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date: 2024-07-19 22:45:00
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tags: Aufsatz
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title: Anna
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\epigraph{
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Manche wilde Frühlingspflanze\\
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kann ein Gärtner tief verpflanzen.\\
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Kann auch Blumen ins Wasser stecken,\\
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und sie werden bald verwelken.
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}{}
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»Entschuldigung, Gunzenhausen.« Anna sieht mich hoffnungsvoll an und
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zeigt mir auf die Gleise.
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Ich bin etwas verwirrt, weil ich den Ort, den sie sucht nicht kenne,
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und überlege mir, wie ich ihr helfen kann.
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»Gunzenhausen.«, wiederholt sie nochmal.
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Die Treppe zum Bahnsteig steigt eine andere Frau auf. Anna hat
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verstanden, dass mit mir nichts zu gewinnen ist, und wechselt zu dieser
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Frau, die sie auf die Bahnanzeige verweist und sagt, dass es der Zug
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sei, den sie nehmen wolle. Aber der Zug kommt erst in 40 Minuten. Anna
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versucht der Frau etwas zu erklären. Ich höre einige russiche Wörter,
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die sie versehentlich in ihren Satz einbaut. Das sagt mir auch, dass sie
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höchstwahrscheinlich nicht gut Deutsch kann. Ich fange an, mit ihr
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Russisch zu sprechen, und versuche 'rauszufinden, was sie sucht. Sie
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fragt mich, ob sie mein Handy nutzen darf, um nachzuschauen, welche
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Möglichkeiten sie hat, um nach Gunzenhausen früher zu kommen.
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Ich gebe ihr mein Handy und bedanke mich vor der anderen Frau auf dem
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Bahnsteig, die da steht, ohne zu verstehen, was sie hört, und sage ihr,
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dass ich Anna helfen werde.
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»Kein Problem.«, sagt die Frau und geht weiter.
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Wir bleiben alein. Anna findet keine Worte, um ihre Unmut zu
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beschreiben:
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»Oh nein, das kann doch nicht wahr sein! In Gunzenhausen wartet ein
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Taxi auf mich um 19:10. Mein vorheriger Zug ist zu spät gekommen, ich
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konnte nicht rechtzeigt umsteigen, und jetzt werde ich erst eine Stunde
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später in Gunzenhausen ankommen als geplant. Unglaublich!«
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»Ich wollte auch diesen Zug erwischen, und jetzt muss mindestens 2
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Stunden länger fahren.«, erkläre ich lächelnd.
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Sie erwidert mein Lächeln und gibt mir die erste Möglichkeit, sie
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genauer anzuschauen. Sie hat ein junges, gutwilliges Gesicht und
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blonde, lockige Haare, die knapp bis ihre Schulter reichen. Die Linke
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Schulter ihres weißen Kleides ist 'runtergerutscht, sodass Annas linke
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Schulter, ob in Eile oder mit Absicht, nackt ist.
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»Man kann sich auf die Deutshce Bahn nicht verlassen, wenn man irgendwo
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pünktlich ankommen will. So ist es überall in Deutschland die letzten
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Jahre.«, setze ich fort.
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»Krass, unglaublich. Was soll dieser Unfug, ich will in die Ukraine
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zurück.«
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Wir gehen etwas weiter entlang des Bahnsteiges und entfernen uns von
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der Treppe. Sie beschwert sich weiter, dass sie jetzt womöglich durch
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einen Wald nach Hause laufen muss, weil sie ihr Taxi verpassen wird. Ich
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bin auch besorgt, weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich heute noch
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nach Hause komme.
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»Du bist aus der Ukraine also?«, frage ich sicherheitshalber.
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»Ja.«, bestätigt sie.
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»Darf ich fragen, wie du heißt?«
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»Anna.«
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»Ich bin Eugen.«
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»Freut mich.«
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»Freut mich auch. Wie lange bist in Deutschland?«
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»Seit der Krieg ausgebrochen ist. Wie lange ist das her… 2 Jahre schon.
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Wo kommst du her?«
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»Aus Russland, aus dem hohen Norden.« sage ich, »Ich bin ein
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Russlanddeutscher, also ich habe deutsche und russische Vorfahren, und
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lebe schon viele Jahre in Deutschland«, fahre ich fort, als ob ich mich
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rechtfertigen würde, dafür dass ich in Russland aufgewachsen bin.
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In der Zwischenzeit kommt ein langer Güterzug mit ein paar leeren
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Waggons an das Gleis.
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»Vielleicht können wir fragen, wohin der Güterzug fährt, und den
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nehmen, falls er in dieselbe Richtung fährt?«, wundert sich Anna laut.
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Ich lache und sage, dass ich an sich nicht so abenteuerfreudig bin,
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aber hörte, dass Jelzin in seiner Jugend so manchmal gereist hatte.
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Sie schaut mich lächelnd an und ich sehe, wie Sorglosigkeit leuchtet in
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ihren Augen. Wir fangen an, zum Kopf des Zuges zu gehen.
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Während wir jetzt mehr sprechen, höre ich nun auch ihre ukrainische
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Mundart deutlicher und mutmaße, dass sie aus der Westukraine stammt.
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Bald rührt sich auch der Güterzug und wir verstehen, dass auch aus
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dieser Idee nichts wird, und kehren zurück.
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»Ich will nach Hause, in die Ukraine.«, wiederholt sie, »Es gibt hier
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nichts, was wir nicht haben. Wenn du einen beliebigen Ukrainer fragst,
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ob er etwas in Deutschland bewundert, was er in seiner Heimat nicht
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hatte, so etwas gibt es nicht. Ich bin schon beinahe zurückgegangen,
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aber dann fiel eine Rakete auf ein Kinderkrankenhaus. Hast du gehört?
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Ich nicke.
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»Das ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Teile vom Krankenhaus
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sind gestürzt, und Menschen haben sich in eine Schlange gestellt und
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räumen selbst die Steine, um den Weg freizulegen und andere zu retten.«
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»Ja, bei großen Überschwemmungen kommen auch hier Leute aus ganz
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Deutschland, um zu helfen, weil die Regierung nicht rechtzeitig
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reagiert.«, sage ich, um hinzuweisen, dass Menschen in Not überall
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gleich handeln.
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»Auf wenn soll man warten?«, stellt sie die rhetorische Frage.
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»Du bist aus Kiew?«
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»Ja. Ich frage immer ganz besorgt meine Mutter, wie sie dort mit meinem
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kleinen Bruder lebt. Aber meine Mutter schenkt dem Geschehen nicht mehr
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so viel Aufmerksamkeit. „Als ob ständig Motorräder durch den Himmel
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fahren würden“«, zitiert sie ihre Mutter lachend, »Es gibt verschiedene
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Stufen von Alarm-Signalen. Bei stärkerem Beschuss gehen Menschen in den
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Keller und kommen danach zurück.«
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Menschen leben ihr Leben weiter. Auch unter grausamen Bedingungen. Es
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gibt nur weniges, woran sich der Mensch nicht gewöhnt. Der Rest geht in
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den Alltag über. Ich erinnerte mich an Berichte aus der Ostukraine aus
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der Zeit des Bürgerkrieges, bevor die russische Armee einmarschiert
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ist. Wohngebiete unter Beschuss, aber Menschen stehen jeden Tag auf,
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Erwachsene gehen zur Arbeit, Kinder --- zur Schule.
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Ich hörte Anna mit Interesse zu, und vermied Beurteilungen und Suche
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nach Schuldigen. Auch Anna schien diesen Bereich nicht anfassen zu
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wollen. Es war möglicherweise die Angst, dass es unser Gespräch in
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einen sinnlosen Streit verwandeln würde. Bei näherem Betrachten, welche
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Rolle spielt das? Ich bin am bewaffneten Konflikt zwischen Russland und
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der Ukraine nicht Schuld. Sie ist das auch nicht. Sie hat nur Heimweh
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und will ihr Leben zurück haben.
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»Kannst du vielleicht den Taxi-Dienst anrufen und fragen, ob die Fahrt
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verschoben werden kann?«, hat Anna mich gebeten.
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Sie hat die Telefonnummer des Taxi-Unternehmens rausgesucht. Ich habe 2
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mal versucht, konnte aber niemanden erreichen. Während ich wartete,
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dass jemand ans Telefon geht, haben wir angefangen über unser Alter zu
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sprechen. Sie ist fast 15 Jahre jünger als ich.
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»Du siehst 7 Jahre jünger aus als du bist.«, sagt sie mir, nachdem ich
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ihr Alter beim zweiten Versuch richtig raten konnte.
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»Eltern sagen öfters, dass wir für sie immer klein, immer Kinder
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bleiben. Aber auch sie bleiben in meiner Erinnerung im selben Alter,
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vielleicht 40--50 Jahre alt, im Alter, in dem ich sie als Kind kannte.«
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Ich erzähle das und lache dabei, um meine Aussage weniger ernst zu
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machen, weil ich nicht weiß, ob sie das lächerlich findet oder ähnlich
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empfindet wie ich. »Vielleicht altern wir heutzutage nicht so schnell,
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weil das Leben nicht mehr so hart ist.«
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»Ich habe einen Freund mitte zwanzig. Er ist, naja…«, sie hat eine kurze
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Pause gemacht, »er hat militärischen Hintergrund. Er ist plötzlich und
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rasch viel älter geworden, sehr ernst geworden.«
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Es gibt eine andere Dimension des Alterns. Man hört gelegentlich, dass
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manch ein Mensch einfach nicht erwachsen wird. Nur sein Körper wird
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älter. Aber auch hier gibt es Unterschiede. Die einen handeln kindisch,
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die anderen haben die Seele eines Kindes; eine Seele, die verzeihen
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kann, die keine Angst hat zu vertrauen und zu lieben. Hat Christus
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nicht gesagt, dass das Himmelreich den Kindern gehört.
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Und es gibt Menschen, die alt geboren werden. Schon in frühen Jahren
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lernen sie, dass alles Weltliche vergeht, dass jede Freundschaft und
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jede große Liebe ein Ende haben. Dass man sich auf die Worte seines
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Gegenübers niemals verlassen kann, denn süße Worte wie Zucker auf der
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Zunge zergehen und nur einen Nachgeschmack aus unreinen Absichten
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hinterlassen.
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Ab einem bestimmten Zeitpunkt, schien die Zeit schneller zu laufen. Wir
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mussten uns immer wieder ein neues Gesprächsthema überlegen, und
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Themenwechsel wurde immer wieder von größeren Pausen begleitet. Dann
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kam schon der Zug, auf den wir sehnsüchtig gewartet haben. Anna konnte
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ihr Handy aufladen und ihre Bekannte kontaktieren, die sie mit Auto von
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Bahnhof abholen würden. Sie musste auf dem Halbweg aussteigen, ich bis
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zum Ende der Strecke fahren. Wir haben uns voneinander verabschiedet
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und einander eine gute Fahrt gewünscht.
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In dem nächsten Zug, in dem ich meine Fahrt fortführte, befand sich
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eine Gruppe der Menschen, die untereinander gemischt Russisch und
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Ukrainisch gesprochen haben. Als wir uns der Haltestelle näherten,
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haben sie sich überlegt, wie sie den Rollstuhl eines ihrer Kollegen
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durch den engen Gang im Zug zur Tür durchbringen können.
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»Was ist mit ihm geschehen? Unfall? etwas anderes?«, fragte ein
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Einheimischer ein Mädchen aus der Gruppe.
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»Ich weiß es nicht.«
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»Seid ihr nicht alle zusammen?«
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»Oh nein, wir haben uns erst hier getroffen. Ja, ich glaube, es war ein Unfall.«
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