach seinem Zusammenbruch um die Ausgabe seiner Schriften gekümmert\footcite[Vgl.][537 f]{hayman:biographie}
|
||||
und ein Nietzsche-Archiv eröffnet.\footcite[454]{hayman:biographie} Bereits
|
||||
1893 war die Nachfrage nach Nietzsches Büchern „sprunghaft angestiegen“.\footcite[454]{hayman:biographie}
|
||||
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||||
Also hat die dionysische Selbstzerstörung eines Philosophie-Künstlers etwas Neues hervorgebracht: sein Werk.
|
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layout: post
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date: 2015-11-01 21:51:00
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tags: Gedicht
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title: Niemals hat die Mutter Ruhe…
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teaser: |
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<p>
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Niemals hat die Mutter Ruhe,<br>
|
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die ihre Tochter sah im Grab.<br>
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Die Liebeskummer, die ich hab’<br>
|
||||
sei nur unbequem wie neue Schuhe.
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</p>
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<p>
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Ich bedauere Ihr’n Verlust sowie,<br>
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dass Sie noch nie entbrannten,<br>
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nie in 60 Jahren kannten,<br>
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was sie ist, die Liebeslust.
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</p>
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Niemals hat die Mutter Ruhe,\\
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die ihre Tochter sah im Grab.\\
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Die Liebeskummer, die ich hab’\\
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sei nur unbequem wie neue Schuhe.
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Ich bedauere Ihr’n Verlust sowie,\\
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dass Sie noch nie entbrannten,\\
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nie in 60 Jahren kannten,\\
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was sie ist, die Liebeslust.
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