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date: 2013-05-25 06:16:00
tags: Aufsatz
title: Dubitō ergō nōn esse possim
teaser: |
<p>
Seit der Entstehung der Menschheit wunderte man sich über die Welt, die einen
umgibt. Man fragte sich, wie die Umwelt funktioniert, was hinter den natürlichen
Ereignissen steht, suchte nach Gesetzmäßigkeiten und legte auf diese Weise den
ersten Grundstein für das Gebäude der Physik. Dieses Projekt war jedoch
anscheinend so komplex, dass manche Philosophen sich wenige Jahrhunderte später
die Ansicht aneigneten, dass es überhaupt keine Wahrheit sondern nur Schein und
Täuschung gebe. Durch Grübelei und Diskutieren gelangte man schließlich zum
Zentrum seines Daseins, zu seinem Selbst, und stellte sich nun die Frage: „Was
bin ich? Habe ich zumindest eine sichere Erkenntnis, dass es mich selbst
tatsächlich gibt, oder bin ich auch ein bloßer Schein, eine Selbsttäuschung?“
</p>
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\subsection{Der Heimweg ins Reich des Selbst}
\epigraph{Nosce te ipsum.}{\textbf{Oraculum Delphis}}
Seit der Entstehung der Menschheit wunderte man sich über die Welt, die einen
umgibt. Man fragte sich, wie die Umwelt funktioniert, was hinter den natürlichen
Ereignissen steht, suchte nach Gesetzmäßigkeiten und legte auf diese Weise den
ersten Grundstein für das Gebäude der Physik. Dieses Projekt war jedoch
anscheinend so komplex, dass manche Philosophen sich wenige Jahrhunderte später
die Ansicht aneigneten, dass es überhaupt keine Wahrheit sondern nur Schein und
Täuschung gebe. Durch Grübelei und Diskutieren gelangte man schließlich zum
Zentrum seines Daseins, zu seinem Selbst, und stellte sich nun die Frage: „Was
bin ich? Habe ich zumindest eine sichere Erkenntnis, dass es mich selbst
tatsächlich gibt, oder bin ich auch ein bloßer Schein, eine Selbsttäuschung?“
Die so für den gemeinen Menschen merkwürdige Frage nach dem eigenen Sein
wurde schon so oft gestellt, obwohl nichts sicherer zu sein scheint, als, dass
es mich, wie ich mich empfinde, tatsächlich gibt. „Sei du selbst!“ hört man oft.
Was soll ich sein? Immer wieder versuchen die Philosophen auf diese Frage eine
Antwort zu geben, abstrahieren sich von ihren Vorgängern, um ihre Fehler nicht
zu erben und versuchen ihr System komplett und vollständig vom Anfang an
aufzubauen.
René Descartes erhob den Anspruch, das menschliche Denken auf einen festen
Boden zu stellen. 1637 veröffentlichte er den „Discours de la Méthode“, wo er
unter Anderem das Thema, was der Mensch ist und was der Mensch nicht ist,
behandelt. Wie gründlich und sicher der von ihm gelegte Weg ist, möchte ich im
Folgenden einer Prüfung unterziehen.
\subsection{Kritik an Descartes' Grundsatz}
\subsubsection{Die heimatlose Seele}
\epigraph{%
„Danach prüfte ich mit Aufmerksamkeit, was ich
war, und sah, daß ich so tun konnte, als ob ich keinen Körper hätte und es weder
eine Welt noch einen Ort gäbe, an dem ich mich befand\@. [\dots] Deshalb ist dieses
Ich, d.h.\ die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, vollkommen
unterschieden vom Körper [\dots].“
}{}
Der Leib sei kein notwendiger Bestandteil des Menschen, da die Seele (die
eigentliche Substanz, das Denkende) von keinem materiellen Ding
abhänge.\footcite[59]{discours} Mein Vorstellungsvermögen
reicht weder aus, um eine Seele, noch überhaupt etwas Nicht-Materielles
vorzustellen. Descartes verwechselt einen Begriff mit einer Vorstellung. Man hat
einen Begriff der Seele, aber keine Vorstellung davon, man hat einen Begriff der
Unendlichkeit, aber keine Vorstellung des Unendlichen,\footnote{Übrigens
entspringen die bekannten Paradoxa Zenos von Elea daraus, z.B. jenes, dass ein
Stab in zwei Teile getrennt werden kann, einer dieser Teile noch in zwei und so
ad infinitum. Es gibt folglich einen Begriff vom Unendlichen (unendlichen Teilen
in diesem Beispiel), mit dem man jedoch nichts anfangen kann, weil keine
Vorstellung gegeben ist. Wo das Fehlen der Vorstellung mit einem vorhandenen
Begriff zusammenstößt, entsteht ein Parodoxon (eine Antinomie bei Kant).}
einen Gottesbegriff, aber keine Vorstellung von Gott. Deswegen werden die
Gespenster in den Filmen zwar nicht als Menschen dargestellt, aber als
einigermaßen materielle Wesen, die man entweder sieht oder hört oder auf eine
andere Weise spürt (etwas Anderes ist gar nicht vorstellbar); deswegen gibt es
kirchliche Ikonen und Pilgerfahrten, weil man etwas Übersinnliches kaum verehren
kann.
\subsubsection{Meine Gedanken sind meine Gäste}
\epigraph{%
„Daraus erkannte ich, daß ich eine
Substanz war, deren ganzes Wesen oder deren ganze Natur nur darin bestand, zu
denken [\dots].“
}{}
Descartes definiert den Menschen als \textit{res
cogitans},\footcite[Vgl.][14--16]{principia} die Wladimir Solowjow
seinerseits als „cartesianisch[en]
Bastard“\footcite[115]{solowjow8} bezeichnet, weil jener dem
Subjekt das zuschreibe, was ihm nicht mit Sicherheit gehöre. Kein Mensch hat
sich jemals mit seinen Gedanken identifiziert, was schon aus dem Sprachgebrauch
zu sehen ist: eine Idee \textit{haben}, \textit{to have} an idea (englisch),
\textit{avoir} une idée (französisch), \textit{иметь} идею (russisch) --- und
ähnlichen Ausdrücken, wie mir ist \textit{etwas eingefallen}, mir ist \textit{ein
Gedanke gekommen}.
Andererseits haben viele Menschen ein Gewissen. Wie oft bereut ein
Erwachsener, dass er seinen Eltern Unrecht getan hat, indem er ihnen falsche
Motive unterstellte. Ich bereue also Gedanken, die ich hatte, als ob sie mir
fremd gewesen wären. Auf dasselbe läuft die christliche Patrologie hinaus:
„denn es fordert von dir der Herr, daß du über dich selbst zürnest und gegen
deinen Sinn kämpfest, nicht übereinstimmest und liebäugelst mit den Gedanken
\textit{der Bosheit}.“\footcite[17]{makarius}[Eigene
Hervorhebung] Folglich kann man sehr wohl glauben, dass, was nach Descartes
den Menschen ausmacht, das Denken, nicht das Subjekt selbst ist, sondern,
zumindest teilweise, von außen kommt (von Gott oder dem Teufel zum Exempel).
\subsection{Die Traumwelt oder die Welt des Traumes}
\epigraph{%
Die Nacht, die wir in tiefem Schlummer sehen,\\
Ein Engel schuf sie hier aus diesem Stein,\\
Und weil sie schläft, muss sie lebendig sein,\\
Geh, wecke sie, sie wird dir Rede stehen.}{\textbf{Giovanni Strozzi auf die „la Notte“ von Michelangelo}}
Descartes behauptet, dass die Gedankenwelt eines Traumes niemals so evident
und vollständig wie diese der Realität
sei.\footcite[Vgl.][69 f]{discours} Wie kann man zu diesem Schluss
kommen? Man vergleicht das Realitätsbewusstsein mit demjenigen eines Traumes,
was allerdings gar nicht in die umgekehrte Richtung geht: Im Traum gelten andere
Gesetze, die \textit{in diesem Moment} unvergleichbare Evidenz und
Vollständigkeit haben. Wenn ich also eine zweite Realität annehme und ich nur
das Produkt eines Traumes eines Marsianers bin, dann sind die Gedankengänge
meiner Wirklichkeit genauso lächerlich und absurd für die zweite Realität.
Die zweite Bedingung für die Vergleichbarkeit zweier Welten (Schlaf- und
Wachzustandes) ist die Zeit, da man momentanes Bewusstseinsgut mit einem in der
Vergangenheit liegenden Traum vergleicht. „Aber was ist eigentlich diese Summe
des Vergangenen? Liegt sie in meiner Hosentasche oder befindet sie sich auf
meinem Konto in der Bank? Sie existiert doch nur in dieser Minute, bloß als eine
Erinnerung, d.h.\ ein Bewusstseinszustand, ungetrennt davon, was ich nun
empfinde, und es ist selbstverständlich, dass im Fall einer Illusion des
Bewusstseins, sie auch eine Illusion des Gedächtnisses beinhaltet:
[\dots]“\footcite[121]{solowjow8} Warum, wenn unsere Sinnesorgane
uns keine objektive Darstellung des Raumes liefern, soll ich annehmen, dass die
Zeit nicht auch so ein Betrug ist.
Man kann seine Vergangenheit ganz leicht und schnell rekonstruiren, auch wenn
diese Rekonstruktion nicht im Geringsten der Wahrheit entspricht, ohne dabei
die Absicht zu lügen zu haben. Juristen sind so genannte \textit{Knallzeugen}
bekannt. „Der Knallzeuge funktioniert so: Es hat sich ein Autounfall ereignet,
zwei Fahrzeuge sind auf einer Kreuzung ineinander gerast; nun gilt es
herauszufinden, wer die Schuld trägt. Glücklicherweise existiert ein Zeuge, der
vor Gericht den Unfallhergang in allen Einzelheiten beschreiben kann\@. [\dots]
[D]er erfahrene Richter hat das Kinn in die Hand gestützt, hört dem Zeugen
aufmerksam zu und stellt schließlich die Frage, die man ihm im Referendariat
beigebracht hat: Und wie sind Sie auf das Unfallgeschehen aufmerksam geworden?
Der Zeuge antwortet: Als es so schrecklich knallte, habe ich mich
umgedreht.‘“\footcite[17]{psyche} Der Zeuge erzählte, was er
gar nicht gesehen hatte, wobei er selbst von seiner Geschichte so überzeugt war,
dass er die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen gar nicht bemerkte. Umso mehr
kann ich daran glauben, dass ich ein seine Seminararbeit schreibender
Philosophiestudent bin, der sich ganz deutlich an sein Abitur erinnern kann,
auch wenn ein Marsianer von mir erst seit zwei Minuten
träumt.\footcite[Vgl.][121]{solowjow8}
\subsection{Auf den Kredit Gottes\footcite[Vgl.][13]{schopenhauer}}
\epigraph{%
„Denn erstens ist sogar das, was ich soeben als Regel angenommen habe --- nämlich
daß alle die Dinge, die wir sehr klar und sehr deutlich verstehen, wahr sind ---,
nur sicher, weil es Gott gibt oder er existiert und er ein vollkommenes Sein ist
und alles, was es in uns gibt, von ihm herkommt.“
}{}
Den nächsten Schritt, den Descartes tut, um die wirkliche Existenz von
\textit{res cogitans} und \textit{res
extensa}\footcite[Vgl.][14--16]{principia} zu rechtfertigen, ist
der Gottesbeweis, wobei bereits Schopenhauer bemerkte, dass dieser Vorgang
selbst „freilich wunderlich“ ist: „[\dots] es ist der umgekehrte kosmologische
[von der Existenz der Welt auf einen Urheber schließende]
Beweis.“\footcite[13]{schopenhauer} Der Autor des Discours'
schließt vom Vorhandensein des Begriffes der Vollkommenheit bei dem selbst
unvolkommenen Menschen auf die Existenz eines vollkommenen Wesens. Diese
Vollkommenheit muss bei Descartes das Gute bedeuten, weil er aus ihr den Schluss
zieht, dass die Außenwelt wirklich ist, weil dieses Wesen uns anscheinend nicht
betrügen darf. Es stellt sich allerdings die Frage, was „gut“ bedeutet. Der
Begriff des Guten ist in uns gelegt, aber er hat keine übermenschliche Bedeutung.
Es könnte eine Welt geben, wo der Mord als gut betrachtet wird, aus dem Grund,
dass das oberste Wesen dies als etwas Gutes definiert und in uns legt. Man kann
also von unserem Begriff der Vollkommenheit beziehungsweise des Guten nicht auf
die Begrifflichkeit des Schöpfers schließen, der selbst diese Begriffe
definierte und definieren kann. Unser Schöpfer könnte ein Dämon sein, der um uns
herum eine Illusion erschuf und uns glauben ließ, dass er ein vollkommen gutes
Wesen sei (also von meiner Sicht dessen, was gut ist).
Außerdem widerspricht sich Descartes, wenn er behauptet, dass man von der
Vorstellbarkeit der Vollkommenheit auf einen volkommenen Gott schließen
kann\footcite[Vgl.][59--63]{discours} und an einer anderen Stelle
schreibt, dass man von der Vorstellbarkeit einer Chimäre nicht auf ihre Existenz
schließen darf\footcite[Vgl.][69]{discours} (zwar ist
offensichtlich, dass er im letzten Fall eine bildliche Anschauung meint, aber
zumindest kann ich mir eine Chimäre anhand meines Anschauungsvermögens leichter
als Gott vorstellen, von dem ich nichts Sicheres sagen kann).
Einen anderen treffenden Einwand bringt Schopenhauer: „Hiebei läßt er
überdies sich nun eigentlich noch einen bedeutenden \textit{circulus vitiosus}
[Zirkelschluß] zu Schulden kommen. Er beweist nämlich die objektive Realität der
Gegenstände aller unserer anschaulichen Vorstellungen aus dem Daseyn Gottes, als
ihres Urhebers, dessen Wahrhaftigkeit nicht zuläßt, daß er uns täusche: das
Daseyn Gottes selbst aber beweist er aus der uns angeborenen Vorstellung, die
wir von ihm, als dem allervollkommensten Wesen angeblich
hätten.“\footcite[91]{schopenhauer} --- und macht einen
angemessenen Schluss, indem er einen von Descartes' Landesleute zitiert: „Il
commence par douter de tout, et finit par tout croire [Er fängt damit an, daß er
alles bezweifelt, und hört damit auf, daß er alles
glaubt] [\dots].“\footcite[91]{schopenhauer}
\subsection{Das Ich und seine Subjekte}
Man könne an seinem eigenen Dasein nicht zweifeln, behauptet der Autor, was
allein der Tatsache widrig ist, dass man daran tatsächlich zweifelt. Was man
nicht behaupten kann, ist, dass man an etwas nicht zweifeln kann, woran man
schon Jahrtausende lang und bis in unsere Tage erfolgreich zweifelt und was
daher verständlicherweise nicht so einfach zu leugnen
ist.\footcite[Vgl.][109]{solowjow8} Andererseits muss man
Descartes Recht geben, dass es etwas gibt, was ich nicht bezweifeln kann, weil,
wenn ich sage: „Ich bezweifle etwas“, identifiziere ich mich doch mit einem
\textit{Ich}. Ganz unabhängig davon, ob ich jetzt träume oder wach bin, ist mir
etwas bewusst, was meinerseits als Ich bezeichnet wird. Dieses Ich empfindet
sich als ein Subjekt, eine Form, deren Inhalt zweifelhaft ist.
Folglich muss die cartesianische denkende Substanz in zwei Teile
ausdifferenziert werden, wobei ich auf Solowjows Termini zurückgreifen möchte
und den einen Teil als reines (phänomenologisches) Subjekt und den anderen als
psychisches (empirisches) Subjekt bezeichnen. Jenes ist sicher und
unerschütterlich, da es uns auf dem unmittelbarsten Wege gegeben ist, aber leer,
dieses erfüllt und bunt, weil es die ganze Persönlichkeit enthält, dennoch
wackelig und grundlos.\footcite[Vgl.][123]{solowjow8}
\subsection{Ego cogito ergo sum sed quis ego sum?}
\epigraph{„Cartesius gilt mit Recht für den Vater der neuern Philosophie [\dots].“}
{\textbf{Arthur Schopenhauer\footcite[13]{schopenhauer}}}
Das große Verdienst Descartes' ist, dass er die spätere Philosophie auf den
Weg hinwies, auf dem man nicht von eingebildeten Pseudo-Wahrheiten lebt, sondern
konstruktiv zweifelt, um einen Fortschritt der philosophischen Forschung zu
ermöglichen, ohne dabei in der Sackgasse des Skeptizismus zu enden. Einmal auf
diesen Weg getreten wollte er ihn unglücklicherweise selber nicht zu Ende gehen.
Allein daran, dass seine Schriften immer noch Aufregung, Nachdenken und
Diskussionen in der philosophierenden Welt hervorrufen, kann man ersehen, wie
unentbehrlich seine Erbe an das Moderne ist.
Nun ist das reine Ich menschlicher Erkenntnis unzugänglich. Man ist nur fähig
reflexiv über das empirische Ich --- über seinen Charakter und die Summe psychischer
Zustände --- die einen zum Individuum machen, nachzudenken. Das reine Ich macht in
dieser Hinsicht dieselben Schwierigkeiten, wie der Versuch, die eigenen Ohren
ohne einen Spiegel zu betrachten. Bin ich eine willensfreie Persönlichkeit?,
eine Puppe im Theater eines mir fremden Wesens?, ein Splitter, der eigentlich
mit einer Gottheit zusammen, die zugleich die Welt ist, und die aus nur ihr
bekannten Gründen plötzlich ihre Harmonie und ihr Gleichgewicht verlor, ein
Ganzes bildet?, ein armer und einsamer Knecht seines Schicksals, der sich
einbildet, dass er etwas sieht, hört, mit jemandem spricht?, das zufällige
Produkt der blinden Natur, die kein einziges Gramm Geist
enthält?