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date: 2015-04-23 03:20:00
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tags: Aufsatz
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title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 2. Gesellschaftliche Dimension der Kunst
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teaser: |
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Die Bedeutung der Kunst endet nicht mit der Frage, welche Position sie im Leben
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eines Individuums einnimmt. Nietzsche versucht seinen Kunstbegriff auf größere Menschenmengen
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zu beziehen, um damit gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse zu erklären, oder
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mindestens zu schauen, welche Auswirkung die Kunst oder die einzelnen Künstler auf
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die menschliche Gesellschaft und Kultur haben.
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Die Bedeutung der Kunst endet nicht mit der Frage, welche Position sie im Leben
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eines Individuums einnimmt. Nietzsche versucht seinen Kunstbegriff auf größere Menschenmengen
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zu beziehen, um damit gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse zu erklären, oder
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mindestens zu schauen, welche Auswirkung die Kunst oder die einzelnen Künstler auf
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die menschliche Gesellschaft und Kultur haben.
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In einer Aufzeichnung von 1885 schreibt Nietzsche Folgendes:
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\begin{quote}
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„Die mathematischen Physiker können die Klümpchen-Atome
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nicht für ihre Wissenschaft brauchen: folglich construiren sie sich eine Kraft-Punkte-Welt,
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mit der man rechnen kann. Ganz so, im Groben, haben es die Menschen und alle organischen
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Geschöpfe gemacht: nämlich so lange die Welt zurecht gelegt, zurecht gedacht, zurecht
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gedichtet, bis sie dieselbe brauchen konnten, bis man mit ihr ‚rechnen‘
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konnte.“\footcite[163]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Es existiert also keine „objektive Welt“. Die Menschen erdichten ihre eigene Welt,
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in der ihnen am Besten zu Mute ist, in der sie leben können und wollen. Und dies ist
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genau, das was bereits für den jungen Nietzsche eine menschliche Kultur ausmacht.
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Das Dionysische ist das Fundament auf dem die Kulturen entstehen, „der ungeheure Lebensprozess
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selbst, und Kulturen sind nichts anderes, als die zerbrechlichen und stets gefährdeten
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Versuche, darin eine Zone Lebbarkeit zu schaffen“.\footcite[59]{safranski:biographie}
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Im Zusammenhang mit der menschlichen Kultur führt Nietzsche den Krieg als ein dionysisches
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Element ein, und dieses Element beinhaltet auch „die Bereitschaft zum lustvollen
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Untergang“.\footcite[59]{safranski:biographie} Nietzsche, der selbst im Krieg
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einige Wochen als Sanitäter beteiligt war, sieht im Krieg als zerstörerischer
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Macht des Dionysus eine positive Potenz, und zwar erwartet er, dass dem
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Vernichten das Werden folgt, mit anderen Worten erhofft er eine Erneuerung
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der Kultur. Die Grausamkeit des Krieges um der Erneuerung der Kultur willen scheint
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übertrieben und grauenvoll zu sein. Daher hat der Krieg eine Umgestaltung durch die
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bildende apollinische Kraft nötig.\footcite[Vgl.][58--61]{safranski:biographie} Nietzsche
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greift wieder auf das Vorbild der Griechen, die „ein Beispiel dafür, wie diese kriegerische
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Grausamkeit sublimiert werden kann durch den Wettkampf, der überall stattfindet, in
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der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Kunst.“\footcite[62]{safranski:biographie}
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„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage: der
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Krieg ist es, der jede Sache heiligt!“\footcite[109]{nietzsche:fragmente}
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schreibt er im November 1882 -- Februar 1883.
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Auch auf der kulturellen Ebene balancieren die zwei grundlegenden Lebensmächte,
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das Dionysische und Apollinische, einander aus. Jede Kultur benötigt apollinische
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Bilder, um das Leben ertragen zu können, aber es besteht die Gefahr, dass die Kultur
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erstarrt und die dionysische Dynamik verliert, und dann muss sich das Dionysische
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wieder in den Weltprozess deutlicher einmischen.\footcite[Vgl.][62 f]{safranski:biographie}
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Ein anderer Grund, den Krieg als eine unabdingbare Komponente der Entwicklung anzusehen,
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besteht darin, dass die Kultur für Nietzsche die oberste Position in der Pyramide
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der Menschheitswerke. Alles andere ist ihr untergeordnet: Gelehrsamkeit, Religion,
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Staat.\footcite[Vgl.][63]{hayman:biographie}
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Kennzeichnend dafür, welche Bedeutung die Kultur hat, ist, wie Nietzsche die Rolle
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des Künstlers in einer Gesellschaft einschätzt. So heißt es am Ende 1870 -- April 1871:
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\begin{quote}
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„Ich würde aus meinem idealen Staate die sogenannten ‚Gebildeten‘ hinaustreiben,
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wie Plato die Dichter: dies ist mein Terrorismus.“\footcite[22]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Die Dichter, die Künstler dürfen keinesfalls aus dem Nietzsches Staat ausgetrieben
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werden. Ganz im Gegenteil, für ihr Wohlergehen müssen alle Bedingungen erschaffen
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werden. Auch in dieser Hinsicht ist das antike Griechenland ein Vorbild für Nietzsche.
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Er verteidigt die damalige Sklaverei als notwendige Bedingung für das Wohl der „höchsten
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Exemplaren“ einer Gesellschaft, die ihrerseits den Beitrag zum Aufblühen der Kultur
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leisten.\footcite[Vgl.][67]{hayman:biographie} Nietzsche hat keineswegs illusionäre
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Vorstellungen bezüglich der Sklaverei, vielmehr lobt er die grausame Ehrlichkeit der
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Griechen, die „die letzten Geheimnisse ‚vom Schicksale der Seele‘ und Alles, was sie
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über die Erziehung und Läuterung, vor Allem über die unverrückbare Rangordnung und
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Werth-Ungleichheit von Mensch und Mensch wußten, sich aus ihren dionysischen Erfahrungen
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zu deuten suchten: […]“.\footcite[169]{nietzsche:fragmente} Es ist
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auch nicht so, dass Nietzsche die Demokratie verachtet, weil sie zu Gleichheit der
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Menschen untereinander führt. Er glaubt einfach nicht, dass in einem demokratischen
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Staat, das Verhältnis sich ändert. Die demokratische Gleichheit ist für ihn eine Lüge:
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\begin{quote}
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In neuerer Zeit wird die Welt der Arbeit geadelt, aber das sei Selbstbetrug,
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denn an der fundamentalen Ungerechtigkeit der Lebensschicksale, die den einen
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die mechanischen Arbeit und den Begabteren das schöpferische Tun zuweist, ändere
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auch die \underline{Begriffs-Hallucination} von der \underline{Würde der Arbeit}
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nichts."\footcite[68]{safranski:biographie}
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\end{quote}
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Nietzsche zieht sozusagen die dionysische Wahrheit, die besagt, dass das menschliche
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Sein von vornherein ungerecht ist, der apollinischen Einbildung, dass die Demokratie
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eine Gerechtigkeit gleicher Menschen garantieren kann, vor. Nietzsche idealisiert
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auch die privilegierte Kaste eines derartigen Staates nicht und fragt sich, „[o]b
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man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen“.\footcite[147]{nietzsche:fragmente}
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Nietzsche beschreibt diese Welt als eine „Sich-selber-widersprechendste, und dann
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wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück
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bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner
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Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein
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Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: diese meine
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dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens“.\footcite[158]{nietzsche:fragmente}
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Als dionysische Welt ist sie in sich absurd und widersprüchlich. Die Vereinigung der
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Gegensätze in sich ist auch der Maßstab für die Größe des Künstlers und das ist auch
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eben, was ihn „böse“ macht, denn den Tugenden wohnt der Frevel bei, die kreative Kraft
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wird durch die zerstörerische vervollständigt. So antwortet Nietzsche auf seine Frage:
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\begin{quote}
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„[D]ie Größten haben vielleicht auch große Tugenden,
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aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der
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Gegensätze, und aus deren Gefühle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen
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Spannung, entsteht.“\footcite[147]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Genauso wie der Krieg ein Aspekt der Kultur ist, ohne den Nietzsche ihre dynamische
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Entwicklung sich nicht vorstellen kann, genauso ist die prinzipielle Ungleichheit
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und Grausamkeit der Menschen gegenüber einander etwas, worauf die Kultur beruht, und
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was sie apollinisch, d.h.\ für den Menschen erträglich zu gestalten sucht. Und so verwendet
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Nietzsche dieselben Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen, die er entdeckt
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hat, um das kulturelle Leben einer Gesellschaft zu beschreiben.
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