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date: 2021-01-18 08:09:45
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tags: Aufzeichnungen eines Pessimisten
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title: Schuld
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teaser: |
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<p>Der ästhetische Mensch kennt keine Schuld, weil er sein Leben seinen
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Leidenschaften allein widmet, ohne Rücksicht auf etwas anderes zu nehmen. Er
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bereut nichts, fühlt sich nicht schuldig. In den von Victor Eremita
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herausgegebenen Papieren findet sich die Ansicht, dass die Schuld dem
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Individualismus entspringt. Ein Individuum kann nicht mehr sein Schicksal,
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seinen Stamm und dessen Götter für sein Leid verantwortlich machen. Das
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Individuum ist alleine seines Glückes Schmied. Diese Verantwortung, alles
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unter Kontrolle zu haben, ist kaum zu ertragen. Das Religiöse bringt Erlösung
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und befreit mittels eines Ritus von der individuellen Schuld.</p>
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Der ästhetische Mensch kennt keine Schuld, weil er sein Leben seinen
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Leidenschaften allein widmet, ohne Rücksicht auf etwas anderes zu nehmen. Er
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bereut nichts, fühlt sich nicht schuldig. In den von Victor Eremita
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herausgegebenen Papieren findet sich die Ansicht, dass die Schuld dem
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Individualismus entspringt. Ein Individuum kann nicht mehr sein Schicksal,
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seinen Stamm und dessen Götter für sein Leid verantwortlich machen. Das
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Individuum ist alleine seines Glückes Schmied. Diese Verantwortung, alles
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unter Kontrolle zu haben, ist kaum zu ertragen. Das Religiöse bringt Erlösung
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und befreit mittels eines Ritus von der individuellen Schuld.
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Nietzsche stellt dieses Verhältnis vom Ästethischen und Religiösen auf den
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Kopf und sagt, dass die Schuld erst durch das Religiöse in die Welt kommt.
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„Nur aesthetisch giebt es eine Rechtfertigung der Welt. Gründlicher
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Verdacht gegen die Moral (sie gehört mit in die Erscheinungswelt).“
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(Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe, 2 [110], Zur „Geburt der Tragödie“).
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Dem modernen Menschen ist das Religiöse genauso fremd wie das Ästhetische,
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deswegen steckt er zwischen diesen 2 Stadien, im Ethischen: sei ein treuer
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Freund, ein guter Familienmensch, ein rechtschaffener Bürger. Aber kein
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Mensch ist unfehlbar. Und man verschuldet sich immer mehr und schämt sich
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dafür, was er getan oder nicht getan hat.
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Eine neue Weisheit lehrt, dass wir an unserem Leid selbst schuld sind,
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weil wir falsch denken. So versuchen wir richtig zu denken
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und unser Leid unter Bergen eingeprägter Parolen zu vergraben: „Hauptsache
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glücklich sein“, „weniger denken“, „sei du selbst“, „denke positiv“.
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Das moderne Ethische hat keine Begründung, keinen Halt. Es ist einfach da,
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ab dem Moment, in dem unsere Mutter uns verbietet, Finger in eine
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Steckdose zu stecken, bis zum Moment, in dem wir unsere krankhaften Augen
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eines Morgens vor Scham und Schmerzen nicht mehr öffnen können. Dieses Herumirren
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im Ozean des Ethischen haben wir irrtümlicherweise als Freiheit oder freie
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Entfaltung bezeichnet. So sind wir entweder daran schuld, dass wir keine
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rechtschaffenen Bürger, guten Nachbarn, treuen Ehegatten sind, daran, dass wir
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nicht normal sind; oder eben daran, dass wir rechtschaffene Bürger, gute
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Nachbarn, treue Ehegatten sind, daran, dass wir normal sind (denn wir seien dann
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offensichtlich nicht wir selbst, sondern wir spielen eine Gesellschaftsrolle).
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„Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen;
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entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides.“
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(„Entweder-Oder“, Sören Kierkegaard). So versucht der Mensch
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glücklich zu sein und scheitert, und fühlt sich deswegen schuldig, weil
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die wahre Glückseligkeit nach Plato unabhängig von allen äußeren Faktoren
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sei, und verzweifelt daran, dass er nicht stark genug sei, glücklich zu sein.
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