From c830dfa3737a9f4eca8d3ed4d2b90e6d237f23c7 Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Eugen Wissner Date: Sat, 20 Jul 2024 00:32:07 +0200 Subject: [PATCH] Add story Anna --- themes/posts/2024/07/anna.tex | 214 ++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 214 insertions(+) create mode 100644 themes/posts/2024/07/anna.tex diff --git a/themes/posts/2024/07/anna.tex b/themes/posts/2024/07/anna.tex new file mode 100644 index 0000000..5d87225 --- /dev/null +++ b/themes/posts/2024/07/anna.tex @@ -0,0 +1,214 @@ +--- +layout: post +date: 2024-07-19 22:45:00 +tags: Aufsatz +title: Anna +--- +\epigraph{ +Manche wilde Frühlingspflanze\\ +kann ein Gärtner tief verpflanzen.\\ +Kann auch Blumen ins Wasser stecken,\\ +und sie werden bald verwelken. +}{} + +»Entschuldigung, Gunzenhausen.« Anna sieht mich hoffnungsvoll an und +zeigt in die Richtung der Bahngleise. + +Ich bin etwas verwirrt, weil ich den Ort, den sie sucht, nicht kenne, +und mir überlege, wie ich ihr helfen kann. + +»Gunzenhausen.«, wiederholt sie nochmal. + +Die Bahnsteigtreppe steigt eine andere Frau hoch. Anna hat inzwischen +verstanden, dass mit mir nichts zu gewinnen ist, und wechselt zu dieser +Frau, die sie auf die Anzeigetafel über dem Gleis verweist und sagt, dass es der Zug +sei, den sie nehmen wolle. Aber der Zug kommt erst in 40 Minuten. Anna +versucht der Frau etwas zu erklären. Ich höre einige russiche Wörter, +die sie versehentlich in ihren Satz einbaut. Das sagt mir auch, dass sie +höchstwahrscheinlich nicht gut Deutsch kann. Ich fange an, mit ihr +Russisch zu sprechen, und versuche 'rauszufinden, was sie sucht. Sie +fragt mich, ob sie mein Handy nutzen darf, um nachzuschauen, welche +Möglichkeiten sie hat, um nach Gunzenhausen früher zu kommen. +Ich gebe ihr mein Handy und bedanke mich vor der anderen Frau auf dem +Bahnsteig, die da steht, ohne zu verstehen, was sie hört, und sage ihr, +dass ich Anna helfen werde. + +»Kein Problem.«, sagt die Frau und geht weiter. + +Wir bleiben alein. Anna findet keine Worte, um ihren Unmut zu +beschreiben: + +»Oh nein, das kann doch nicht wahr sein! In Gunzenhausen wartet ein +Taxi auf mich um 19:10. Mein vorheriger Zug ist zu spät gekommen, deswegen +verpasste ich meinen Anschlusszug, und jetzt werde ich erst eine Stunde +später in Gunzenhausen ankommen als geplant. Ich hätte von dort noch +weiterfahren müssen. Unglaublich!« + +»Ich wollte auch diesen Zug erwischen, und jetzt muss ich mindestens 2 +Stunden länger fahren.«, sage ich ihr lächelnd, um ihr das Gefühl zu +vermitteln, dass sie nicht allein in ihrer Lage ist. + +Sie erwidert mein Lächeln und gibt mir die erste Möglichkeit, sie +genauer anzuschauen. Sie ist mir bereits im unterirdischen Gleisübergang +aufgefallen. Ich lief hinter ihr. Sie hat ein junges, gutwilliges Gesicht, +das nicht zu erkennen gibt, dass sie sich gerade Sorgen macht. +Ihre blonde, lockige Haare reichen knapp bis an ihre Schultern. De linke, +dünne Träger ihres weißen Kleides ist heruntergerutscht, sodass Annas linke +Schulter, ob in Eile oder mit Absicht, nackt ist. + +»Man kann sich auf die Deutshce Bahn nicht verlassen, wenn man irgendwo +pünktlich ankommen will. So ist es überall in Deutschland die letzten +Jahre.«, setze ich fort. + +»Krass, unglaublich. Was soll dieser Unfug, ich will in die Ukraine +zurück.« + +Wir gehen etwas weiter entlang des Bahnsteiges und entfernen uns von +der Treppe. Sie beschwert sich weiter, dass sie jetzt womöglich durch +einen Wald nach Hause laufen muss, weil sie ihr Taxi verpassen wird. Ich +bin auch besorgt, weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich heute noch +nach Hause komme. + +»Du bist aus der Ukraine also?«, frage ich sicherheitshalber. + +»Ja.«, bestätigt sie. + +»Darf ich fragen, wie du heißt?« + +»Anna.« + +»Ich bin Eugen.« + +»Freut mich.« + +»Freut mich auch. Wie lange bist in Deutschland?« + +»Seit der Krieg ausgebrochen ist. Wie lange ist das her… 2 Jahre schon. +Wo kommst du her?« + +»Aus Russland, aus dem hohen Norden.« sage ich, »Ich bin ein +Russlanddeutscher, also ich habe deutsche und russische Vorfahren, und +lebe schon viele Jahre in Deutschland«, fahre ich fort, als ob ich mich +rechtfertigen würde, dafür dass ich in Russland aufgewachsen bin. + +In der Zwischenzeit kommt ein langer Güterzug mit ein paar leeren +Waggons an das Gleis. + +»Vielleicht können wir fragen, wohin der Güterzug fährt, und den +nehmen, falls er in dieselbe Richtung fährt?«, wundert sich Anna laut. + +Ich lache und sage, dass ich an sich nicht so abenteuerfreudig bin, +aber hörte, dass Jelzin in seiner Jugend so manchmal gereist hatte. + +Sie schaut mich lächelnd an und ich sehe, wie Sorglosigkeit leuchtet in +ihren Augen. Wir fangen an, zum Kopf des Zuges zu gehen. + +Während wir jetzt mehr sprechen, höre ich nun auch ihre ukrainische +Mundart deutlicher und mutmaße, dass sie aus der Westukraine stammt. + +Bald rührt sich auch der Güterzug und wir verstehen, dass auch aus +dieser Idee nichts wird, und kehren zurück. + +»Ich will nach Hause, in die Ukraine.«, wiederholt sie, »Es gibt hier +nichts, was wir nicht haben. Wenn du einen beliebigen Ukrainer fragst, +ob er etwas in Deutschland bewundert, was er in seiner Heimat nicht +hatte, so etwas gibt es nicht. Ich bin schon beinahe zurückgegangen, +aber dann fiel eine Rakete auf ein Kinderkrankenhaus. Hast du gehört? + +Ich nicke. + +»Das ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Teile vom Krankenhaus +sind gestürzt, und Menschen haben sich in eine Schlange gestellt und +räumen selbst die Steine, um den Weg freizulegen und andere zu retten.« + +»Ja, bei großen Überschwemmungen kommen auch hier Leute aus ganz +Deutschland, um zu helfen, weil die Regierung nicht rechtzeitig +reagiert.«, sage ich, um hinzuweisen, dass Menschen in Not überall +gleich handeln. + +»Auf wenn soll man warten?«, stellt sie die rhetorische Frage. + +»Du bist aus Kiew?« + +»Ja. Ich frage immer ganz besorgt meine Mutter, wie sie dort mit meinem +kleinen Bruder lebt. Aber meine Mutter schenkt dem Geschehen nicht mehr +so viel Aufmerksamkeit. „Als ob ständig Motorräder durch den Himmel +fahren würden“«, zitiert sie ihre Mutter lachend, »Es gibt verschiedene +Stufen von Alarm-Signalen. Bei stärkerem Beschuss gehen Menschen in den +Keller und kommen danach zurück.« + +Menschen leben ihr Leben weiter. Auch unter grausamen Bedingungen. Es +gibt nur weniges, woran sich der Mensch nicht gewöhnt. Der Rest geht in +den Alltag über. Ich erinnerte mich an Berichte aus der Ostukraine aus +der Zeit des Bürgerkrieges, bevor die russische Armee einmarschiert +ist. Wohngebiete unter Beschuss, aber Menschen stehen jeden Tag auf, +Erwachsene gehen zur Arbeit, Kinder --- zur Schule. + +Ich hörte Anna mit Interesse zu, und vermied Beurteilungen und Suche +nach Schuldigen. Auch Anna schien diesen Bereich nicht anfassen zu +wollen. Es war möglicherweise die Angst, dass es unser Gespräch in +einen sinnlosen Streit verwandeln würde. Bei näherem Betrachten, welche +Rolle spielt das? Ich bin am bewaffneten Konflikt zwischen Russland und +der Ukraine nicht Schuld. Sie ist das auch nicht. Sie hat nur Heimweh +und will ihr Leben zurück haben. + +»Kannst du vielleicht den Taxi-Dienst anrufen und fragen, ob die Fahrt +verschoben werden kann?«, hat Anna mich gebeten. + +Sie hat die Telefonnummer des Taxi-Unternehmens rausgesucht. Ich habe 2 +mal versucht, konnte aber niemanden erreichen. Während ich wartete, +dass jemand ans Telefon geht, haben wir angefangen über unser Alter zu +sprechen. Sie ist fast 15 Jahre jünger als ich. + +»Du siehst 7 Jahre jünger aus als du bist.«, sagt sie mir, nachdem ich +ihr Alter beim zweiten Versuch richtig raten konnte. + +»Eltern sagen öfters, dass wir für sie immer klein, immer Kinder +bleiben. Aber auch sie bleiben in meiner Erinnerung im selben Alter, +vielleicht 40--50 Jahre alt, im Alter, in dem ich sie als Kind kannte.« +Ich erzähle das und lache dabei, um meine Aussage weniger ernst zu +machen, weil ich nicht weiß, ob sie das lächerlich findet oder ähnlich +empfindet wie ich. »Vielleicht altern wir heutzutage nicht so schnell, +weil das Leben nicht mehr so hart ist.« + +»Ich habe einen Freund mitte zwanzig. Er ist, naja…«, sie hat eine kurze +Pause gemacht, »er hat militärischen Hintergrund. Er ist plötzlich und +rasch viel älter geworden, sehr ernst geworden.« + +Es gibt eine andere Dimension des Alterns. Man hört gelegentlich, dass +manch ein Mensch einfach nicht erwachsen wird. Nur sein Körper wird +älter. Aber auch hier gibt es Unterschiede. Die einen handeln kindisch, +die anderen haben die Seele eines Kindes; eine Seele, die verzeihen +kann, die keine Angst hat zu vertrauen und zu lieben. Hat Christus +nicht gesagt, dass das Himmelreich den Kindern gehört. + +Und es gibt Menschen, die alt geboren werden. Schon in frühen Jahren +lernen sie, dass alles Weltliche vergeht, dass jede Freundschaft und +jede große Liebe ein Ende haben. Dass man sich auf die Worte seines +Gegenübers niemals verlassen kann, denn süße Worte wie Zucker auf der +Zunge zergehen und nur einen Nachgeschmack aus unreinen Absichten +hinterlassen. + +Ab einem bestimmten Zeitpunkt, schien die Zeit schneller zu laufen. Wir +mussten uns immer wieder ein neues Gesprächsthema überlegen, und +Themenwechsel wurde immer wieder von größeren Pausen begleitet. Dann +kam schon der Zug, auf den wir sehnsüchtig gewartet haben. Anna konnte +ihr Handy aufladen und ihre Bekannte kontaktieren, die sie mit Auto von +Bahnhof abholen würden. Sie musste auf dem Halbweg aussteigen, ich bis +zum Ende der Strecke fahren. Wir haben uns voneinander verabschiedet +und einander eine gute Fahrt gewünscht. + +In dem nächsten Zug, in dem ich meine Fahrt fortführte, befand sich +eine Gruppe der Menschen, die untereinander gemischt Russisch und +Ukrainisch gesprochen haben. Als wir uns der Haltestelle näherten, +haben sie sich überlegt, wie sie den Rollstuhl eines ihrer Kollegen +durch den engen Gang im Zug zur Tür durchbringen können. + +»Was ist mit ihm geschehen? Unfall? etwas anderes?«, fragte ein +Einheimischer ein Mädchen aus der Gruppe. + +»Ich weiß es nicht.« + +»Seid ihr nicht alle zusammen?« + +»Oh nein, wir haben uns erst hier getroffen. Ja, ich glaube, es war ein Unfall.«