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date: 2015-04-30 11:35:00
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tags: Aufsatz
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title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 3. Die Kunst und das Leben
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teaser:
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<p>
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Nietzsche unternimmt einen neuen Versuch, dem Leben, so wie es ist, einen
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Sinn zu geben. Es ist keine Rechtfertigung, die auf eine bestimmte Theologie
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oder ein Moralsystem stützt, sondern dies ist die Rechtfertigung eines
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Künstlers. Nur als ein ästhetisches Phänomen lässt sich das Dasein als
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lebenswert erfahren.
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</p>
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\epigraph{Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große
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Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.}
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{\textit{Mai -- Juni 1888}\\
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\textbf{Friedrich Nietzsche}\footcite[283]{nietzsche:fragmente}}
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In der „Geburt der Tragödie“ steht ein bekannter Satz, der oft zitiert wird. Nietzsche
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unternimmt einen neuen Versuch, dem Leben, so wie es ist, einen Sinn zu geben. Es ist keine
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Rechtfertigung, die auf eine bestimmte Theologie oder ein Moralsystem stützt, sondern
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dies ist die Rechtfertigung eines Künstlers. Nur als ein ästhetisches Phänomen lässt
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sich das Dasein als lebenswert erfahren.\footcite[Vgl.][47]{nietzsche:geburt}
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Alles andere ist hilflos gegen die Weisheit des Silen. 1878 stellt Nietzsche die Moral
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der Kunst entgegen und schreibt rückblickend:
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\begin{quote}
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Damals glaubte ich daß die Welt vom aesthetischen Standpunkt
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aus ein Schauspiel und als solches von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als
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moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schlusse kam, daß nur als
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aesthetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse.\footcite[55]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Nur als Teilnahme am Traum eines göttlichen Wesens kann die menschliche Existenz
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gerechtfertigt werden, nur so können die extremen Widersprüche im menschlichen Dasein
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erträglich gemacht werden.\footcite[Vgl.][59 ff]{ries:geburt}
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Mithilfe der Kunst versucht Nietzsche dem Pessimismus und Nihilismus zu entkommen
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und sagen: Das Leben muss bejaht werden! W. Ries nennt die Rechtfertigung des Lebens
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bei Nietzsche „die letzte Bastion gegenüber einer Gegenwart […], welche durch
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die universale Banalisierung ihrer reduzierten Lebensvollzüge funktionalistisch charakterisiert
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werden kann, einer Gegenwart, aus welcher ‚die Götter‘ ebenso endgültig verschwunden
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sind wie ‚die griechische Heiterkeit‘ und an deren Trivialität es nichts mehr zu ‚rechtfertigen‘
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gibt.“\footcite[66]{ries:geburt}
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\subsubsection{1. Die Kunst als Wahrheit oder die Kunst anstatt der Wahrheit}
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Der Grund, warum Nietzsche die alten Ideale wie Religion und Moral als nicht
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lebenstauglich verwirft, liegt darin, dass sie ein objektives System von
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Urteilen voraussetzen, zum Beispiel einen Gott und ein göttliches Gesetz oder
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die Idee des Guten, gegenüber welchen Nietzsche sehr skeptisch ist. Erkenntnistheoretisch
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besteht das Problem darin, dass man sie nicht mit voller Sicherheit begründen kann.
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Im Fall mit der Religion spielt der Glaube eine enorme Rolle und die Glaubenssätze
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können nicht auf die logische Ebene zurückgeführt werden, sonst würde es sich um keine
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Religion, sondern um eine Wissenschaft handeln. Im Fall mit der Moral besteht die
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Gefahr, dass alle Normen, die als objektiv gültig zu sein scheinen, bloß eine Folge
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der kulturellen Entwicklung sind, sodass die Moral sich dann als „eine Summe von
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Vorurtheilen“\footcite[67]{nietzsche:fragmente} entlarven lässt. Die
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menschliche Entwicklung und die kulturellen Zusammenhänge sind oft dermaßen
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kompliziert, dass es sich kaum unterscheiden lässt, was objektiv und was ein
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subjektives (oder ein kollektives) Vorurteil ist. Im Sommer 1880 stellt Nietzsche
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die Moral der Wissenschaft gegenüber:
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\begin{quote}
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In den Wissenschaften der speziellsten Art redet man
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am bestimmtesten: jeder Begriff ist genau umgrenzt. Am unsichersten wohl in der Moral,
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jeder empfindet bei jedem Worte etwas Anderes und je nach Stimmung, hier ist die Erziehung
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vernachlässigt, alle Worte haben einen Dunstkreis bald groß bald eng werdend.\footcite[66]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Auch der moderne Pluralismus lehrt, dass es nicht so einfach ist, eine Religion
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oder ein Moralsystem in den Bereich des Absoluten zu erheben.
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Volker Gerhardt findet Nietzsches Hervorheben der ästhetischen Seite des Daseins
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provokativ und fragt: „Wie weit reicht eigentlich die Provokation des moralischen
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Denkens durch die Forderung nach einer ganz und gar ästhetischen Betrachtung des Seins?“\footcite[47]{artisten-metaphysik}
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Ist Nietzsches Argumentation ernst gemeint oder will er einfach in jeder Diskussion
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Recht behalten, indem er moralische Urteile relativiert und an ihre Stelle ästhetische
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Sichtweise erhebt? V. Gerhardt argumentiert, dass es kränkend sei, wenn jemand moralische
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Argumente bringt, die von dem Opponenten nicht ernst genommen werden, sodass der Letztere
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sich noch berechtigt fühlen könne, seine Untat zu rechtfertigen und zu wiederholen.
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Außerdem kann man einen solchen „Künstler“ überhaupt ernst nehmen, wenn „Grausamkeiten
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belächelt, fremde Qualen genossen und eigene Pflichten bloß theatralisch genommen
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werden“?\footcite[Vgl.][47]{artisten-metaphysik} Darauf kann man zweierlei antworten:
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\begin{enumerate}
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\item
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Innerhalb eines Freundeskreises, einer Kultur oder sogar einer Epoche
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würde vielleicht tatsächlich „jeder von uns empört, wenn ein ernstes moralisches Anliegen
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durch Hinweis auf ästhetische Reize zurückgewiesen wird“.\footcite[47]{artisten-metaphysik}
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Nun wird die Frage nach der Geltung der Moral, nach dem Vorhandensein allgemein gültiger
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moralischer Regeln, von Nietzsche viel radikaler gestellt. Ihn interessiert, ob es
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prinzipiell eine moralische Gesetzgebung gibt, die dieselbe Gültigkeit wie ein physikalisches
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Gesetz hat, das überall auf der Erde in allen Zeiten gültig ist. Nietzsche verneint
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die Möglichkeit der Existenz einer moralischen Gesetzgebung.
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Wird nicht jeder von
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uns empört, wenn ein moralisches Anliegen diametral entgegengesetzt bewertet wird,
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aufgrund eines anderen Wertesystems, einer andersartigen Ethikkonzeption oder eines
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ungleichen kulturellen Hintergrundes? Lässt es sich in der Tat immer über die moralischen
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Urteile streiten? Man denke nur an moralische Konflikte auf einer größeren, politischen,
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Ebene zwischen den Ländern, deren moralische Wertesysteme durch eine Jahrhunderte
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und Jahrtausende lange Geschichte geprägt sind.
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\item „Ästhetisch“ und „theatralisch“
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kann nicht einfach mit „frech“, „leichtsinnig“, „gleichgültig“, „egoistisch“ gleichgesetzt
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werden. Auf der Bühne des Theaters kann sehr ernst gespielt werden (man denke nur,
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welche existenzielle Bedeutung hat nach Nietzsche die griechische Tragödie). Des Weiteren
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kann man sehr wohl auf Moralsysteme mit den Maximen wie „Vertraue keinem Menschen“,
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„Erreiche dein Ziel um jeden Preis“, „Kümmere dich nur um dich selbst und um die Menschen,
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die dir etwas bedeuten“ und so weiter stoßen. Auf der anderen Seite kann man sein
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Leben ästhetisch als ein schönes und gutes Kunstwerk gestalten. Die Frage, ob die
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Moral oder die Ästhetik mehr Wahres in sich hat, ist theoretischer Natur. Welche Auswirkung
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auf das menschliche Handeln die Entscheidung für entweder moralische oder ästhetische
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Weltbetrachtung hat, hängt allein von der Lebenseinstellung des Handelnden.
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\end{enumerate}
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Alles, was „jenseits“, nicht sinnlich ist, will Nietzsche aus der Philosophie verbannen,
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und wieder hat hier die Philosophie von der Kunst zu lernen:
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\begin{quote}
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In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht
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als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben
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geht, sie liebten die Dinge ‚dieser Welt‘, - sie liebten ihre Sinne. Entsinnlichung
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zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständnisß oder eine Krankheit oder eine Kur,
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wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. […] Was gehen
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uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an!\footcite[154]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Gegen die christlichen Vorstellungen und philosophische Systeme, die den Leib als
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Kerker der Seele betrachten, setzt Nietzsche fort und sagt, dass es sogar „ein Merkmal
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der Wohlgerathenheit [ist], wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und
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Herzlichkeit an ‚den Dingen der Welt‘ hängt“.\footcite[154]{nietzsche:fragmente}
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Zwar nennt er diese Welt, wie oben gesagt, eine Scheinwelt, aber es gibt keine andere.
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Wenn Nietzsche darüber spricht, dass wir in einer Scheinwelt leben, so verweist er
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nicht auf eine wahre, reale Welt, es existiert keine „Hinterwelt“\footcite[Vgl.][93]{nietzsche:fragmente}
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Er will kein Dualist sein und akzeptiert nur die Realität, die er mit seinen Sinnen
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wahrnehmen kann, selbst wenn sie eine Täuschung sein soll:
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\begin{quote}
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Wir finden das Umgekehrte, die Gegenbewegung gegen die
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absolute Autorität der Göttin ‚Vernunft‘ überall, wo es tiefere Menschen giebt. Fanatische
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Logiker brachten es zu Wege, daß die Welt eine Täuschung ist; und daß nur im Denken
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der Weg zum ‚Sein‘, zum ‚Unbedingten‘ gegeben sei. Dagegen habe ich Vergnügen an der
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Welt, wenn sie Täuschung sein sollte; und über den Verstand der Verständigsten hat
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man sich immer unter vollständigeren M<enschen> lustig gemacht.\footcite[162]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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\subsubsection{2. Wissenschaft}
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Nicht nur Religion und Moral können uns keine Aussage über die Welt, wie sie
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an sich ist, und über die Wahrheit geben, auch die Wissenschaft kann es kaum.
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Wenn auch Walter Schulz Nietzsche „wissenschaftsgläubig“ nennt,\footcite[Vgl.][19]{schulz:function-and-place}
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so hat Nietzsche doch die Wissenschaft zu verschiedenen Zeiten seines Lebens unterschiedlich
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bewertet. Ja, die Wissenschaft mag sich auf empirische Daten stützen und deswegen
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nicht so subjektiv sein, wie Metaphysik, Religion oder Moral. Es stellt sich allerdings
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die Frage, ob die Wissenschaft deswegen einen Anspruch auf die Wahrheit hat.
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Besonders gut lässt sich die Berechtigung dieser Frage nachvollziehen, wenn man
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einen kurzen Blick auf die moderne Wissenschaftstheorie wirft. Moderne Wissenschaften
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geben heutzutage gar nicht vor, die Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen, was
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vor zwei oder drei Jahrhunderten der Fall war. Die naive Vorstellung, die Wissenschaft
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erforsche die Wirklichkeit, ist zwar verbreitet, aber nicht in den wissenschaftlichen
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Kreisen selbst. Moderne Wissenschaften basieren auf Theorien, was bedeutet, dass sie
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mit von Menschen erschaffe- nen Modellen arbeiten, die helfen, bestimmte Phänomene
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zu erklären oder gewisse Berechnungen durchzuführen.
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Hatte Nietzsche nicht schon damals Recht, als er die einzig reale für den Menschen
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Welt eine Scheinwelt genannt hat, denn wie sonst kann man erklären, dass der Mensch
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kein Wissen über die Tatsachen der Welt hat, sondern ledigilich auf die Bildung von
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Theorien angewiesen ist? Man kann jetzt die radikale Frage stellen, ob die Wissenschaft
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selbst nicht eine „Kunstgattung“ ist. Die Gegenfrage würde lauten: Wenn man die Kunst
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braucht, um das Leben umzulügen, es umzudichten und so erträglich zu machen, wozu
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braucht man dann die Wissenschaft?
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\begin{quote}
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Die Bequemlichkeit, Sicherheit, Furchtsamkeit, Faulheit,
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Feigheit ist es, was dem Leben den gefährlichen Charakter zu nehmen sucht und alles
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‚organisiren‘ möchte - Tartüfferie der ökonomischen Wissenschaft\footcite[135]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Wissenschaften bringen Sicherheit ins Leben. Diese Funktion hatten früher die heidnischen
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Religionen. Man fühlte sich sicherer, wenn man wusste, dass man nicht der blinden,
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gleichgültigen Natur ausgeliefert ist; wenn man wusste, dass eine Götterwelt sich
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hinter allen Naturphänomenen verbirgt, die man anbeten kann und so bekam man das Gefühl,
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dass man ein gewisses Maß an Kontrolle über die Natur hat. Deswegen schreibt Nietzsche
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über die griechische Mythologie, dass die Götter des Olymps „aus tiefster Nöthigung“\footcite[36]{nietzsche:geburt}
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geschaffen wurden.
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Diese Rolle der Lebensabsicherung hat später die Wissenschaft übernommen. Sie ermöglicht
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einerseits Zusammenhänge zwischen den Ereignissen festzustellen und daraus auf die
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Naturgesetze zu schließen, und so erscheint die Welt nicht mehr chaotisch, sondern
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wird geordnet und als ein nach Gesetzen funktionierendes System vorgestellt. Andererseits
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versetzt die Wissenschaft in die Lage, Voraussagen über die Zukunft zu treffen. Aufgrund
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der Komplexität der physikalischen Systeme, können alle natürlichen Ereignisse in
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so großen Systemen wie unser Universum nicht genau vorhergesehen werden, weshalb,
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was die Auswirkung auf den Menschen betrifft, die Vorhersagemöglichkeit der Naturphänomene
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analog zu Anbetung der Götter ist, weil beides mehr Sicherheit in den folgenden Tag bringt.
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Etwas andere Sicht auf die Wissenschaft bietet eine andere Aufzeichnung von Nietzsche,
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die aus der Zeit zwischen dem Herbst 1885 und Herbst 1886 stammt:
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\begin{quote}
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Man findet in den Dingen nichts wieder als was man nicht
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selbst hineingesteckt hat: dies Kinderspiel, von dem ich nicht gering denken möchte,
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heißt sich Wissenschaft? […] das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das
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Hineinstecken - Kunst, Religion, Liebe, Stolz.\footcite[188]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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In diesem Modell ist es die schöpferische Kraft des Menschen die, die Welt schafft.
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Die Wissenschaft hat zu ihrer Aufgabe die so erschaffene Welt zu analysieren und aus
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den gewonnenen Daten ein wissenschaftliches System zu formen. Diesen Gedanken findet
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man ebenfalls in der modernen Wissenschaftstheorie wieder, und zwar im Konzept der
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Operationalisierung. Das ist ein wichtiges Konzept, das ermöglicht, ein Objekt unter
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bestimmte Begriffe zu subsumieren. Operationalisierung sagt uns nichts über die realen
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Eigenschaften eines Objektes, es besagt bloß, dass, um einem Objekt einen Begriff
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zuzuordnen, eine Messmethode angegeben wieden muss. Ein Beispiel aus der Psychologie
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wäre ein Intelligenztest. Empirisches Problem beim Durchführen eines derartigen Tests
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ist, dass es nicht klar ist, was Intelligenz eigentlich ist, was genau unter Intelligenz
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verstanden wird. Man würde den Begriff „Intelligenz“ operationalisierbar machen, wenn
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man eindeutig eingeben würde, wie die Intelligenz zu messen ist (zum Beispiel anhand
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eines Tests, der genauso universell für die Messung der Intelligenz ist, wie ein Lineal
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für die Messung der Länge). Das hätte das Problem mit der Subjektivität und Begrenztheit
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eines Intelligenztests gelöst, man hätte sie messen können und mit den Messwerten
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anderer Menschen vergleichen. Dafür, dass der Begriff „Intelligenz“ nun operationalisierbar
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wäre, würde man jedoch ein anderes Problem bekommen: Bevor man anfängt etwas zu messen,
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muss man definieren, wie es zu messen ist. In dem Fall mit der Intelligenz bedeutet
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es, dass man nicht auf die „Idee der Intelligenz“ in einem platonischen Ideenreich
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zugreift, die objektiv definiert, was die Intelligenz ist, sondern man legt vorher
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selbst fest, was es ist und wie es zu messen gilt. In den Naturwissenschaften ist
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es nicht anders: Man misst nicht etwas aus der objektiven Wirklichkeit, sondern nur
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das, was man messen will, mit Nietzsche gesagt: Man misst nur das, was man in
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die Natur „hineingesteckt“ hat.
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Man kann Nietzsches Metaphysik auch auf die Wissenschaft anwenden. Wissenschaft
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erscheint in diesem Licht als eine lebensnotwendige Lüge, genauso wie die Welt, die
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von ihr erforscht wird.
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\subsubsection{3. Pessimismus und Optimismus in der Kunst}
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"Nietzsche legt - das Gesamt der geistigen Tätigkeiten durchmusternd - dar, daß Metaphysik, Moral,
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Religion und Wissenschaft nur verschiedene Formen der Lüge sind."\footcite[12]{schulz:function-and-place}
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Menschen haben aber das innere Streben nach der Wahrheit, sonst hätte man diese Lügen
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nicht ausgedacht. Aber auch mit der Kunst steht es nicht viel anders, und Walter Schulz
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schreibt an einer anderen Stelle: "Die Kunst lügt um, aber sie umlügen, weil wir sonst
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nicht leben können."\footcite[11]{schulz:function-and-place}Und wenn auch die
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Welt nur ein Kunstwerk ist, ist auch sie durch und durch lügnerisch. Und wenn man
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diese Wahrheit niemals erreichen kann, weil es sie nach Nietzsche nicht gibt, dann
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hat kann man sich fragen, was für einen Sinn das Leben überhaupt hat, und ob es ausreicht
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sich ästhetisch zu betrügen, wenn man jede Sekunde weiß, dass es nur eine Lüge ist.
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Diese Frage ist entscheidend für Nietzsche, weil er sich nicht als Pessimist verstehen
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will. Wenn er im „Versuch einer Selbstkritik“ dem Optimismus als dem Zeichen des Verfalls
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den Pessimismus gegenüberstellt,\footcite[Vgl.][12 f]{nietzsche:geburt} so
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meint er mit dem „Pessimismus“ in diesem Fall etwas anderes. Optimismus, den Nietzsche
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zu bekämpfen sucht, ist der Optimismus in der Erkenntnis, sokratische Einstellung,
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dass das Sein in seinem Grund vernünftig, geordnet und berechenbar ist. Das ist auch,
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was heute oft als „positives Denken“ bekannt ist. Denke positiv, schließe deine geistigen
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Augen und merke nicht die Probleme und die Welt um dich herum. Diese Lebenshaltung ist zu „apollinisch“.
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Der Gegenbegriff zum Optimismus ist der Pessimismus oder wie Nietzsche sagt „Pessimismus
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der Stärke“.\footcite[12]{nietzsche:geburt} Es zeugt von gewisser
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Stärke, die Welt in ihrem dionysischen Chaos und ihrer Absurdität anzuerkennen und
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trotzdem „Ja“ zum Leben zu sagen. Es gibt aber auch das, was man analog zum „Pessimismus
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der Stärke“ „Pessimismus der Schwäche“ nennen könnte. Das ist, wenn man zwar keine
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Angst hat, in die Abgründe des Seins zu schauen, aber zu schwach ist, die Welt trotz alledem zu bejahen.
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Wie ich oben erwähnte hat Nietzsche die Überschrift der zweiten Ausgabe der „Geburt
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der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ verändert, das Buch hieß nun „Die Geburt der
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Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus“. Im „Versuch einer Selbstkritik“ beschreibt
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er „Griechentum und das Kunstwerk des Pessimismus“,\footcite[12]{nietzsche:geburt}
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wobei die Griechen positiv als Pessimisten beschrieben werden, da Nietzsche sie im
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nächsten Satz die „zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen“\footcite[12]{nietzsche:geburt}
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nennt. Auch in seiner Aufzeichnung zur „Geburt der Tragödie“ aus dem Herbst 1885 -
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Herbst 1886 äußert er sich positiv über die „pessimistische Religion“, die an den
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tragischen Mythos gebunden ist: „Ein Verlangen nach dem tragischen Mythus (nach ‚Religion‘
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und zwar pessimistischer Religion) (als einer abschließenden Glocke worin Wachsendes
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gedeiht)“.\footcite[181]{nietzsche:fragmente}
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In „Ecce homo“, in dem Abschnitt, wo Nietzsche „Die Geburt der Tragödie“ reflektiert,
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verdreht er allerdings die ursprüngliche Bedeutung des zweiten Teils der Überschrift
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und, um anscheinend seine Opposition gegen den „Pessmismus der Schwäche“ zu betonen,
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spricht er von Griechen, die im Gegenteil keinen Pessimismus kannten: „‚Griechenthum
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und Pessimismus‘: das wäre ein unzweideutigerer Titel gewesen: nämlich als erste Belehrung
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darüber, wie die Griechen fertig wurden mit dem Pessimismus, - womit sie ihn überwunden…
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Die Tragödie gerade ist der Beweis dafür, dass die Griechen keine Pessimisten
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waren: Schopenhauer vergriff sich hier, wie er sich in Allem vergriffen
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hat“.\footcite[Vgl.][309]{nietzsche:ecce-homo}
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Es gibt „das Kunstwerk des Pessimismus“,\footcite[12]{nietzsche:geburt}
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||
das dem Menschen offenbart, was der Pessimismus der Stärke ist, aber es gibt keine
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||
pessimistische Kunst im Sinne des Pessimismus der Schwäche.
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||
Das Verständnis von Pessimismus ist der Punkt, in dem Nietzsche sich von seinem geistigen
|
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Lehrer Schopenhauer absetzt, wie man es aus dem letzten Zitat aus „Ecce homo“ sieht.
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||
Schopenhauer hat den dunklen, in sich widersprüchlichen Kern des Daseins entdeckt. Nietzsche
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geht einen Schritt weiter und behauptet, dass das Dasein zu bejahen ist. 1888 antwortet
|
||
Nietzsche auf die Frage „Pessimismus in der Kunst?“, die in der Überschrift seiner
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Aufzeichnung steht, folgendermaßen:
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\begin{quote}
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||
Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung
|
||
des Daseins…\\-: Was bedeutet eine pessimistische Kunst?.. Ist das nicht
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||
eine contradictio? - Ja.\\Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in
|
||
den Dienst des Pessimism stellt. Die Tragödie lehrt nicht ‚Resignation‘…\\-
|
||
Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der
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||
Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht… Es giebt keine pessimistische
|
||
Kunst.. Die Kunst bejaht. Hiob bejaht.\footcite[250]{nietzsche:fragmente}
|
||
\end{quote}
|
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||
\subsubsection{4. Ästhetische Rechtfertigung des Daseins}
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Wenn man nach dem Sinn des Lebens fragt, dann fragt man: „Welchen Zweck hat
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das Leben?“. Die Möglichkeit einer vernünftigen
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||
Antwort auf diese Frage setzt also voraus, dass es eine Zweckmäßigkeit in der Natur
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||
gibt, dass sie nach einem Prinzip funktioniert. Nun ist der dionysische Grund in dieser
|
||
Hinsicht nicht anders als dessen Vorbild, der Wille bei Arthur Schopenhauer, er „hat
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||
kein Ziel und ist kein Prinzip, er begründet nichts, richtet nicht und kann folglich
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||
auch nichts ‚rechtfertigen‘“.\footcite[55]{artisten-metaphysik} Wenn
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||
die Welt das menschliche Dasein nicht rechtfertigen kann, so kann es nur der Mensch
|
||
selbst. Der Mensch projiziert aber sein Bedürfnis nach einem Sinn in die Welt, um
|
||
sich von der Last, sein Dasein rechtfertigen zu müssen, zu befreien. Dies führt zur
|
||
Entstehung großer Systeme wie die Moral oder Religionen. Wenn man aufhört nach dem
|
||
Sinn in der Außenwelt zu suchen, weil die menschliche Erkenntnis nicht zuverlässig
|
||
ist, so ist das Einzige, was übrig bleibt, in sich selbst zu suchen, weil man die
|
||
Grenzen seiner Selbst nicht sprengen kann.\footcite[Vgl.][55]{artisten-metaphysik}
|
||
Da Nietzsche das bis zum Ende konsequent durchdenkt, kommt er zu dem Schluss, dass
|
||
die Rechtfertigung des Daseins nur von dem Menschen selbst ausgehen kann, wenn
|
||
sie überhaupt möglich sein soll.
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||
Volker Gerhardt setzt den Gedanken über die Rechtfertigung des Lebens fort und
|
||
verbindet ihn mit den Bedingungen des menschlichen Handelns. Ein mit Sinn erfülltes
|
||
Leben ist die Voraussetzung für das menschliche Handeln, weil, wenn man keinen Grund
|
||
zu leben hat, man auch keinen Grund zu handeln hat, woraus folgt, dass es Nietzsche
|
||
nicht nur um die theoretische, sondern auch um die praktische Philosophie geht.\footcite[Vgl.][52--54]{artisten-metaphysik}
|
||
Deswegen hat die Lösung des Problems, ob das Dasein für den Menschen befriedigend
|
||
gerechtfertigt werden kann, weitreichende Konsequenzen für das individuelle und gesellschaftliche
|
||
Leben, das aus handelnden Subjekten besteht, obwohl Nietzsche nichts über den möglichen
|
||
funktionalen Zusammenhang von ästhetischen und theoretischen (oder praktischen) Einsichten"\footcite[Vgl.][56]{artisten-metaphysik}
|
||
sagt.
|
||
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V. Gerhardt unterscheidet zwischen der Rechtfertigung der Welt und des individuellen
|
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Daseins. Der Mensch als handlungsfähiges Subjekt ist auf die Interaktion mit den anderen
|
||
Menschen und der Umwelt angewiesen, das heißt, um das eigene Leben und Handeln als
|
||
sinnvoll zu erfahren, muss das menschliche Subjekt sein eigenes Dasein im „Lauf der
|
||
Dinge“\footcite[Vgl.][56]{artisten-metaphysik} verstehen. Bei Nietzsche ist
|
||
es nicht möglich, weil die Rechtfertigung der Welt und des eigenen Daseins verschmelzen,
|
||
es ist schließlich nur der Mensch selbst, der allem Sinn gibt. Man kann also sein
|
||
Dasein nicht in den „Lauf der Dinge“ integrieren, sondern nur in seine eigene Einbildung
|
||
oder in den vom Zufall gesteuerten Traum eines höheren Wesens. Kann so etwas als „Rechtfertigung“
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||
und „Sinngebung“ gelten, oder wäre es ehrlicher mit dem Schopenhauers Pessimismus zu bleiben?
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||
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Dazu muss man sagen, dass, wenn man den Geist aus der Welt vollständig ausklammert,
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als etwas, was empirisch nicht nachgewiesen werden kann (und es ist das Ziel Nietzsches,
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ohne eine Hinterwelt auszukommen), es keine bessere Lösung gibt. Eine physische, von
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den Naturgesetzen gelenkte Welt ist uns genauso fremd wie der absurde Traum des Dionysus.
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Wenn wir unser Dasein als ein Glied in der Geschichte der Menschheit verstehen können,
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dann nimmt diese Geschichte ihren Anfang im Nichts und sie wird sich am Ende im Nichts
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auflösen. Die individuelle Existenz ist in diesem Modell absolut sinnlos, obwohl es
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in ein größeres Ganzes eingebaut werden kann. Das Letzte, was dem Menschen bleibt,
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sich und seiner Umwelt selbst einen Sinn zu geben. Und da ist man schon wieder bei
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Nietzsche. Dass er die Rechtfertigung des Daseins und diejenige der Welt nicht auseinanderhält,
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ist ein richtiger Schachzug von ihm: Die Existenz der Welt ist sowieso sinnlos (oder
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wird als solche erfahren), wenn es die menschliche Existenz ist.
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Ein anderes Argument, das V. Gerhardt bringt, ist, dass die Kunst, die das Leben
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rechtfertigen soll, an Voraussetzungen gebunden ist, die sie dann zu erklären
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versucht. In einem anderen Artikel, „Nietzsches ästhetische Revolution“ spricht
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er von der „Dequalifizierung des Kunstbegriffs“:
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\begin{quote}
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Erstens geht der Begriff der Kunst dem des Lebens methodisch
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voraus. Allein das vorgängige Verständnis der Kunst ermöglicht, wenn überhaupt noch,
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das Leben zu verstehen. Alle anderen Modelle, die von den Wissenschaften bereitgestellt
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worden sind - bis hin zur mechanischen Erklärung der Lebensprozesse -, hält Nietzsce
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für gescheitert. Nur als Analogon der Kunst ist das Leben noch sinnvoll mit den historisch
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inzwischen unumgänglich gewordenen Erfahrungen zu
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verbinden.\footcite[25]{revolution}
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\end{quote}
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Aber andererseits wird das Leben oder bestimmte Erfahrungen im Leben vorausgesetzt, weil
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„wenig so stark an ein Gegenteil gebunden ist wie gerade die Kunst. Die ästhetische
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Erfahrung braucht, um Stimulans zu sein, die Not und die Enge des
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Lebens“,\footcite[64]{artisten-metaphysik} weil die Welt uns sich
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selbst nicht als ein Kunstwerk präsentiert.\footcite[Vgl.][65]{artisten-metaphysik}
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Dazu kommen noch erkenntnistheoretische Voraussetzungen. Nietzsche erklärt die
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Erkenntnis mithilfe der Kunst, aber zunächst muss man \textit{erkennen}, was die
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Kunst ist.\footcite[Vgl.][65]{artisten-metaphysik}
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Aber leider auch in diesem Fall bleibt einem nichts Besseres übrig. Sagen wir,
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ich werde anerkennen, dass die theoretische Erkenntnis ist, was die Kunst begründet
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und nicht umgekehrt. Was gibt mir aber die Sicherheit, dass meine Erkenntnis keine
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Illusion, keine Einbildung ist? Was gibt mir die Sicherheit, dass meine Erkenntnis
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nicht an andere Voraussetzungen gebunden ist, zum Beispiel an die Kunst. Woher kann
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ich wissen, dass es nicht die Kunst ist, die die Erkenntnis möglich macht? V. Gerhardt
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hat recht, dass die logische Erkenntnis und die Logik der Kunst methodisch vorausgehen,
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was aber nicht bedeutet, dass sie ihr auch ontologisch übergeordnet sind. Die Natur
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der menschlichen Erkenntnis ist so, dass sie immer reflexiv ist. Erst in der Reflexion
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kann man die Frage stellen, ob die theoretische Erkenntnis die Kunst begründet oder
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umgekehrt. Wenn man überhaupt keine Voraussetzungen machen will, landet man im Skeptizismus,
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aus dem man nicht mehr rauskommt.
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Wenn Nietzsche alles der Kunst unterordnet und sagt, dass man sein Leben selbst
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künstlerisch gestaltet und es so etwas wie Wahrheit nicht gibt, so bleibt er seinem
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Wort treu, egal wie absurd es klingen mag. So schreibt er im Sommer 1883:
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\begin{quote}
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Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei
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der es uns am freiesten zu Muthe wird; d.h.\ bei der unser mächtigster Trieb sich
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frei fühlt zu seiner Thätigkeit. So wird es auch bei mir
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stehn!\footcite[111]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Ist es ein Selbstwiderspruch? Genau. Das ist die naive Ehrlichkeit, die Nietzsches
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Schriften kennzeichnet. Er scheint keine Angst zu haben, sich selbst zu widersprechen,
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und tat es absichtlich, weil er von dem Sein wusste, das in sich selbst widersprüchlich
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ist, weil er es als Solches erlebt hat. Er versuchte diese Widersprüche in sich zu
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vereinigen um dem Sein gerecht zu werden.\footcite[Vgl.][187]{ries:geburt}
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Es ist nicht so, wie V. Gerhardt behauptet, dass nur die Kunst das Leben oder bestimmte
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Lebenserfahrungen voraussetzt, weil die logische Erkenntnis es auch tut, sie ist an
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dieselben Bedingungen gebunden. Das Vorhandensein solcher Menschen wie Friedrich Nietzsche
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ist gerade der Beweis dafür, dass man im Leben auch Erfahrungen sammeln kann, die
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zu einem ästhetischen Weltbild führen und nicht zu einem logischen. V. Gerhardt fragt,
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warum die Welt uns nicht als ein Kunstwerk erscheine?\footcite[Vgl.][65]{artisten-metaphysik}
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Man kann auch die Gegenfrage stellen: Warum erscheint uns die Welt nicht als ein logisches
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System? Warum stellt Philosophie, wie Klaus Kornwachs sagt, seit zwei Jahrtausenden
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Fragen, die sie und keine Wissneschaft beantworten kann?\footcite[Vgl.][7]{kornwachs:technik}
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Vielleicht, weil die Welt ein Kunstwerk ist, in das wir unsere logischen Denkgesetze
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übertragen? Von dem Standpunkt des Lebens betrachtet kann die Welt nicht nur als ein
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logisches, sondern auch als ein ästhetisches Werk gedeutet werden.
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Das Problem einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt bleibt trotzdem sehr schwer
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zu lösen. Das endliche Dasein auf der Erde kann Einem sinnvoll erscheinen, weil nur
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wenn jemand begrenzte Zeit im Leben hat, man mehr zu erreichen versucht, und sich
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mehr um sein Leben kümmert. Für den Anderen kann es umgekehrt zwecklos sein, sich
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um etwas zu bemühen, wenn alles eines Tages sowieso untergeht. Aber ist es nicht bereits
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eine ästhetische Rechtfertigung, mit der man versucht seinem Leben Sinn zu erteilen,
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indem man entweder sein Leben als eine kurze Theateraufführung versteht, oder ein
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geistiges Reich erschafft, in dem man ewig leben kann.
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Es stellt sich auch die Frage, warum man sein Dasein überhaupt rechtfertigen soll?
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Warum muss man das eigentlich in der Kunst umlügen? Man kann in Schopenhauers Pessimismus
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Schwäche sehen, weil er nicht stark genug war, das Ekelhafte und Grauenvolle zu beja-
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hen. Man kann aber genauso Nietzsches Pessimismus als eine Schwäche interpretieren,
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eine Schwäche, sich der Grausamkeit, Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit Gesicht zu
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Gesicht zu stellen. Die Antwort auf diese Frage ist auch nicht von der Erfahrung zu
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trennen, die der Mensch im Leben macht. Theoretisch wollte Nietzsche die Kunst als
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Stimulans des Lebens begreifen. Aber inwieweit ist es möglich für ein Wesen, das nach
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der Wahrheit strebt (und Nietzsche strebt auch nach Wahrheit des Dionysus), an eine
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Lüge zu glauben, über die man weiß und die man sich sogar selbst ausgedacht hat. Ist
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es möglich auch auf der praktischen Ebene sich dermaßen zu belügen, oder ist die Kunst
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doch nur ein Quietiv und hilft nur, das Leben etwas zu verschönern, um nicht an der
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Wahrheit zu Grunde zu gehen? Es ist also die Frage, ob man eine theoretische Einstellung
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zum Leben auch in der Praxis realisieren kann, wo einem so viele Hindernisse im Wege stehen.
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