From 9f0e2c2d0c81a51456153402572fc0bca630a58c Mon Sep 17 00:00:00 2001 From: Eugen Wissner Date: Sat, 20 Jul 2024 00:32:07 +0200 Subject: [PATCH] Add story Anna --- themes/posts/2024/07/anna.tex | 270 ++++++++++++++++++++++++++++++++++ 1 file changed, 270 insertions(+) create mode 100644 themes/posts/2024/07/anna.tex diff --git a/themes/posts/2024/07/anna.tex b/themes/posts/2024/07/anna.tex new file mode 100644 index 0000000..94d9283 --- /dev/null +++ b/themes/posts/2024/07/anna.tex @@ -0,0 +1,270 @@ +--- +layout: post +date: 2024-08-11 22:45:00 +tags: Aufsatz +title: Anna +teaser: | +

+ Im nächsten Zug, in dem ich meine Fahrt fortführte, befand sich + eine Gruppe der Menschen, die untereinander gemischt Russisch und + Ukrainisch gesprochen haben. Als wir uns der Haltestelle näherten, + haben sie sich überlegt, wie sie den Rollstuhl eines ihrer Kollegen + durch den engen Gang im Zug zur Tür durchbringen können. +

+

+ »Was ist mit ihm geschehen? Unfall? etwas anderes?«, fragte ein + Einheimischer ein Mädchen aus der Gruppe. +

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»Ich weiß es nicht.«

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»Seid ihr nicht alle zusammen?«

+

+ »Oh nein, wir haben uns erst hier getroffen. Ja, ich glaube, es war ein Unfall.« +

+--- +\epigraph{ +Manche wilde Frühlingspflanze\\ +kann ein Gärtner tief verpflanzen.\\ +Kann auch Blumen ins Wasser stecken,\\ +und sie werden bald verwelken. +}{} + +»Entschuldigung, Gunzenhausen.« Anna sieht mich hoffnungsvoll an und +zeigt in die Richtung der Bahngleise. + +Ich bin etwas verwirrt, weil ich den Ort, den sie sucht, nicht kenne, +und mir überlege, wie ich ihr helfen kann. + +»Gunzenhausen.«, wiederholt sie nochmal. + +Die Bahnsteigtreppe steigt eine andere Frau hoch. Anna hat inzwischen +verstanden, dass mit mir nichts zu gewinnen ist, und wechselt zu dieser +Frau, die sie auf die Anzeigetafel über dem Gleis verweist und sagt, dass es der Zug +sei, den sie nehmen wolle. Aber der Zug kommt erst in 40 Minuten. Anna +versucht der Frau etwas zu erklären. Ich höre einige russiche Wörter, +die sie versehentlich in deutsche Sätze einbaut. Vielleicht kann ich mit ihr +Russisch sprechen und herausfinden, was sie genau sucht. Das mache ich auch. +Sie sieht, dass ich mein Handy in der Hand habe, weil ich kurz davor nachgesehen habe, +welche Verbindungen es noch gibt, die mich meinem Zielort näher bringen, und fragt, +ob sie mein Handy nutzen darf, um eine andere Fahrmöglichkeit nach Gunzenhausen +zu finden. Ich gebe ihr mein Handy und bedanke mich vor der anderen Frau, die +immer noch auf dem Bahnsteig steht und uns ansieht, ohne uns zu verstehen, und +sage ihr, dass ich Anna helfen werde. + +»Kein Problem.«, sagt die Frau und geht weiter. + +Wir bleiben allein. Leider finden wir keine anderen Züge als den, den die +Anzeigetafel ankündigt. Anna findet keine Worte, um ihren Unmut zu beschreiben: + +»Oh nein, das kann doch nicht wahr sein! In Gunzenhausen wartet ein +Taxi auf mich um 19:10. Mein vorheriger Zug ist zu spät gekommen, deswegen +verpasste ich meinen Anschlusszug, und jetzt werde ich erst eine Stunde +später in Gunzenhausen ankommen als geplant. Ich hätte von dort noch +weiterfahren müssen. Unglaublich!« + +»Ich wollte auch diesen Zug erwischen, du würdest dann aber auf halbem Weg +aussteigen und ich muss bis zum Ende der Strecke fahren. Und jetzt muss ich +mindestens 2 Stunden länger fahren.«, sage ich ihr lächelnd, um ihr das Gefühl zu +vermitteln, dass sie nicht allein in ihrer Lage ist. + +Sie erwidert mein Lächeln und gibt mir die erste Möglichkeit, sie +genauer anzuschauen. Sie ist mir bereits im unterirdischen Gleisübergang +aufgefallen. Ich lief hinter ihr. Sie hat ein junges, gutwilliges Gesicht, +das nicht zu erkennen gibt, dass sie sich gerade Sorgen macht. Ihre hellgrünen +Augen spiegeln die Stimmung dieses hellen, sonnigen und heißen Tages wider. +Die blonden, lockigen Haare reichen knapp bis an ihre Schultern. Der linke, +dünne Träger ihres schneeweißen Kleides ist heruntergerutscht, sodass Annas linke +Schulter, ob in Eile oder mit Absicht, nackt ist. + +»Man kann sich auf die Deutshce Bahn nicht verlassen, wenn man irgendwo +pünktlich ankommen will. So ist es überall in Deutschland die letzten +Jahre.«, setze ich fort. + +»Krass, unglaublich. Was soll dieser Unfug, ich will in die Ukraine +zurück.« + +Wir gehen etwas weiter entlang des Bahnsteiges und entfernen uns von +der Treppe. Sie beschwert sich weiter, dass sie jetzt womöglich durch +einen Wald nach Hause laufen muss, weil sie ihr Taxi verpassen wird. Ich +bin auch besorgt, weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich heute noch +nach Hause komme. + +»Du bist aus der Ukraine also?«, frage ich sicherheitshalber. + +»Ja.«, bestätigt sie. + +»Darf ich fragen, wie du heißt?« + +»Anna.« + +»Ich bin Eugen.« + +»Freut mich.« + +»Freut mich auch. Wie lange bist in Deutschland?« + +»Seit der Krieg ausgebrochen ist. Wie lange ist das her… 2 Jahre schon. +Wo kommst du her?« + +»Aus Russland, aus dem hohen Norden.« sage ich, »Ich bin ein Russlanddeutscher, +also ich habe sowohl deutsche als auch russische Vorfahren, und +lebe schon länger in Deutschland.«, ergänze ich meine Antwort, als ob ich mich dafür +rechtfertigen würde, dass ich in Russland aufgewachsen bin. + +In der Zwischenzeit kommt ein langer Güterzug mit ein paar leeren Waggons auf +dem Gleis gegenüber an und bleibt stehen. + +»Vielleicht können wir fragen, wohin der Güterzug fährt, vielleicht kann er uns +mitnehmen, falls er in dieselbe Richtung fährt?«, wundert sich Anna laut. + +Ich lache und sage, dass ich an sich nicht so abenteuerfreudig bin, +aber hörte, dass Jelzin in seiner Jugend so manchmal gereist haben soll. + +Meine Anmerkung bringt Lächeln auf ihr Gesicht, das weiterhin nur +Zuversichtlichkeit ausstrahlt. Wir machen uns auf den Weg zum Kopf +des Güterzuges. + +Während wir jetzt mehr sprechen, höre ich nun auch ihre ukrainische +Mundart deutlicher und mutmaße, dass sie aus der Westukraine stammt. + +Bald rührt sich auch der Güterzug und wir verstehen, dass auch aus +dieser Idee nichts wird, und kehren zurück. + +»Ich will nach Hause, in die Ukraine.«, wiederholt sie, »Es gibt hier +nichts, was wir nicht haben. Wenn du einen beliebigen Ukrainer fragst, +ob er etwas in Deutschland bewundert, etwas, was er in seiner Heimat +vermisste, so etwas gibt es nicht.« + +Manchmal ist ein fremdes Land wie ein Wunder, wo alles blüht und gedeiht, +wo es alles im Übermaß gibt. Aber gelegentlich erlebst du einen Abend, +an dem du auf einer U-Bahn-Station aussteigst und alles dir Angst macht. +Die Menschen sind merkwürdig gekleidet und werfen böse Blicke in deine Richtung. +Du gehst zitternd an ihnen vorbei, schaust nach unten, auf den schmutzigen +Boden, und befürchtest, dass sie dich ansprechen. Dein Herz beginnt zu rasen +und du fragst dich, ob es nur ein Alptraum ist, oder, ob alles davor ein Traum +war. + +Anna unterbricht meinen Versuch, mich in ihre Gefühle einzufühlen: +»Ich bin schon beinahe zurückgegangen, aber dann fiel eine Rakete auf ein +Kinderkrankenhaus. Hast du gehört?« + +Ich nicke. + +»Das ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Teile vom Krankenhaus +sind gestürzt, und Menschen haben sich in eine Schlange gestellt und +räumten selbst die Steine, um den Weg freizulegen und andere zu retten.« + +»Ja, bei großen Überschwemmungen kommen auch hier Leute aus ganz +Deutschland, um zu helfen, weil die Regierung nicht rechtzeitig +reagiert.«, sage ich, um hinzuweisen, dass Menschen in Not überall +gleich handeln. + +»Siehst du? auf wen soll man warten?«, stellt sie die rhetorische Frage. + +»Du bist aus Kiew?« + +»Ja. Ich frage immer ganz besorgt meine Mutter, wie sie dort mit meinem +kleinen Bruder lebt. Aber meine Mutter schenkt dem Geschehen nicht mehr +so viel Aufmerksamkeit. „Als ob ständig Motorräder durch den Himmel +fahren würden“«, zitiert sie ihre Mutter lachend, »Es gibt verschiedene +Stufen von Alarm-Signalen. Bei stärkerem Beschuss gehen Menschen in den +Keller und kommen danach zurück.« + +Menschen leben ihr Leben weiter. Auch unter grausamen Bedingungen. Es +gibt nur weniges, woran sich der Mensch nicht gewöhnt. Der Rest geht in +den Alltag über. Ich erinnerte mich an Berichte aus der Ostukraine aus +der Zeit des Bürgerkrieges, bevor die russische Armee einmarschiert +ist. Wohngebiete unter Beschuss, aber Menschen stehen jeden Tag auf, +Erwachsene gehen zur Arbeit, Kinder --- zur Schule. + +Ich höre Anna aufmerksam und mit Interesse zu und vermeide Beurteilungen und +Suche nach Schuldigen. Auch Anna scheint dieses Themengebiet nicht anfassen zu +wollen. Es ist möglicherweise die Angst, dass es unser Gespräch in +einen sinnlosen Streit verwandeln würde. Bei näherem Betrachten, welche +Rolle spielt das? Ich bin am bewaffneten Konflikt zwischen Russland und +der Ukraine nicht Schuld. Sie ist es auch nicht. Sie hat nur Heimweh +und will ihr Leben zurück haben. + +»Kannst du vielleicht den Taxi-Dienst anrufen und fragen, ob die Fahrt +verschoben werden kann?«, hat Anna mich gebeten. + +Sie hat die Telefonnummer des Taxi-Unternehmens rausgesucht. Ich habe mehrmals +versucht, konnte aber niemanden erreichen. Während ich wartete, +dass jemand ans Telefon geht, haben wir angefangen über unser Alter zu +sprechen. Ich bin fast 15 Jahre älter als sie. + +»Du siehst 7 Jahre jünger aus als du bist.«, sagt sie mir, nachdem ich +ihr Alter beim zweiten Versuch richtig raten konnte. + +»Eltern sagen öfters, dass wir für sie immer klein, immer Kinder +bleiben. Aber auch sie bleiben in meiner Erinnerung im selben Alter, +vielleicht 40--50 Jahre alt, im Alter, in dem ich sie als Kind kannte.« +Ich erzähle das und gebe mir dabei die Mühe, nicht zu ernst zu sein, +weil ich nicht weiß, ob sie meine Aussage absurd findet oder das ähnlich +empfindet wie ich. »Vielleicht altern wir heutzutage nicht so schnell, +weil das Leben nicht mehr so hart ist.« + +»Ich habe einen Freund, 25 Jahre alt. Er ist, naja…«, sie hat eine kurze +Pause gemacht, »er hat militärischen Hintergrund. Er ist plötzlich und +rasch viel älter geworden, machte den Eindruck, sehr erschöpft zu sein.« + +Es gibt eine andere Dimension des Alterns. Man hört gelegentlich, dass +manch ein Mensch einfach nicht erwachsen wird. Nur sein Körper wird +älter. Aber auch hier gibt es Unterschiede. Die einen handeln kindisch, +die anderen haben die Seele eines Kindes; eine Seele, die verzeihen +kann, die keine Angst hat zu vertrauen und zu lieben. Hat Christus +nicht gesagt, dass das Himmelreich den Kindern gehört? + +Und es gibt Menschen, die alt geboren werden. Schon in frühen Jahren +lernen sie, dass alles Weltliche vergeht, dass jede Freundschaft und +jede große Liebe ein Ende haben. Dass man sich auf die Worte seines +Gegenübers niemals verlassen kann, denn süße Worte wie Zucker auf der +Zunge zergehen und nur einen Nachgeschmack aus unreinen Absichten +hinterlassen. + +»Wann ist der Krieg schon endlich zu Ende?«, sagt Anna traurig. + +»In der Tat. Kriege enden leider nicht. Kaum endet der eine, beginnt +irgendwo ein anderer. Sie sind die treuesten Begleiter der +Menschengeschichte, genauso wie Krankheiten und Hunger.« + +»Ich habe gehört, dass der Krieg bald endet. Aber manche sagen, dass, wenn +er endet, in 10 Jahren ein neuer beginnt. Die anderen behaupten +wiederum, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommt.« + +Ich habe nicht verstanden, ob nach 10 Jahren der Ukraine-Konflikt sich erneut +entfachen soll, oder, ob sie allgemein Kriege meint. Im letzteren Falle wären +10 Jahre sehr großzügig. »Die Lage ist weltweit sehr angespannt, und es gibt +mehrere Regionen, wo es jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen +kann, die wiederum das Potenzial haben, in einem Weltkrieg zu münden.« + +Abgehobene Wahrheiten, die Frage nach dem Übel in der Welt und die globale +geopolitische Lage shienen sie nicht des Atems zu berauben. Sie wolle nach Kiew. + +Ab einem bestimmten Moment lief die Zeit schneller. Wir +mussten uns immer wieder ein neues Gesprächsthema überlegen, und +Themenwechsel wurde immer wieder von größeren Pausen begleitet. Dann +kam schon der Zug, auf den wir sehnsüchtig gewartet haben. Anna konnte +ihr Handy aufladen und ihre Bekannte kontaktieren, die sie mit Auto von +Bahnhof abholen sollten. Das hat sich also geregelt. + +Im Zug sprachen wir über unsere Berufe und Freizeitbeschäftigungen, +über Kleidergeschäfte und Technik, über dies und jenes. + +Als die Zeit kam, haben wir uns voneinander verabschiedet und einander eine +gute Wieterfahrt gewünscht, und sie stieg aus. Ich blieb sitzen und schaute nicht +zur Tür zurück. + +Im nächsten Zug, in dem ich meine Fahrt fortführte, befand sich +eine Gruppe der Menschen, die untereinander gemischt Russisch und +Ukrainisch gesprochen haben. Als wir uns der Haltestelle näherten, +haben sie sich überlegt, wie sie den Rollstuhl eines ihrer Kollegen +durch den engen Gang im Zug zur Tür durchbringen können. + +»Was ist mit ihm geschehen? Unfall? etwas anderes?«, fragte ein +Einheimischer ein Mädchen aus der Gruppe. + +»Ich weiß es nicht.« + +»Seid ihr nicht alle zusammen?« + +»Oh nein, wir haben uns erst hier getroffen. Ja, ich glaube, es war ein Unfall.«