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date: 2015-04-22 04:06:00
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tags: Aufsatz
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title: Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 1. Die Geburt der Tragödie
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teaser: |
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<p>
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Wie soll man mit einer Welt, aus der Gott ausgetrieben wurde und die Idee
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einer sinnvollen Schöpfung erschüttert wurde, zurechtkommen? Wie soll man
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das Leben in einer säkularisierten, von jeglichem Sinn befreiten Welt
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ertragen, in einer Welt voller Grausamkeit, Demütigung, Verrat und Leid, in
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einer Welt, wo alles Leben zum sinnlosen Sterben verurteilt ist? Auf der
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Suche nach einer Antwort gelangt Nietzsche zur Kunst. In der Kunst offenbart
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sich die menschliche Schaffenskraft, vielleicht kann sie einen wesentlichen
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Beitrag zum Leben leisten.
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</p>
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\subsection{Einleitung}
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\epigraph{%
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[D]ie Kunst ist lang,\\
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Und kurz ist unser Leben.}
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{\textbf{Faust I\\Johann Wolfgang von Goethe}\footcite[20]{faust}}
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Heutzutage wird oft und intensiv über die Fortschritte der Wissenschaft
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gesprochen. Vieles, ohne was der moderne Mensch sein Leben nicht mehr vorstellen
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kann, verdankt er den wissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Zeit. Die
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Technik, die entwickelt wird, soll mehr Komfort in die Existenz des modernen
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Menschen bringen, sein Leben einfacher, erträglicher machen. Wenn man einen
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Blick in die Vergangenheit wirft, kann man sich schwer vorstellen, wie man vor
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einiger Zeit ohne Elektrizität und Maschinen leben konnte. Armut und schwere
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Arbeiten scheinen das Joch zu sein, unter dem das Leben zum Leid wird. Die
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industrielle Entwicklung, Instrumentalisierung der Forschungsergebnisse,
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Erschaffung der Maschinen haben dazu verholfen, dass diese Probleme gelöst
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wurden und das Leben auf ein anderes Niveau erhoben wurde.
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In Friedrich Nietzsches Aufzeichnungen aus den Jahren 1882–1883 findet sich
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ein Satz, der einen wissenschaftlichen Fortschritt zu einem Rückschritt macht:
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„Der wissenschaftliche Mensch hat Ein Loos mit dem Seildreher: er spinnt seinen
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Faden länger, geht aber dabei selber — rückwärts.“\footcite[105]{nietzsche:fragmente}
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Man bekommt den Eindruck, dass diese Aussage der Erfahrung unserer Zeit blind
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widerspricht. Wenn man jedoch das menschliche Glück nicht auf einen materiellen
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Luxus reduziert und in die Tiefe des menschlichen Seins schaut, wird man
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feststellen müssen, dass die eigentliche Problematik des menschlichen Seins von
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der Wissenschaft nicht einmal berührt wird. Die Tatsache, dass manche Mitglieder
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moderner Gesellschaften psychologische Unterstützung brauchen oder sich sogar
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das Leben nehmen, zeigt eine tiefe Verzweiflung dieser Menschen am Leben, die
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zwar nicht immer gleich zu sehen ist, über die man aber nicht einfach
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hinwegschauen kann. Einem scheint etwas zu fehlen, ein Ziel, für welches man
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kämpfen kann. Wissenschaft kann aber diese geistliche Lücke nicht mit Inhalt
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füllen. Wissenschaftliche Erkenntnis ist negativer Natur, die erschafft nichts
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Neues, sondern strebt an, das Vorhandene, die bereits gegebene Welt, zu
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analysieren. Es wird nichts Positives, absolut Neues erschaffen. Was aber ein
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Mensch braucht, um seine Existenz als sinnvoll zu erfahren, ist etwas Neues, ein
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Lebenssinn, etwas, was nicht in der materiellen Gegebenheit gefunden werden kann.
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Was die Sinngebung betrifft, kann man deswegen, wenn auch nicht von einem
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Rückschritt sprechen, so doch sagen, dass die Wissenschaft sich in dieser
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Hinsicht nicht von der Stelle rührt. Eine solche existenzielle Problemstellung
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kann aber philosophisch angegangen werden, da man philosophische Fragestellungen
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nicht auf die wissenschaftlichen reduzieren kann. Nietzsche sieht die Versuche,
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die seit Kant unternommen werden, Philosophie nur als eine Wissenschaft zu
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verstehen, als eine Fehlentwicklung. So nimmt er 1884 Bezug auf die deutsche
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Universitätsphilosophie: „Wenn Kant die Philosophie zur ‚Wissenschaft‘ reduzieren
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wollte, so war dieser Wille eine deutsche Philisterei: an der mag viel Achtbares
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sein, aber gewiß noch mehr zum Lachen.“\footcite[133]{nietzsche:fragmente}
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Dieses Verhältnis von der Philosophie und Wissenschaft wird sehr oft auf den
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Kopf gestellt: Alles Philosophieren sei ein sinnloses Unternehmen, Philosophie
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beschäftige sich mit Fragen, die nicht beantwortet werden können, es gebe seit
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mehr als zwei Jahrtausenden keinen Fortschritt. Klaus Kornwachs schreibt:
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„Philosophie stellt seit zwei Jahrtausenden Fragen und die Antwortversuche
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stellen ihre Geschichte dar.“\footcite[7]{kornwachs:technik}Und die
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gestellte Frage ist bereits ein Schritt nach vorne.
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Friedrich Nietzsche war sich dieser existenziellen Problematik sehr wohl bewusst,
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ihm war es auch klar, dass für die von der Wissenschaft entzauberte Welt die
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bisherigen Antwortversuche nicht mehr zufriedenstellend waren. Im Herbst 1881
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ruft er aus: „Wie tief-fremd ist uns die durch die Wissenschaft entdeckte
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Welt!“\footcite[97]{nietzsche:fragmente} Wie soll man mit einer Welt, aus
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der Gott ausgetrieben wurde und die Idee einer sinnvollen Schöpfung erschüttert
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wurde, zurechtkommen? Wie soll man das Leben in einer säkularisierten, von
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jeglichem Sinn befreiten Welt ertragen, in einer Welt voller Grausamkeit,
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Demütigung, Verrat und Leid, in einer Welt, wo alles Leben zum sinnlosen Sterben
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verurteilt ist?
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Auf der Suche nach einer Antwort gelangt Nietzsche zur Kunst. Er bemüht sich
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sogar aus seinem eigenen Leben ein Kunstwerk zu erschaffen: „Der junge Nietzsche,
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der auf der inneren Bühne der Tagebücher dem eigenen Leben Bedeutung verleihen
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möchte, bewundert jene Genies, die nicht nur nach innen, sondern auch fürs
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Publikum zu Darstellern ihres Selbst, zu Autoren des eigenen Lebens werden
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konnten.“\footcite[25]{safranski:biographie} In der Kunst offenbart sich
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die menschliche Schaffenskraft, vielleicht kann sie einen wesentlichen Beitrag
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zum Leben leisten.
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Nietzsches Haltung zur Kunst war im Laufe seines Lebens bei weitem nicht
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konstant. Er revidierte und entwickelte seine Ansichten weiter. Alles fängt
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dennoch mit dem am 2. Januar 1872\footcite[Vgl.][11]{ries:geburt}
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erschienenen Buch „Die Geburt der Tragädie aus dem Geiste der Musik“ an, das
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„innerhalb seines Gesamtwerkes eine herausragende
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Position“\footcite[11]{ries:geburt} einnimmt.
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\subsection{Die Geburt der Tragödie}
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Im Bezug auf „Die Geburt der Tragödie“ spricht Wiebrecht Ries von der Geburt
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Nietzsches Philosophie, die sich in diesem Buch ereignet.\footcite[7]{ries:geburt}
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Es ist aber bemerkenswert, dass das kein philosophisches Werk, sondern ein
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philologisches ist. Nietzsche wurde früh ohne Promotion und Habilitation als
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Professor für klassische Philologie berufen und hatte die Absicht, mit einer
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schriftlichen Arbeit zu beweisen, dass er seine Berufung verdient
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hat.\footcite[Vgl.][52]{safranski:biographie} Trotzdem scheint Nietzsche sich
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mit der Zeit immer mehr der Philosophie zuwenden zu wollen. So bewirbt er sich
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vermutlich im Jahre 1871 um Lehrstuhl für Philosophie in
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Basel.\footcite[Vgl.][183]{hayman:biographie} Diese innere Spannung, in der
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er sich damals befand, spiegelt sicht auch in der „Geburt der Tragödie“ wider.
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So, während Ronald Hayman hervorhebt, dass das Werk „unbestritten brillant“ sei,
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charakterisiert er es zugleich als „die Mischung von Philosophie und
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dichterischen Parodoxon mit der klassischen Philologie“.\footcite[183]{hayman:biographie}
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Nicht nur Nietzsches Kritiker heben die Bedeutung der „Geburt der Tragödie“
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hervor,\footcite[Vgl.][12]{ries:geburt} sondern auch Nietzsche
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selbst kommt in seinen späteren Jahren immer wieder auf sein Erstlingswerk
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zurück. 1886 läßt er eine zweite Ausgabe erscheinen, wobei wenn die
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ursprüngliche Überschrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“
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lautete, die Neuausgabe mit dem Titel „Die Geburt der Tragödie. Oder:
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Griechenthum und Pessimismus“ versehen wurde.\footcite[Vgl.][326]{groddeck:geburt-in-ecce}
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Außerdem wurde der zweiten Ausgabe noch eine Vorrede, die mit „Versuch der
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Selbstkritik“ betitelt wurde, vorangestellt.\footcite[Vgl.][11--22]{nietzsche:geburt}
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Eine weitere Reflexion Nietzsches über sein Frühwerk findet man in „Ecce homo“
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im Kapitel „Die Geburt der Tragödie“.\footcite[Vgl.][309--315]{nietzsche:ecce-homo}
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Unabhängig davon, wie man diese Bezugnahmen Nietzsches auf seine erste Schrift
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bewertet, scheint sie für ihn niemals ganz an Bedeutung verloren zu haben.
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Wie der Titel des Buches unschwer erraten lässt, handelt es sich um die Geburt
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beziehungsweise Entstehung der Tragödie und zwar der griechischen. Nietzsche
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greift aus der griechischen Mythologie zwei Gottheiten heraus, die zwei
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grundlegende Mächte des Seins symbolisieren, und entwickelt seine Theorie von
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dem Aufstieg und Niedergang der attischen Tragödie: „An ihre [der Griechen]
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beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, dass
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in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen,
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zwischen Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der
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Musik, als der des Dionysus, besteht“.\footcite[25]{nietzsche:geburt}
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\subsubsection{Zwei Vorträge über die griechische Tragödie}
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„Die Geburt der Tragödie“ ist nicht die erste Arbeit, in der sich Nietzsche mit
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dem dort behandleten Themenspektrum auseinandersetzt. 1870 hat Nietzsche zwei
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Vortrage in Baseler Museum gehalten: einen am 18. Januar über „Das griechische
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Musikdrama“ und den anderen am 1. Februar über „Socrates und die griechische
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Tragödie“.\footcite[Vgl.][29 f]{ries:geburt} „In ihnen ist die
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Gesamtkonzeption der Tragödienschrift bereits vorgebildet, die Entstehungs- und
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Verfallstheorie der Tragödie im Rahmen des Verhältnisses von Kunst und
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Kultur.“\footcite[29]{ries:geburt}
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Im Vortrag „Das griechische Musikdrama“ entwickelt Nietzsche in Anlehnung an ein
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Werk der zeitgenössischen Altphilologie, „Geschichte der griechischen Literatur“
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von Karl Otfried Müller, die Auffassung, dass die griechische Tragödie aus dem
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Dionysoskult entstanden ist. Dionysische Feste treiben die feiernden Menschen
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bis zum Exzess, ins Maßlose, sodass principium individuationis durchbrochen wird
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und der Mensch sich als Individuum in der Menge verliert und sich in ihr auflöst.
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Wie in einem ekstatischen Rausch glauben die dionysischen Schwärmer, die dieses
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Ganze, diese verschmolzene Einheit bilden, dieselben Visionen zu sehen. Am Ende
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eines Festes kommt allerdings die Zeit, dass alle wieder ihre alte Gestalt
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annehmen. Und für dieses Stadium hatte der Grieche die Tragödie nötig, die das
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Ritual war, das den Übergang in die Vereinzelung weniger gefährlich
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machte.\footcite[Vgl.][52 f]{safranski:biographie}
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Der oben geschilderte Vorgang dionysischer Feste ist die Grundlage oder Urbild
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dessen, was im griechischen Musikdrama geschieht. Nietzsche sieht die
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Festlichkeit als Bestandteil der Kunst überhaupt, so notiert er 1880:
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\begin{quote}
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„Einstmals muß die Kunst der Künstler ganz in das
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Festebedürfniß der Menschen aufgehen: der einsiedlerische und sein Werk
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überhauptausstellende Künstler wird verschwunden sein: sie stehen dann in der
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ersten Reihe derer, welche in Bezug auf Freuden und Feste erfinderisch
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sind.“\footcite[58]{nietzsche:fragmente}
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\end{quote}
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Das entscheidende Element des attischen Theaters ist der Chor, der ursprünglich
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der Satyrchor war. Während die Helden, die den dionysischen Schwärmern entstammen,
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auf der Bühne untergehen, bleibt der Chor immer bestehen, sodass die Helden als
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eine Vision des Chors vorgestellt werden. Das Singen des Satyrchors, die Musik,
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erzeugt also die Stimmung eines dionysischen Festes, in der die Menschen
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miteinander verschmelzen, und auch das Publikum wird von der Gewalt der Musik
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verschlungen. Die Protagonisten lösen sich aus dem Chor und, indem sie als
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Einzelne auftreten, erzeugen sie „lebende
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Dissonanz“,\footcite[Vgl.][54]{safranski:biographie} wonach sie wieder im Chor aufgehen.
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Das wesentliche Element der griechischen Tragödie sieht Nietzsche demzufolge in
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der Musik. Rüdiger Safranski bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Tragödie
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das Verhältnisbvon Musik und Wort symbolisiert: „Das Wort ist Mißverständnissen
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und Fehldeutungen preisgegeben, es kommt nicht aus dem Innersten und es reicht
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nicht bis dorthin.“\footcite[54]{safranski:biographie} Es ist also
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die Musik, die uns die Erkenntnis über die innersten Strukturen der Welt
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erschließt und nicht das Wort, nicht der Logos. Der Protagonist, der mit Worten
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operiert, geht im singenden Chor auf. Aus diesem Gedanken über die Macht der
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Musik über dem Wort fließt unmittelbar die Idee des zweiten Vortrages über
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„Socrates und die griechische Tragödie“. Sokrates war bekanntlich derjenige, der
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den Menschen den Glauben eingepflanzt hat, dass die Welt intelligibel ist, dass
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man die Wirklichkeit rational erkennen und erforschen kann. Die Vorstellung, die
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man vom Sein hat, wird viel oberflächlicher, das Unbewusste wird ausgegrenzt,
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man taucht nicht mehr in die Seinsabgründe, sondern man begnügt sich mit
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ausgedachten Begriffen, die darauf angewendet werden. Der Optimismus bahnt sich
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den Weg, die Hoffnung, das die dunklen Lebensmächte sich rational aufhellen und
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dann lenken lassen. „Denken und Sein sind keinesfalls dasselbe. Das Denken muß
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unfähig sein, dem Sein zu nahen und es zu packen.“\footcite[20]{nietzsche:fragmente}
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Diese Vereinfachung des Weltbildes beeinflusst unmittelbar die Tragödie. Sie
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wird dem Tod überlassen. Am Ende des Vortrages erwähnt Nietzsche allerdings,
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dass die Tragödie wiedergeboren werden kann.\footcite[Vgl.][55 f]{safranski:biographie}
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Wenn der erste Vortrag sich noch in Grenzen der damaligen altphilologischen
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Forschung bewegt, so ist der zweite, der nahezu vollständig in die „Geburt der
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Tragödie“ übernommen wurde,\footcite[Vgl.][30]{ries:geburt} für
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die Altphilologie so provokativ, dass Nietzsche sich bemüht, dass sein Lehrer
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Friedrich Ritschl, dem er seine erste Professur verdankt,\footcite[Vgl.][137 f]{hayman:biographie}
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nichts von dem Vortrag erfährt.\footcite[Vgl.][55]{safranski:biographie}
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\subsubsection{Schopenhauer und Wagner}
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Aus zwei Vorarbeiten zur „Geburt der Tragödie“ lässt es sich auf zwei Figuren
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schließen, deren Einfluss auf die frühen Einsichten Nietzsches, was die Kunst
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betrifft, maßgeblich war. Es sind Arthur Schopenhauer und Richard Wagner.
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Die zentrale Unterscheidung der nietzscheanischen Metaphysik zwischen dem
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Apollinischen und dem Dionysischen geht auf Arthur Schopenhauer zurück, genauer
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gesagt auf sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, das Nietzsche
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fast zufällig, vermutlich Ende Oktober 1865, kennenlernte.\footcite[Vgl.][99 f]{hayman:biographie}
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Er übernimmt Schopenhauers Ideen, modifiziert sie und formt sie um. Was
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Nietzsche das Dionysische nennt, ist der Wille bei Schopenhauer; das Apollinische
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ist die Vorstellung.\footcite[Vgl.][17 f]{ries:geburt} Nach
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Schopenhauer ist der Wille, genauso wie das dionysische Element bei Nietzsche,
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eine absolute Einheit und absolute Negativität, weil er der unvernünftige Grund
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der Welt ist, der im ewigen Werden und so die Ursache alles Leidens
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ist.\footcite[Vgl.][19]{schulz:function-and-place}Die reinen Formen der
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Sinnlichkeit, Raum und Zeit im Zusammenspiel mit der Kategorie der Kausalität
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verursachen, dass das Seiende in einzelne Gestalten zerfällt und als eine
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objektive Welt vorgestellt wird.\footcite[Vgl.][1]{boening:metaphysics-art-lang}
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Daher ist die Bezeichnung „Vorstellung“.
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Auch die hohe Schätzung der Kunst und besonders der Musik findet man bei Schopenhauer
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wieder. Schopenhauer greift auf den platonischen Begriff der Idee zurück. Die Ideen
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sind jedoch nicht in einem ideellen Reich verankert, sondern sie werden in der Kunst
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erst erzeugt. So erschafft die Kunst eine andere Welt, die eine gewisse Ruhe vom Werden
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aufweist.\footcite[Vgl.][19 f]{schulz:function-and-place} Die Musik nimmt eine Sonderstellung
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in diesem Modell ein. Sie rührt an das Wesen des Seins. Sie hat den gleichen Wert
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wie die erscheinende Welt selbst. Wenn ein malerisches Kunstwerk „sekundäre“ Qualität
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hat, da es nur die Abbildung einer Erscheinung, der Welt, ist, hat die Musik den gleichen
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Rang mit der erscheinenden Welt, weil die Musik die Abbildung des Wesens der Welt,
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des Willens, selbst ist.\footcite[Vgl.][231]{boening:metaphysics-art-lang} Nietzsche
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misst der Musik allerdings noch mehr Bedeutung bei, als dies Schopenhauer tut, denn
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sie wird bei dem Ersteren nicht bloß als „‚Quietiv‘, sondern \textit{Stimulans}
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||
des Lebens“\footcite[18]{ries:geburt} verstanden.
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Seit 1868 kannten Nietzsche und Wagner einander persönlich.\footcite[Vgl.][523]{hayman:biographie}
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Schopenhauer war gewissermaßen ein Bindeglied zwischen diesen beiden, da Wagner auch
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von der schopenhauerschen Philosophie inspiriert war, und zwar lebenslang, im Gegensatz
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zu Nietzsche, der sich mit der Zeit sowohl von Schopenhauer als auch von Wagner distanzierte.\footcite[Vgl.][20]{ries:geburt}
|
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Wenn Nietzsche am Ende seines Vortrages über Sokrates, der die Schuld daran trägt,
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dass die griechische Tragödie zugrunde geht, eindeutet, dass die Hoffnung auf die
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||
zweite Geburt oder Wiedergeburt der Tragödie besteht, so verweist er eindeutig auf
|
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Richard Wagner als den, der den Prozess dieser Wiedergeburt in Gang setzen kann.\footcite[Vgl.][56]{safranski:biographie}
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Wie die Tragödie aus dem Geiste der Musik geboren werden soll, lässt sich aus Wagners
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Konzeption des Gesamtkunstwerkes und der absoluten Musik erklären. Zur Zeit Wagners
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wurde die Musik als selbständige Kunstgattung gesehen, was nicht immer der Fall war.
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Bis Ende des 18. Jahrhunderts war man oft der Auffassung, dass sie nur eine begleitende
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Komponente zum Text darstellt, der Affektäußerung dient und keinen eigenständigen
|
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Wert hat. Deswegen musste sich die instrumentelle Musik, die sich auf keinen Text
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stützte, gegen diese Betrachtungsweise wehren, um nicht als sinnlos zu gelten.\footcite[Vgl.][158 f]{bruse:gesamtkunstwerk}
|
||
Demzufolge kann man die Tatsache, dass der Musik bei Schopenhauer und Nietzsche eine
|
||
herausragende gegenüber den anderen Kunstgattungen Rolle, zukommt, auch als eine Folge
|
||
dieses Kampfes innerhalb der Ästhetik ansehen. So hat man eine an sich „bedeutungslose
|
||
Tonfolge“ in eine Kunst umgewandelt, die viel tiefgründiger als alle anderen Künste ist:
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||
\begin{quote}
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||
„Im Verhältniß zur Musik ist alle Mittheilung durch
|
||
Worte von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht:
|
||
das Wort macht das Ungemeine gemein.“\footcite[219]{nietzsche:fragmente}
|
||
\end{quote}
|
||
|
||
Das Verhältnis zwischen der Musik und dem Wort ist nicht mehr, dass die Musik ohne
|
||
Text ihren Wert verliert, sondern dass der Text nur eine mögliche Deutung einer musikalischen Komposition ist.
|
||
|
||
Wagner hat selber die Instrumentalwerke zunächst dem Drama untergeordnet: Ohne dazugehöriges
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||
Bühnengeschehen verliere die instrumentelle Musik ihre inhaltliche Füllung. Um so
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||
eine von anderen Künsten (beispielsweise Dichtung, szenische Handlung) und vom Gesamtkunstwerk
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||
losgelöste Musik zu bezeichnen, gebrauchte er den Begriff „absolute Musik“. Nachdem
|
||
Wagner jedoch Schopenhauers Anhänger wird, ändert er diese Konzeption. Die Musik äußert
|
||
jetzt das eigentliche Wesen der Handlung und nicht erst durch diese sinnvoll wird.
|
||
Die Idee der absoluten Musik, die bei Nietzsche autonom ist, liegt dionysischer Musik
|
||
zugrunde.\footcite[Vgl.][158--160]{bruse:gesamtkunstwerk} Dass die Musik nicht an eine
|
||
konkrete Interpretation gebunden ist, zeigt Nietzsche am Beispiel des Volksliedes.
|
||
Konstituierendes Element des Volksliedes ist die „ursprüngliche Melodie“, die mit
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||
verschiedenen Texten versehen werden kann. Kein Text kann die „Weltsymbolik“ der Musik
|
||
vollständig zum Ausdruck bringen.\footcite[Vgl.][48 f]{nietzsche:geburt}
|
||
|
||
\begin{quote}
|
||
„In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die
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||
Sprache auf das Stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen.“\footcite[49]{nietzsche:geburt}
|
||
\end{quote}
|
||
|
||
Das Wort erleidet die Gewalt der Musik und sucht sie nachzuahmen, aber mehr vermag
|
||
es nicht. Der Text wird aus der Melodie geboren:
|
||
|
||
\begin{quote}
|
||
„Wer eine Sammlung von Volksliedern z.B. des Knaben
|
||
Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele finden, wie
|
||
die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht: die in ihrer Buntheit,
|
||
ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und
|
||
seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren.“\footcite[49]{nietzsche:geburt}
|
||
\end{quote}
|
||
|
||
Aus demselben Geiste der Musik, aus dem die Volksdichtung geboren wird, wird auch die attische Tragödie geboren.
|
||
|
||
\subsubsection{Das Apollinische und das Dionysische}
|
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|
||
Schon öfter wurden Apollo und Dionysus erwähnt, auf die Nietzsche als Vertreter zweier
|
||
Götterwelten der Griechen greift, die nach Auffassung der Romantik, die „zur Zeit
|
||
Nietzsches als kanonisch galt“,\footcite[40]{ries:geburt} in
|
||
einem Gegensatz zueinander stehen. Einerseits ist das die olympische, mit der Dichtung
|
||
Homers verbundene Religion mit ihren leuchtenden Göttern (Zeus, Apollo, Athene),\footcite[Vgl.][40]{ries:geburt}
|
||
andererseits die chthonische, die „eine ältere Schicht der griechischen Religion als
|
||
Glauben an die dunkle Mächte der Erdtiefe, wie er in der Dichtung Hesiods sichtbar
|
||
wird an den Töchtern der Nacht, den Erinyen, den weiblichen Todesgöttinnen (Kore,
|
||
Demeter, Persephone)“,\footcite[40--41]{ries:geburt} ist. Nietzsche
|
||
verwendet jedoch die Namen der beiden Götter sehr oft adjektivisch: apollinisch und
|
||
dionysisch. Daraus lässt sich schließen, dass jedes dieser Adjektive ein Sammelbegriff
|
||
für ein Bündel von Eigenschaften ist. Genauso wie die Griechen selbst sich ihrer Götter
|
||
bedient haben, um die mysteriöse, unbekannte Seite der Natur zu entschärfen, indem
|
||
man die natürlichen Erscheinungen mythisch erklärt, bedient sich Nietzsche dieser
|
||
zwei Göttergestalten, um zwei verschiedene Aspekte des Seins zu beschreiben. Diese
|
||
Aspekte stehen in einem Widerstreit miteinander, in welchem sie „durch einen metaphysischen
|
||
Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘“\footcite[25]{nietzsche:geburt} die attische Tragödie gebären.
|
||
|
||
Apollo ist für Nietzsche nicht nur bloß der Sonnengott, sondern Nietzsche spielt mit
|
||
dem Begriff der Sonne, die scheint, und Apollo wird aus dem scheinenden Gott der Gott
|
||
des Scheines. Der Schein hat eine gestaltende Funktion, er bringt die Schönheit der
|
||
Formen, die er erzeugt, mit sich.\footcite[Vgl.][26 ff]{nietzsche:geburt} Dieser
|
||
freie Umgang mit dem Mythos hat bereits am Anfang des Textes einen Anlass zur Kritik
|
||
seitens der Philologen gegeben. So verfasst Dr.\ phil.\ Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf
|
||
Pamphlet „Zukunftsphilologie!“. Nachdem Nietzsches Freunde, Erwin Rohde und Richard
|
||
Wagner, versucht haben, Nietzsches Schrift gegen die Angriffe zu verteidigen, veröffentlicht
|
||
Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf einen zweiten Teil. Im ersten Teil, im Bezug auf
|
||
Apollo als den Gott des schönen Scheins, schreibt er: „es gehörte freilich eine gewaltige
|
||
‚tapferkeit‘ dazu, aus Apollon, der ‚seiner wurzel nach der scheinende ist‘. (5) auf
|
||
dem wege des kalauers den ‚gott des scheins‘, d.h.\ des scheins des scheins, ‚der
|
||
höhern wahrheit des traumes gegenüber der lückenhaft verständlichen tageswirklichkeit‘
|
||
zu machen!“\footcite[34]{zukunftsphilologie}
|
||
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||
Dionysus symbolisiert dagegen die entgegengesetzte Kraft. Von Lust und orgiastischen
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Trieben gelenkt schafft sie nichts, sondern ist darum bemüht den Schein zu zerstören,
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jede Ordnung zunichte zu machen, in den Urzustand einer ungeordneten Einheit zu bringen.\footcite[Vgl.][28 ff]{nietzsche:geburt}
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Die eigentliche Äußerung findet das Dionysische in der Musik, wobei Nietzsche wiederum
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von der dorischen Musik als von der apollinischen spricht.\footcite[Vgl.][33]{nietzsche:geburt}
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K. O. Müller folgend stellt Nietzsche auf diese Weise der dorischen, apollinischen
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Musik den dionyischen Dithyrambus entgegen.\footcite[Vgl.][47 f]{ries:geburt}
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Dennoch ist die Kunst nur als Produkt dieses Kampfes von Entstehen und Vergehen möglich.
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So spricht Nietzsche im Bezug auf das Apollinische und Dionysische vom „Urwiderspruch“.\footcite[Vgl.][70]{nietzsche:geburt}
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Des weiteren wendet sich Nietzsche an Euripides mit den Worten: „Und weil du Dionysus
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verlassen, so verliess dich auch Apollo“.\footcite[75]{nietzsche:geburt}
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Wenn jemand den Einen verlässt, so entkommt ihm auch der Andere.
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Man muss auch in Betracht ziehen, dass der junge Nietzsche einen sehr breiten Kunstbegriff
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hat. Es sind nicht die physikalischen Gesetze, die die die Welt und alles Leben konstituieren,
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vielmehr sind es die beiden Mächte, das Apollinische und Dionysische. „[D]ie Welt
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selbst ist nichts als Kunst“.\footcite[183]{nietzsche:fragmente} Indem
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Nietzsche die Welt als „sich selbst gebärende[n] Kunstwerk“\footcite[182]{nietzsche:fragmente}beschreibt,
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entwirft er eine „Artisten-Metaphyisk“.\footcite[Vgl.][182]{nietzsche:fragmente}
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Alles ist in der Welt im Werden, alles kommt und vergeht, jedes Seiende entsteht,
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um sich schließlich im Nichts spurlos aufzulösen. Das eigentliche Wesen, der erste
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Grund der Welt ist das Leid, der Urschmerz. Dies macht verständlich, warum Nietzsche
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im „Versuch einer Selbstkritik“ die Auffassung in Frage stellt, dass der Optimismus
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||
ein Zeichen der Blütezeit ist. Vielmehr war der mit dem Namen Sokrates verbundene
|
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Optimismus und die Hoffnung, die Welt vernünftig erkennen zu können, ein Symptom einer
|
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unheilbaren Krankheit, ein Todeszeichen. Was die Kunst fordert, ist nicht der Optimismus,
|
||
sondern der Pessimismus.\footcite[Vgl.][12 f]{nietzsche:geburt} Das Sein selbst
|
||
ist also in seinem Innersten untrennbar mit Pessimismus verbunden und das ist das
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||
Faktum, das nicht „das Erspriesslichste“ für den Menschen ist. Nietzsche gibt die
|
||
alte Sage wieder, nach der der König Midas den weisen Silen aufsucht, um ihn zu fragen,
|
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was für den Menschen das Allerbeste sei. Der Silen antwortet darauf: „Das Allerbeste
|
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ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu
|
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sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben.“\footcite[35]{nietzsche:geburt}
|
||
Wie kann man angesichts dieses Grauens noch die menschliche Existenz rechtfertigen?
|
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Wie kann man es ertragen, jeden Morgen die Augen zu öffnen? Das ist der Augenblick,
|
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an dem das Apollinische, „das entzückte Verharren vor einer erdichteten und erträumten
|
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Welt“,\footcite[180]{nietzsche:fragmente} ins Spiel kommt. Um die Wirkung
|
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der Schönheit des Scheins auszudrücken, haben die Griechen die olympischen Götter
|
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erdichtet, „[u]m leben zu können“\footcite[36]{nietzsche:geburt}
|
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mussten die Bewohner des Olymps ins Dasein gerufen werden. „So rechtfertigen die Götter
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das Menschenleben, indem sie es selbst leben.“\footcite[36]{nietzsche:geburt}
|
||
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||
Außer dem oben erwähnten Gegensatz zwischen der Kunst des Bildners und der der Musik
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verwendet Nietzsche noch ein weiteres Gleichnis, um das Wesen des Apollinischen und
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||
des Dionysischen näher zu bestimmen, und zwar spricht er vom Traum und Rausch.\footcite[26]{nietzsche:geburt}
|
||
Die Welt, wie sie uns vor unseren Augen erscheint, erscheint eben nur so, an sich
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||
ist sie „eine einzige ununterschiedene Flut“.\footcite[216]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||
In Dionysus, wie unter der Wirkung des Rausches, taucht der Mensch in die Selbstvergessenheit
|
||
ein, die Grenzen des Individuellen verschwimmen immer mehr, bis sie verschwinden.
|
||
Auf der anderen Seite dieses Ur-Eine selbst, in dem alles Seiende wurzelt und aus
|
||
dem Alles hervorgeht, träumt die Welt durch den Menschen und ist somit selbst der
|
||
Grund für die Erscheinung. Das ist der Unterschied zu Schopenhauers System, dem die
|
||
Prinzipien des Dionysischen und des Apollinischen entnommen sind. „Für Schopenhauer
|
||
bewirken die reinen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, als das ‚principium individuationis‘
|
||
die Zerteilung alles für uns Seienden in die Vereinzelung“.\footcite[216]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||
Es ist also nicht der Wille selbst, wie es bei Nietzsche der Fall ist.\footcite[Vgl.][217]{boening:metaphysics-art-lang}
|
||
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||
\subsubsection{Entstehung und Verfall der griechischen Tragödie}
|
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\epigraph{Die tragische Kunst, an beiden Erfahrungen reich, wird
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als Versöhnung des Apoll und Dionysos bezeichnet: der Erscheinung wird die tiefste
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||
Bedeutsamkeit geschenkt, durch Dionysos: und diese Erscheinung wird doch verneint
|
||
und mit Lust verneint.}
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{\textit{Herbst 1885 -- Herbst 1886}\\
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||
\textbf{Friedrich Nietzsche}\footcite[181]{nietzsche:fragmente}}
|
||
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||
Nietzsche hat die tragische Kunst als Gegenstand seiner Betrachtung ausgewählt, weil
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||
sie die Tragik des Lebens wiedergibt. Alles Leben dreht sich selbst im ewigen Kreis
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von Werden und Vergehen, und es hat ihren Ursprung in der Duplizität des Apollinischen
|
||
und Dionysischen genauso wie die griechische Tragödie. Die Griechen konnten die beiden
|
||
Gegensätze in der Tragödie vereinigen und miteinander versöhnen.\footcite[Vgl.][56]{ries:geburt}
|
||
Die Entstehung der Tragödie ist nicht so wichtig in historischer Hinsicht wie für
|
||
die Beschreibung dessen, wie die Kunst überhaupt „geboren“ wird.
|
||
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||
Als Vorbild eines Tragödiendichters wählt Nietzsche Archilochus, der uns „durch die
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trunknen Ausbrüche seiner Begierde“\footcite[43]{nietzsche:geburt}
|
||
erschreckt, er ist also ein dionysischer Dichter. Sein Verdienst ist, dass er das
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||
Volkslied in die Literatur eingeführt hat, wobei das Volkslied dadurch, dass sie als
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||
„ursprüngliche Melodie“ verstanden, eine metaphysische Bedeutung bekommt.\footcite[Vgl.][48 f]{nietzsche:geburt}„
|
||
Hier folgt Nietzsche Schopenhauer, für den es innerhalb der Musik die Melodie ist, die
|
||
als tonaler Zusammenhang dem ‚Willen‘ am nächsten kommt.“\footcite[67]{ries:geburt}
|
||
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||
Wie Nietzsche bereits in seinem Vortrag „Die griechische Musikdrama“ erläutert, ist
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||
die attische Tragödie aus dem Chor entstanden und war „nur Chor und nichts als Chor“.\footcite[52]{nietzsche:geburt}
|
||
Der Chor ist wiederum ein dionysisches Element, weil Nietzsche ihn „Satyrchor“\footcite[Vgl.][55]{nietzsche:geburt}
|
||
bezeichnet, es wurde also vorgestellt, dass er aus den mythischen Wesen, die Dionysus
|
||
begleiteten, besteht. Auch das Thema der Tragödie war nichts anderes als Dionysus
|
||
und die Darstellung seiner Leiden. Nietzsche erblickt hier aber etwas, was er „metaphysischen
|
||
Trost“ nennt, und zwar besteht dieser Trost darin zu sagen, dass das Leben trotz allem
|
||
„unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“.\footcite[56]{nietzsche:geburt}
|
||
Wiebrecht Ries bemerkt dazu, dass der metaphysiche Trost nicht der griechischen Tragödie
|
||
entstammt, sondern vielmehr Nietzsches Lebensphilosophie. Nietzsche wendet sich im
|
||
Grunde gegen den Pessimismus von Schopenhauer und behauptet das Leben als etwas Lustvolles,
|
||
etwas, was gerechtfertigt werden kann.\footcite[Vgl.][70]{ries:geburt}
|
||
|
||
An der Stelle, an der Nietzsche über das Volkslied spricht, redet er über den Prozess
|
||
einer Entladung der Musik in Bildern.\footcite[Vgl.][50]{nietzsche:geburt}
|
||
Wie ich bereits erwähnt habe, hat das Bild gegenüber der Musik eine sekundäre Stellung,
|
||
einerseits hilft es bei der Deutung der Musik, andererseits ist die Gewalt der Musik,
|
||
deren Klang aus dem tiefsten Grund der Welt stammt, so gewaltig, dass sie eine Entladung
|
||
im Bild nötig hat, sie muss besänftigt werden.\footcite[Vgl.][67 f]{ries:geburt}
|
||
Für Nietzsche wird der Prozess der Entladung in der Tragödie nachvollziehbar: Das
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||
Geschehnis der Tragödie wird in der Handlung entladen. Das ist eine Parallele zu dionysischen
|
||
Festen: Am Ende des Festes war genauso die Entladung in der tragischen Handlung vonnöten,
|
||
um in das tägliche, individuelle Leben zurückzukehren.
|
||
|
||
Es ist wichtig anzumerken, dass es eben um ein Geschehnis, genauer gesagt um ein Erlebnis
|
||
geht. Es gibt einen Unterschied zwischen dem erzählten, ewigen (zeitlosen) Epos und
|
||
der Tragödie als Drama, die erlebt wird. Der Chor sieht die göttlichen, dionysischen
|
||
Visionen; die Zuschauer sind keine Zuschauer, sondern Zeugen; die Helden, „alle die
|
||
berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w.\ [sind] nur Masken
|
||
jenes ursprünglichen Helden Dionysus [\dots]“.\footcite[71]{nietzsche:geburt}
|
||
Die Tragödie wird nicht einfach gespielt, sondern immer neu erlebt.\footcite[Vgl.][71--73]{ries:geburt}
|
||
Dies erklärt unter Anderem, wieso Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik“ schreibt,
|
||
dass „Die Geburt der Tragödie“ ein Buch für die Künstler ist, es ist ja „aus lauter
|
||
vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen“\footcite[13]{nietzsche:geburt}
|
||
aufgebaut. Es reicht nicht, etwas über die Kunst zu lesen oder sie zu besprechen.
|
||
Allein die Selbsterlebnisse haben das entscheidende Gewicht. Es ist ein Buch, die
|
||
für diejenigen geeignet sind, die mit Nietzsche gleichgesinnt sind, „für Künstler
|
||
mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten“.\footcite[13]{nietzsche:geburt}
|
||
|
||
Der Verfall der Tragödie fängt mit Euripides an, „der die vernunftgeprägte Weltverhaltung
|
||
in der Tragödiendichtung und dann in der Kunst überhaupt — wesenswidrig — zur Herrschaft
|
||
gebracht haben soll“.\footcite[238]{boening:metaphysics-art-lang} Während Ulrich
|
||
von Wilamowitz-Möllendorff den alleinigen Grund Nietzsches Argumentation gegen Euripides
|
||
darin sieht, dass Nietzsche mit einem maßlosen Hass gegen den Dichter, „welcher nächst
|
||
Homer dem gesamten altertum teuer und vertraut war“,\footcite[48]{zukunftsphilologie}
|
||
erfüllt war, betrachtet W. Ries diese Entgegenstellung eines wahren, dionysischen
|
||
Tragikers, Archilochus, und „frevelndes“\footcite[Vgl.][74]{nietzsche:geburt}
|
||
Euripides als Teil einer Strategie. Nietzsche zielt damit auf die Gegenwartskritik
|
||
ab.\footcite[Vgl.][92]{ries:geburt} Hier kommt „der tiefe Hass gegen
|
||
‚Jetztzeit‘, ‚Wirklichkeit‘ und ‚moderne Ideen‘“\footcite[21]{nietzsche:geburt}
|
||
zum Ausdruck. Die Kritik wird von Nietzsches Zeit auf die Antike projiziert, das idealisierte
|
||
sechste Jahrhundert wird hervorgehoben und der Zeit des Verfalls, dem dritten und
|
||
vierten Jahrhundert entgegengestellt.\footcite[91 f]{ries:geburt}
|
||
|
||
Aus dem Euripides spricht weder Dionysus noch Apollo, sondern „ein ganz neugeborner
|
||
Dämon, genannt Sokrates“.\footcite[83]{nietzsche:geburt} Im Folgenden
|
||
entwickelt Nietzsche das Bild eines theoretischen Menschen, dessen Hauptvertreter
|
||
Sokrates ist. Der theoretische Mensch ist auch um die Suche der Wahrheit bemüht, um
|
||
das Erkennen des Innersten des Seins, aber er sucht die Wahrheit auf einem ganz anderen
|
||
Wege. Anhand eigener Vernunft versucht der Theoretiker die kausalen Zusammenhänge
|
||
in der Natur zu erkennen. Er vertieft sich immer weiter in die theoretischen Erkenntnisse
|
||
mit dem Glauben (sogar wie Nietzsche sagt von der „Wahnvorstellung“ getrieben), „dass
|
||
das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins
|
||
reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren
|
||
im Stande sei“.\footcite[99]{nietzsche:geburt} Das Eintreten des theoretischen
|
||
Menschen in die griechische Kultur kennzeichnet gleichzeitig den Tod der Tragödie
|
||
und damit auch den Tod der Kunst überhaupt. Die Wissenschaft sucht auf der Oberfläche,
|
||
nur in der apollinischen Erscheinung und reicht nicht bis zum dunklen Grund des Daseins,
|
||
der sich einem in der Tragödie offenbart.
|
||
|
||
Obwohl Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik“ schreibt, dass er „Hoffnungen anknüpfte,
|
||
wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies“,\footcite[20]{nietzsche:geburt}
|
||
sah er vor seiner Enttäuschung und dem Bruch mit Wagner in 1876\footcite[Vgl.][379]{safranski:biographie}
|
||
ein Potenzial zur Wiedergeburt der Tragödie beziehungsweise zur Auferstehung der Kunst.
|
||
Bereits am Anfang schrieb Nietzsche über seine Erfahrung, dass wir bei dem „höchsten
|
||
Leben“ der Traumwirklichkeit „doch noch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins
|
||
haben“\footcite[26]{nietzsche:geburt} und zur Bekräftigung seiner
|
||
Worte auf Schopenhauer verwiesen hat, der behauptete, dass, wenn einem alle Dinge
|
||
manchmal als bloße Phantome vorkommen, dies ein Kennzeichen philosophischer Befähigung
|
||
ist.\footcite[Vgl.][26 f]{nietzsche:geburt}Eben Schopenhauer, der seinerseits
|
||
an Kants Erkenntniskritik anknüpft, trägt der Wiedergeburt der Tragödie und der Kunst
|
||
bei, indem er den „metaphysischen Erkenntnisoptimismus“ kritisiert.\footcite[Vgl.][113]{ries:geburt}
|
||
Auch in der deutschen Musik, wie etwa „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, lassen
|
||
sich die Töne erkennen, die die Ketten der Erscheinung zerreißen und den Menschen
|
||
zum finsteren Grund seiner Selbst und der Welt bringen.\footcite[Vgl.][114--116]{ries:geburt}
|
||
Bezüglich Wagner findet man bei Nietzsche folgende Aufzeichnung aus dem Jahr 1871:
|
||
|
||
\begin{quote}
|
||
„Ich erkenne die einzige Lebensform in der griechischen:
|
||
und betrachte Wagner als den erhabensten Schritt zu deren Wiedergeburt im deutschen
|
||
Wesen.“\footcite[24]{nietzsche:fragmente}
|
||
\end{quote}
|
||
|
||
\subsubsection{Zeitgenössische Rezeption}
|
||
|
||
Was ist von dieser Geschichte der griechischen Tragödie, wie sie von Nietzsche dargelegt
|
||
wird, zu halten? Was hatte der Autor im Sinne als er dieses sein erstes Buch schrieb?
|
||
Das ist im Grunde ein Werk, das ein philologisches Problem behandelt. Gleichzeitig
|
||
wurde oben eine Vielfalt philosophischer Fragestellungen aufgezeigt, die der Autor
|
||
untersucht. „Die Geburt der Tragödie“ enthält die Grundzüge der gesamten späteren
|
||
Philosophie von Nietzsche. Die Themen, die er in der Tragödienschrift berührt, sind
|
||
prägend für sein gesamtes Denken, sie werden wieder aufgegriffen und weiter
|
||
entwickelt.\footcite[Vgl.][12]{ries:geburt}
|
||
Es stellt sich aber die Frage, ob diese Idealisierung der griechischen Tragödie als
|
||
eigentliche Kunst, ihr Verfall und Tod, der philologisch-historischen Realität entspricht,
|
||
zumindest dem Wissensstand Nietzsches Zeit. Wilamowitz-Möllendorff hat Nietzsche und
|
||
sein Werk „Geburt der Tragödie“ in seinem Aufsatz „Zukunftsphilologie!“ sehr scharf
|
||
angegriffen. Nach dem Versuch Wagners, Nietzsche zu verteidigen, hat Wilamowitz-Möllendorff
|
||
sogar eine Fortsetzung „Zukunftsphilologie! Zweites Stück\@. eine erwiderung auf die
|
||
rettungsversuche für Fr. Nietzsches ‚Geburt der tragödie‘“ verfasst.\footcite[Siehe][]{streit-um-geburt}
|
||
|
||
Bereits im Titel des zweiten Aufsatzes stehen die Begriffe, die es deutlich machen,
|
||
wie Wilamowitz-Möllendorff als Philologe Nietzsches Werk bewertet. Nietzsche wurde
|
||
nicht verteitigt, sondern man versuchte ihn zu „retten“ und er konnte trotz alledem
|
||
nicht gerettet werden, weil es nur „Versuche“ waren. Im ersten Teil seiner Auseinandersetzung
|
||
mit „Geburt der Tragödie“ wirft Wilamowitz-Möllendorff Nietzsche vor, Winckelmann,
|
||
nie gelesen zu haben,\footcite[Vgl.][32]{zukunftsphilologie} Homer nicht zu
|
||
kennen,\footcite[Vgl.][35]{zukunftsphilologie} Archilochus und die Geschichte
|
||
der griechischen Musik gröblich zu verkennen\footcite[Vgl.][38]{zukunftsphilologie}
|
||
und die Tragödie überhaupt, nicht zu kennen.\footcite[Vgl.][46]{zukunftsphilologie}
|
||
|
||
Wilamowitz-Möllendorff veweist auf Winckelmann, der gezeigt hat, „wie die allgemeinen
|
||
regeln wissenschaftlicher kritik auch für die geschichte der kunst, ja für das verständnis
|
||
jedes einzelnen kunstwerks nötig seien, [\dots]“.\footcite[32]{zukunftsphilologie}
|
||
Und der Ursprung des Missverständnisses zwischen Wilamowitz-Möllendorff und Nietzsche
|
||
scheint eben in dieser „Wissenschaftlichkeit“ zu liegen. Wenn man den Text der Tragödienschrift
|
||
sich anschaut, wird man feststellen, dass Nietzsche kaum die Quellen angibt, aus denen
|
||
er das Material für seine Überlegungen schöpft, oder die Angaben sind sehr ungenau.
|
||
An ein paar Stellen wird Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ zitiert,
|
||
die aber wohl nicht so aussagekräftig für eine philologische Forschung der attischen
|
||
Tragödie ist, ansonsten werden einige moderne und antike Autoren erwähnt ohne genauere
|
||
Angaben. Die Vernachlässigung der Prinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens ist
|
||
kaum ein Zufall oder Unaufmerksamkeit Nietzsches. Der Grund liegt meines Erachtens
|
||
darin, dass die primäre Zielsetzung beim Schreiben der Arbeit „Die Geburt der Tragödie“
|
||
gar nicht eine wissenschaftliche Untersuchung der Entstehung der attischen Tragödie
|
||
war. Vielmehr handelt es sich bei diesem Buch um einen modernen Mythos. Warum braucht
|
||
man aber in unserer von der Wissenschaft aufgekläre Gesellschaft Mythen? Denn wenn
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||
die Wissenschaft an ihre Grenzen kommt, muss sie in Kunst umschlagen.\footcite[Vgl.][99]{nietzsche:geburt}
|
||
Die wichtigsten Fragen des menschlichen Seins berührt die Wissenschaft nicht, sie
|
||
stellt sie oft nicht mal auf. Was ist der Sinn dessen, dass es etwas gibt. Um die
|
||
Antwort auf diese Frage zu geben, bedarf man eines Mythos, der erzählt, wie die Tragödie
|
||
aus dem Geiste der Musik geboren wird und wie diese göttliche Musik der tragischen
|
||
Aufführung auf der Bühne des Lebens Sinn verleiht.
|
||
|
||
Giorgio Colli nimmt Nietzsches philologische Position ernster. Er konstatiert zwar
|
||
auch die Tatsache, dass „[d]ie klassische Altertumswissenschaft [\dots] Nietzsches
|
||
Konzeption als unwissenschaftlich stillschweigend ignoriert“\footcite[901]{colli:geburt-nachwort}
|
||
hat, aber fügt hinzu, dass die Wissenschaft selbst nicht viel mehr auf diesem Gebiet
|
||
geleistet hat: „Die überlieferten Fakten sind immer noch die gleichen, dürftigen und
|
||
unsicheren.“\footcite[901]{colli:geburt-nachwort} Jedoch auch G. Colli
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||
ist es bewusst, dass „Die Geburt der Tragödie“ „keine historische Interpretation“
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||
der Entstehung und des Verfalls der Tragödie ist, sondern das Werk „eine Interpretation
|
||
des gesamten Griechentums“ und „eine philosophische Gesamtschau“ entfaltet.\footcite[Vgl.][902]{colli:geburt-nachwort}
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